Am 25. Dezember 1979 überschritten Truppen der Sowjetarmee den afghanischen Grenzfluss Amu Darya und erreichten zum Jahresende den Khyber-Pass. Seit Jahrtausenden das Einfallstor nach Südasien markiert er den Höhe- und Wendepunkt sowjetischer Expansion. Sie endete eine Dekade später mit dem Zusammenbruch des Sowjetimperiums und der Auflösung der UdSSR.
Standort, Blickwinkel und Entfernung definieren die Wahrnehmung und Bewertung von Ereignissen und ihren Folgen. Aus der Distanz einer Generation erfasst der Rückblick auf das Schlüsseljahr 1979 nicht nur Entscheidungen des Kalten Krieges. Die strategischen Sichtachsen öffnen sich und stoßen auf politische Entwicklungen des Nahen und Mittleren Ostens, deren Kontexte und Konsequenzen im kollektiven Bewusstsein Europas allerdings kaum reflektiert werden. Zu den Ursachen dieses Wahrnehmungsdefizits gehören die schwindende Fähigkeit zur historischen Einordnung außereuropäischer Ereignisse, eine generelle Indifferenz gegenüber langfristig wirkenden Faktoren und nicht zuletzt ein unübersehbares, gelegentlich sogar demonstrativ zur Schau getragenes Desinteresse an religiös motivierten Ideen und Kräften.
Religion in Zeit und Raum
Strategisches Denken der Moderne ist ein Konzept der späten Aufklärung. Es dient der Planung einer Politik, die bereit und in der Lage ist, rational abwägend aus dem Gesamtspektrum vorhandener Mittel die wirkungsvollsten Instrumente auszuwählen. Es gilt jene zu nutzen, die in Zeit und Raum zur Erreichung selbst gesteckter Ziele beitragen, und sich vor Kräften zu schützen, die den eigenen Werten und Bedürfnissen schaden können.
Im Jahre 1797 befasste sich eine bahnbrechende Studie mit der genaueren Bestimmung strategischer Faktoren. Sie analysierte die überraschenden Siege der politisch isolierten Französischen Republik über die Koalition der europäischen Monarchien. Bereits im ersten Satz fasste der Autor, Gerhard von Scharnhorst, das Ergebnis seiner Untersuchung zusammen. Der unerwartete Erfolg der französischen Heere war nach seinen Beobachtungen und Erfahrungen mit den „inneren Verhältnissen“ des revolutionären Frankreichs „tief verwebt“. Scharnhorst machte deutlich, was er mit „inneren Verhältnissen“ meinte: „Man versteht unter diesem Worte in dieser Abhandlung sowohl das Verhältnis des physischen als auch des moralischen Zustandes“.
Scharnhorst war Agnostiker ebenso wie sein Schüler Carl von Clausewitz, der die Gedanken seines Lehrers in „Vom Kriege“ weiterentwickelte. Nicht die überlieferte christliche Religion bot ihnen Anlass, die Bedeutung des moralischen Faktors zu betonen. Sie hatten vielmehr die unmittelbare Wirkung einer neuen bürgerlichen Religion, einer religio civilis, vor Augen. Die siegreichen Freiwilligenheere der Französischen Revolution glaubten an liberté, égalité, fraternité und kämpften als ecclesia militans unter der Trikolore. Der amerikanische Historiker James Billington hat ihren revolutionären Glauben als „Fire in the Minds of Men“ (1980) zutreffend beschrieben.
Unsere Welt ist eine andere als die des späten 18. Jahrhunderts. 30 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges ist die Zeit revolutionärer Ersatzreligionen und eines weltweit propagierten Atheismus vorüber. Sicherlich entfaltet Karl Marx’ Diktum „Religion ist das Opium des Volkes“ mancherorts noch seine Wirkung. Aber in Albanien, von Enver Hoxha zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt, sind die Moscheen und Kirchen wieder geöffnet. Im Pekinger Lama-Tempel beten Menschenmengen für das Wohlergehen ihrer Familien. Und schließlich gibt es keinen Staatsakt der Russischen Föderation, in dem nicht der Patriarch von Moskau eine prominente Rolle spielt.
