Zum zweiten Mal innerhalb von nur wenigen Jahren hat der habilitierte Volkswirtschaftler und langjährige Generalsekretär des Deutschen Caritasverbandes, Georg Cremer, eine sozialpolitische Streitschrift vorgelegt (vgl. HK, Februar 2017, 53). Das Ende letzten Jahres veröffentlichte zweite Buch trägt seine These schon im Titel: „Deutschland ist gerechter, als wir meinen“. Thema für Thema arbeitet sich Cremer darin durch die aktuellen sozialpolitischen Streitpunkte, beschreibt den Reformbedarf, aber eben auch und vor allem Gelungenes und Erreichtes. Für die hochkomplexe Materie ist es beeindruckend leicht verständlich geschrieben: Die detailreiche Auseinandersetzung mit der chronischen Reformbaustelle Gesundheitswesen gehört ebenso zu dieser „Bestandsaufnahme“ eines alles in allem gut funktionierenden Sozialstaates wie die Rente, die Kita-Betreuung, die Pflege und der Pflegemarkt oder die verbesserten und noch zu verbessernden Teilhabechancen für Menschen mit Behinderung. Phasenweise liest sich das Buch auch wie ein Debattenbeitrag zur aktuellen Diskussion in der SPD um Grundrente, Bürgergeld und die Abschaffung von „Hartz IV“.
Ebenso gut begründet benennt Cremer aber auch die zahlreichen Gerechtigkeitsdefizite: etwa den hartnäckig engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg oder die unzulängliche Altersabsicherung für die, die ein Leben lang im Niedriglohnsektor gearbeitet haben. Sein Bezugspunkt ist dabei das Konzept der „Befähigungsgerechtigkeit“, die Vorbeugung gegen Armut und prekäre Lebenslagen durch Befähigung zu eigenständiger, selbstbestimmter Lebensführung; seine Gewährsleute dafür sind die Sozialwissenschaftler Amartya Sen und Martha Nussbaum.
Leidenschaftlich wendet er sich gegen die empörte Erregung über den vorgeblich von „neoliberalen“ Gesellschafts- und Politikvorstellungen motivierten Sozialabbau in Deutschland. Sein Werben um Verständnis für eine lösungsorientierte Sozialpolitik, die immer nur Stückwerk bleiben kann, aber auch bleiben muss, erklärt sich aus einer doppelten Befürchtung: Der lähmende und entmutigende sozialpolitische Niedergangsdiskurs spiele im Letzten populistischen Kräften in die Hände. Aber ebenso mache er es denen zu einfach, die den Sozialstaat ohnehin für aufgeblasen halten. Alexander Foitzik