Selbst kritische Rationalisten sollten daher Gedanken zur Kenntnis nehmen, die im Jahre 2008 der saudische Prinz Turki al-Faisal im Theresianum, der traditionsreichen Diplomatischen Akademie Wiens, vortrug. Der ehemalige Chef des saudischen Nachrichtendienstes und spätere Botschafter in Washington und London erklärte, während seiner gesamten Laufbahn sei für ihn die Religion Richtschnur politischen Handelns gewesen: „Religion was always a ruling strategem for my work“. Der Prinz empfahl, von Muhammad ibn Zafar al-Siqilli zu lernen. Nach diesem muslimischen Gelehrten des 12. Jahrhunderts müssen strategische Planung, diplomatisches Vorgehen und politisch motivierte Gewaltanwendung fünf Prinzipien folgen: Glauben an Gott, Tapferkeit angesichts von Gefahr, Geduld in schwierigen Lagen, Hinnahme des göttlichen Willens und Geringschätzung weltlicher Dinge.
Die vom saudischen Prinzen vorgetragene Tugendlehre ließ erkennen, dass für ihn eine strikte Trennung zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen civitas Dei und civitas terrena in der politisch-diplomatischen Praxis nicht möglich war. Seine Überlegungen rechtfertigen es, beim Rückblick auf die Ereignisse des Jahres 1979 den politischen Islam als einen strategischen Faktor zu betrachten, dessen Folgen weit über den vorderasiatisch-afrikanischen Übergangserdraum zwischen Nil und Indus hinausreichen.
1979: Ereignisse, Entscheidungen, Folgen
Am 17. Januar 1979 verließ der krebskranke Schah Reza Pahlevi den Iran. Seit dem Jahr 1953, als Washington und London den damaligen Premierminister MohammadMossadegh stürzten, waren die USA die entscheidende Stütze des iranischen Herrschers. Als Präsident Jimmy Carter zur Jahreswende 1978/79 dem kranken und unpopulären Monarchen keine Zukunftschance mehr gab, brach sein Regime zusammen. Millionen von Menschen begrüßten im Februar 1979 Ayatollah Ruhollah Chomeini jubelnd in Teheran. Das autoritär-säkulare System des Schahs wurde durch eine theokratische Ordnung ersetzt, deren Verfassung im Oktober 1979 ein Referendum billigte. Sie wies dem hohen schiitischen Klerus in allen wichtigen Fragen die politische Entscheidungskompetenz zu und bildet bis heute die Grundlage und den politischen Handlungsrahmen der Islamischen Republik Iran. Ihr substanzieller Kern ist, das bringt die Staatsbezeichnung zweifelsfrei zum Ausdruck, die Religion des Islam, und zwar in ihrer schiitischen Ausprägung.
Zeitgleich vollzog sich im östlichen Mittelmeerraum eine zweite strategische Wende. Am 26. März 1979 unterzeichneten der israelische Premierminister Menachem Begin und der ägyptische Staatspräsident Anwar as-Sadat in Washington den israelisch-ägyptischen Friedensvertrag. Für die USA unterschrieb als Zeuge Präsident Carter. Der Vertrag gab Ägypten die Souveränität über die demilitarisierte Sinai-Halbinsel zurück und das Land erhielt erhebliche Finanzzuwendungen westlicher Staaten und private Investitionen. Sie kamen in erster Linie dem Tourismussektor und der Bauwirtschaft zugute.
Der ägyptisch-israelische Separatfrieden bedeutete allerdings auch den Bruch der bisherigen pan-arabischen Solidarität und ging, das ließen bereits die vorab getroffenen Vereinbarungen von Camp David erkennen, zu Lasten der Palästinenser. Obwohl Anwar as-Sadat noch zu Beginn der Verhandlungen erklärt hatte, er wolle keinen Separatfrieden, sondern eine Gesamtregelung des Nahostkonflikts, sollte sich schon nach wenigen Jahren zeigen, in welchem Umfang Israel durch die militärische Entlastung an seiner Westfront operative Handlungsfreiheit in den Palästinensergebieten und gegenüber dem Libanon gewann.
Gemeinsam mit Menachem Begin erhielt Anwar as-Sadat für die Vereinbarungen von Camp David den Friedensnobelpreis. Seine säkulare, prowestlich ausgerichtete Politik wurde von der Oberschicht und der oberen Mittelschicht Ägyptens begrüßt und getragen. Ihre Kreise profitierten von den ausländischen Investitionen und einer liberalisierten Wirtschaftspolitik. In der breiteren ägyptischen Bevölkerung aber regte sich Widerstand. Die von Anwar as-Sadat zunächst als Gegengewicht zum linken Nasserismus geduldete und hofierte Muslimbruderschaft wandte sich gegen den Separatfrieden mit Israel und die pro-westliche Politik des Präsidenten. Repressionsmaßnahmen gegen die Anhänger der Bruderschaft folgten, bis schließlich am 6. Oktober 1981 Präsident Sadat während einer Militärparade erschossen wurde. Geplant und ausgeführt wurde das Attentat von einem jungen Offizier mit familiären Beziehungen zu den Muslimbrüdern und Kontakten zu einer radikalen Gruppierung namens al-Dschihad, die sich später al-Qaida anschloss. Nach der Ermordung des ägyptischen Präsidenten kam es in Mittelägypten zu einem Aufstand, der rasch niedergeschlagen wurde. Sadats Nachfolger Husni Mubarak hielt bis zum Frühjahr 2011 das Land mit zunehmender Härte unter Kontrolle.
Nicht nur Iran und der östliche Mittelmeerraum, auch die Arabische Halbinsel erlebte 1979 eine Zäsur. Als am Morgen des 20. November 1979 nach islamischer Zeitrechnung ein neues Jahrhundert begann, stürmten religiöse Fanatiker in Mekka die Große Moschee: Das Jahr 1400 anno hegirae begann mit dem Kampf um die heiligste Stätte des Islam. Er dauerte nahezu zwei Wochen und die genaue Zahl der Toten ist bis heute nicht bekannt. Die überlebenden Besetzer wurden öffentlich hingerichtet. An ihrer Bekämpfung war auch eine französische Spezialeinheit beteiligt, die vor ihrem Eintreffen in Mekka rasch zum Islam konvertiert wurde. Der notwendige Einsatz ausländischer Sonderkräfte war den persönlichen Verbindungen des saudischen Sicherheitschefs, Prinz Turki al-Faisal, zu seinem französischen Kollegen zu verdanken.
Mit dem politisch-gesellschaftlichen Hintergrund und den religiösen Vorstellungen der Aufständischen befassten sich sorgfältige Studien. Nach ihren Feststellungen war der spektakuläre Gewaltakt religiös-eschatologisch motiviert. Gleichzeitig aber wies er eindringlich auf das von Außenstehenden kaum wahrnehmbare gesellschaftliche und geistige Unruhepotential des saudischen Königreichs hin. Der Ölboom der Siebzigerjahre hatte zur Modernisierung und oberflächlichen Verwestlichung des Landes sowie bei der Königssippe und den ihr nahestehenden urbanen Milieus zu einem kaum vorstellbaren Reichtum geführt. Allerdings waren vom neuen Wohlstand Teile der Bevölkerung aus tribalen Gründen ausgeschlossen. Sie wandten sich gegen die Verwestlichung des Landes, forderten die Rückbesinnung auf Tradition und Religion. Der Konflikt zwischen materieller Daseinsorientierung der Elite und Jenseitsorientierung einer konservativen Bevölkerungsmehrheit stellte die traditionelle Allianz der Herrscherfamilie mit der radikal-fundamentalistischen Glaubenslehre der Wahhabiten in Frage. Verwestlichung und zunehmende Dekadenz der Führungsschicht untergruben das konstituierende Fundament der saudischen Machtbildung und ihren religiös legitimierten Herrschaftsanspruch.
Kurz vor Weihnachten 1979 waren die Zeichen des Aufruhrs im Nahen und Mittleren Osten nicht mehr zu übersehen und wurden auch in den westlichen Hauptstädten besorgt zur Kenntnis genommen. Der Schah des Iran, seit nahezu drei Jahrzehnten Repräsentant einer pro-westlichen Politik, war gestürzt, die US-Botschaft in Teheran am 4. November 1979 gestürmt und ihr Personal in Geiselhaft genommen worden. Ägyptens Präsident Anwar as-Sadat und die saudische Königsfamilie konnten sich ihrer Herrschaft nicht mehr sicher sein. Die Wut ihrer Gegner richtete sich nicht zuletzt gegen die Schutzmacht der Herrschenden, die USA. Unmittelbar nach Bekanntwerden der Ereignisse in Mekka wurde in Islamabad, der Hauptstadt Pakistans, die US-Botschaft gestürmt und niedergebrannt. Da brachte am 25. Dezember 1979 der Einmarsch der Sowjetarmee in Afghanistan die Wende.
Desaster für Moskau
Das Politbüro der KPdSU in Moskau hatte bereits im Oktober 1979 einen regime change in Kabul ins Auge gefasst, bevor dann am 12. Dezember 1979 die endgültige Entscheidung fiel: Hafizullah Amin, der afghanische Staats- und Parteichef, war durch sowjetische Sonderkräfte zu liquidieren. Als sein Nachfolger wurde der afghanische Botschafter in Prag, Babrak Karmal, bestimmt. Zeitgleich zur Ausschaltung Amins sollten reguläre sowjetische Großverbände in das formal noch blockfreie Afghanistan einmarschieren und das neue Regime sichern. Vergeblich warnte der sowjetische Generalstabschef, Marschall Nikolai Ogarkow, die politische Führung vor einem militärischen Einsatz am Hindukusch. Nur sechs Jahre später sollte dann Michail Gorbatschow den Krieg in Afghanistan als „blutende Wunde“ bezeichnen. Die Intervention erwies sich als politisch-diplomatisches und militärisches Desaster.
Die Entscheidung des Politbüros war ideologisch motiviert gewesen. Im April 1978 hatte die mit der KPdSU verbundene Demokratische Volkspartei Afghanistans (DVPA) den afghanischen Präsidenten Mohammed Daoud in einem blutigen Putsch gestürzt. Vor allem der radikale Flügel der DVPA, die Khalq-Fraktion, war marxistisch-säkular indoktriniert. Die Khalqis wollten eine Gesellschaft verändern, in der seit Jahrhunderten Opium angebaut und konsumiert wurde. Sie nahmen Karl Marx beim Wort. Der Begründer des Marxismus hatte in seiner Einleitung zur „Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ die Religion radikal als „Opium des Volkes“ identifiziert. Die Khalqis befolgten seine Weisung, es gehe „nicht darum, ob der Gegner ein edler, ebenbürtiger oder interessanter Gegner ist, es handelt sich darum, ihn zu treffen“.
Sie gingen mit aller Härte gegen die Führungsschicht des Landes, insbesondere gegen Geistliche, und Anhänger islamischer Parteien vor. Es kam zu Massenverhaftungen und -exekutionen. Nachdem im Frühjahr 1979 die religionsfeindliche Politik der DVPA in Herat zu einem Aufstand geführt hatte, lieferten ab Sommer 1979 die USA auf Initiative ihres Nationalen Sicherheitsberaters, Zbigniew Brzezinski, Waffen an die afghanischen Aufständischen. Als schließlich im September 1979 der wegen seiner Brutalität gefürchtete Premierminister Amin den mit dem Generalsekretär der KPdSU, Leonid Breschnew, eng verbundenen Präsidenten Nur Muhammad Taraki ermorden ließ, entschloss sich Moskaus Führung zum Handeln. Das Politbüro befürchtete den Machtverlust der afghanischen Kommunisten unter Amin und den Khalqis. Eine Machtübernahme durch pro-westliche Kräfte erschien möglich. Entsprechend der Breschnew-Doktrin sollte daher wie im Falle Ungarns 1956 und der Tschechoslowakei 1968 durch den Einsatz der sowjetischen Armee der Sturz der herrschenden kommunistischen Partei, der DVPA, und das Ausscheiden Afghanistans aus dem sozialistischen Lager verhindert werden.
Die fatalen Folgen zeigten sich in kurzer Zeit. Der Zorn der islamischen Welt, der sich noch im November 1979 gegen die USA gerichtet hatte, wandte sich nun gegen die atheistische Sowjetunion. Das afghanisch-pakistanische Grenzgebiet wurde zum Zentrum des Aufruhrs und des Widerstands. Das bis Ende 1979 belastete Verhältnis der USA zur pakistanischen Regierung unter General Zia ul-Haq verbesserte sich schlagartig. Bedenken wegen der problematischen Nuklear-, Islamisierungs- und Menschenrechtspolitik Islamabads wurden in Washington zur Seite geschoben. Und die saudische Königsfamilie, deren Herrschaft noch kurz zuvor gefährdet schien, erklärte sich nach dem sowjetischen Einmarsch zum Vorkämpfer des Dschihad. Gemeinsam mit den USA finanzierte Saudi-Arabien den afghanischen Widerstand gegen die kommunistischen Ungläubigen und ermutigte saudische Fundamentalisten, das Königreich zu verlassen. Sie sollten die Feinde des Islam in Afghanistan bekämpfen.
Afghanistan als Inkubator für Radikaliserung
Einen Einblick in die Gedankenwelt der islamischen Gruppierungen, die sich im Kampf gegen die Sowjetunion formierten, bietet die Bibliotheca Afghanica in der Schweiz. Der Katalog ihrer weltweit einmaligen Sammlung afghanischer Widerstandsliteratur umfasst rund 1500 Titel in Farsi, Paschtu, Urdu und Arabisch. Hinzu kommen Zeitschriften, Plakate, Wandzeitungen und Fotografien. Zwar ist dieser reiche Bestand bis heute wissenschaftlich noch nicht vollständig durchgearbeitet, denn neben einschlägigen Sprachkenntnissen sind dazu Erfahrungen des politischen, kulturellen, religiösen und sozialen Umfelds notwendig. Aber dennoch ermöglicht der umfangreiche, teilweise kommentierte Katalog eine Übersicht über Entwicklungsstufen und Erscheinungsformen politischer Bewegungen, die sich nach dem sowjetischen Einmarsch innerhalb eines Jahrzehnts formierten und radikalisierten.
Sie schwächten zunächst die traditionellen politischen Autoritäten und gesellschaftlichen Strukturen Afghanistans. In den ersten Monaten des Jahres 1980 wollte eine Loya Jirga traditioneller Stammesführer den Kampf gegen die Sowjetunion unter Berufung auf König Zaher Schah organisieren. Er war 1973 von seinem Vetter Mohammed Daoud gestürzt worden und lebte seitdem im römischen Exil. Gleichzeitig wollte die Versammlung an die Verfassung des Jahres 1963 anknüpfen. Sie hatte das Land zu einer konstitutionellen Monarchie gemacht und ihre wesentlichen Elemente tauchten im Programm der Legitimisten auf: freie und faire Wahlen, Gewaltenteilung, freie Presse, Redefreiheit. Aber die islamistischen Widerstandsgruppen boykottierten die Versammlung der Notabeln und verhinderten die Umsetzung ihrer Beschlüsse. Auch eine zweite Loya Jirga traditioneller Kräfte und Geistlicher, die 1982 in Quetta zusammentrat, verlief ergebnislos und wurde von der pakistanischen Armee aufgelöst.
Das pakistanische Militär, insbesondere der mit den Geheimdiensten der USA und Saudi-Arabiens eng kooperierende pakistanische Nachrichtendienst ISI, nutzte als bevorzugtes Instrument Gulbuddin Hekmatyar, den Führer der radikalen Hezb-e Islami, der „Partei des Islam“. Hekmatyar erhielt den größten Teil der saudischen Hilfsgelder und amerikanischen Waffenlieferungen. Seine Schrift „Die Gemeinschaft der Gläubigen im Islam“ wurde in Farsi und Paschtu mehrfach aufgelegt und in den afghanischen Flüchtlingslagern verteilt. Und neben praktischen Anleitungen für den militärischen Dschihad wurden in den Lagern Veröffentlichungen über den politischen Kampf vertrieben. In einer Zeit, in der es noch keine elektronischen Medien gab, stellten einfache Broschüren beispielhafte Organisationsformen außerhalb Afghanistans und Pakistans vor. Sie trugen Titel wie „Die Muslimbruderschaft in Ägypten und Jordanien“ oder „Theorie und Praxis der Muslimbruderschaft“.
Deutlich wird allerdings auch, dass der im Namen des Islam geführte Widerstand gegen die Sowjetunion die ethnische und religiöse Segmentierung der afghanischen Bevölkerung nur schwer überwinden konnte. Schriften wie „Imam Khomeini und die Islamische Revolution“ wandten sich an die schiitische Bevölkerung Afghanistans, vor allem an die ethnische Minderheit der Hazara, die von dem sunnitischen Paschtunen Hektmatyar und seiner Hezb-e Islami heftig bekämpft wurde. Auch die arabisch-sunnitischen Dschihadisten aus Ägypten und Saudi-Arabien wandten sich scharf gegen die afghanischen Schiiten.
Im Vergleich mit den zahlreichen Veröffentlichungen in Paschtu, Dari oder Urdu ist der Umfang der arabischsprachigen Widerstandsliteratur gering. Aber sie war konsequent dschihadistisch ausgerichtet. Zu den internationalen Kämpfern, die sich nach dem sowjetischen Einmarsch mit Unterstützung oder Duldung des pakistanischen und saudischen Nachrichtendienstes sowie der CIA im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet sammelten, gehörte der künftige Kern von al-Qaida um Osama bin Laden,Ayman al-Zawahiri und Abu Musab al-Zarquawi. Für sie hatte der Dschihad eine weit über Afghanistan hinausreichende Bedeutung, folgten sie doch der Vorstellung, dass die Rückbesinnung und Erneuerung des Islam aus dem Osten, aus Khorasan, der alten Bezeichnung für Afghanistan, erfolgen müsse. Nicht ohne Grund liegt der Begründer der Panislamismus-Bewegung, Jamal ad-din al Afgani, auf dem Gelände der Universität Kabul begraben. Ebenso wie Ayatollah Chomeini hatte er seine religiös-revolutionäre Gedankenwelt während eines Aufenthalts im laizistischen Frankreich entworfen.
Die politisch motivierende Wirkung der Hadiths
Die Idee, Afghanistan oder Khorasan spiele für die Revitalisierung des Islam eine Schlüsselrolle, beruht auf zwei Hadiths, überlieferten Spruchweisheiten, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Als Ernst Herzfeld, der Ausgräber von Persepolis, 1921 auf diese Textstellen hinwies, war er sich ihrer politisch motivierenden Wirkung bewusst. Der eine Hadith lautet: „Keine Fahne wurde je von Khorasan aus entfaltet, in der Unwissenheit oder im Islam, die zurückgeschlagen worden wäre, ehe sie ihr Ziel erreichte“. Und der andere Hadith liest sich wie der Leitspruch für die al-Qaida-Operation des 11. September 2001: „Khorasan ist der Köcher Allahs, aus dem er einen Pfeil schießt, wenn er einem Volke zürnt.“
Der Rückblick auf das Jahr 1979 und seine Folgen ermöglicht folgende Feststellungen: Wer die Formierung politischer Gruppierungen auf der Grundlage des Islam erforscht und die Ursprünge dschihadistischer Militanz sucht, der wird im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet fündig. Hier entwickelte sich ab 1980 während des Kampfes gegen die Sowjetunion ein Inkubationsraum, der nach dem Kalten Krieg seine geistige Wirkung in einem Spektrum vielfältiger Erscheinungsformen entfaltete. Zu ihnen gehört der dschihadistische Terror der al-Qaida und ihrer Nachfolgeorganisationen ebenso wie der Versuch, über das afghanische Emirat der Taliban oder im Rahmen des Islamischen Staats in Syrien und Irak ein neues Kalifat zu gründen.
Außerhalb dieser gewaltbereiten Proto-Staaten und neben dschihadistischen Extremistengruppen agieren politische Bewegungen, die, wie etwa die afghanische Hezb-e Islami als „Partei des Islam“, vordergründig Parteien westlichen Typs ähneln. Sie verfolgen ihre Ziele in der Regel unter Verzicht auf gewaltsame Mittel und bedienen sich dabei einer systematisch ausgerichteten Langzeitstrategie. Wie schon 1979 sehen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowohl die gewaltbereiten Dschihadisten als auch die überwiegend gewaltfrei operierenden islamischen Parteien ihre Hauptgegner heute in erster Linie in den säkularen Gesellschaften des Westens, vor allem in den USA und Israel, und im Falle der von den saudischen Wahhabis inspirierten sunnitischen Militanz im schiitischen Iran.
Ein Video, das vermutlich 1989, also vor rund drei Jahrzehnten, in Peschawar entstand, zeigt zwei Männer. Sie waren damals noch jung und keine Dschihadis, die mit der Waffe in der Hand gegen die Ungläubigen kämpften. Dennoch knieten sie respektvoll zu Füßen Gulbuddin Hekmatyars, des Mujaheddin-Führers und Vorsitzenden der Hezb-e Islami. Sie wollten ihm als Lehrer und Vorbild ihre Referenz erweisen. In den folgenden Dekaden wurden die beiden Männer in ihren Heimatländern zu herausragenden Führungsgestalten islamischer Parteien, die der internationalen Muslimbruderschaft nahestehen.
Der eine ist Rached al-Ghannouchi, der Führer der islamischen Ennehad-Partei Tunesiens. Sie erhielt nach dem Umsturz 2011 bei der Wahl zur Verfassunggebenden Versammlung Tunesiens mit 37 Prozent die meisten Stimmen. Rached al-Ghannouchi ist heute Mitglied des European Council for Fatwa and Research, das seinen Sitz in Dublin hat. Der andere Besucher Gulbuddin Hekmatyars war Recep Tayyip Erdoğan, der heutige Staatspräsident der Türkei.