Hammer im Norden, Hammer im Osten, Hammer im Süden, Hammer im Westen, Hammer über mir, Hammer unter mir, weihe dieses Heiligtum und halte Wacht und wehre allem Übel! Um mich und in mir Asgard und Midgard. Wir grüßen die Götter und Geister, unsere Mutter Erde und alle Wesen, die mit uns sind. Heil Asen, Heil Asinnen, und alle hochheiligen Götter!“
Mit diesen Worten beginnt „ein kurzes Julritual“, das die Anhänger des „Ásatrú“ zur Wintersonnenwende, meist in der Natur unter freiem Himmel feiern. Die Wortneuschöpfung Ásatrú entstand Anfang des 19. Jahrhunderts in Skandinavien und bezeichnet die „Asentreue“ oder den „Asenglauben“, das gegenseitige Treueverhältnis zwischen Göttern und Menschen. Die Asen sind neben den Wanen eines der Göttergeschlechter im altisländischen Versepos „Edda“ aus dem 13. Jahrhundert. Sie leben im Götterhimmel „Asgard“ im Gegenüber zur Menschensphäre „Midgard“. Tolkien-Leser hören hier nicht zufällig einen Anklang an „Mittelerde“, Schauplatz der Herr-der-Ringe-Trilogie – Fantasy-Literatur und Mittelalterromantik tragen erheblich zur Entstehung dieser neuen Religion bei.
Ásatrú ist wie „Alter Weg“ und „Alte Sitte“ die Selbstbezeichnung einer neuen religiösen Bewegung, die religionswissenschaftlich auch als germanisches Neuheidentum bekannt ist. Die Angehörigen nennen sich Ásatrúar. In ihrer englischen Bezeichnung „Heathen“ ist sichtbar, dass es sich um eine Untergruppe des Neuheidentums (Neopaganismus) handelt und es damit zu einer Reihe zeitgenössischer naturreligiöser Bewegungen gehört, die Europas vorchristliche Religion wiederbegründen oder fortführen will. Etwas bekannter als Ásatrú sind andere neuheidnische Strömungen wie Schamanismus und Neue Hexen.
Nicht alle Heiden wollen ihre Weltanschauung Religion nennen
Bittet man Heiden, die Attraktivität ihrer Weltanschauung zu beschreiben – nicht alle wollen es „Religion“ nennen –, so hört man von der Sehnsucht nach der Mystik einer beseelten Natur, der Weisheit ferner Kulturen, nach erfahrungsintensiven Ritualen, undogmatischer Spiritualität und größter individueller Freiheit in religiösen Dingen. Die Anhänger sehen sich nicht als Angehörige einer jungen oder neuen Religion, sondern im Gegenteil als Bewahrer uralter Überlieferungen.
Das Christentum ist oft die Bezugsgröße im Hintergrund, von der man sich unterscheiden will. Während Schamanen eher auf exotische Traditionen (Sibirien, Südamerika) rekurrieren und Hexen sich als Nachfolgerinnen der Opfer der europäischen Hexenverfolgungen in der frühen Neuzeit betrachten, versuchen Ásatruar, germanische Götterwelten des Frühmittelalters wieder mit Leben zu füllen.
Die Heiden sind also zurück. Oder waren sie nie fort? Ist das Ganze eine Wiedererweckung des Ausgestorbenen oder eine Wiederentdeckung des Verborgenen? Darüber sind sich die Heiden selbst nicht einig.
Einige glauben entgegen den Erkenntnissen der Geschichtswissenschaft, es hätten in Europa unterhalb und am Rande einer oberflächlich christianisierten Kultur ununterbrochen vorchristliche Glaubensinhalte überlebt, die in geheimen Zirkeln („Hexen-Coven“ etwa) mündlich überliefert und heimlich praktiziert worden seien. Das Problem: Es gibt hierfür keinerlei Belege.
Andere Heiden nehmen die religionswissenschaftliche Forschung ernster. Diese betrachtet das Neuheidentum als ein Kind der Moderne, dessen geistige Wegbereitung in den nationalromantischen Aufbrüchen Europas im 19. Jahrhundert liegt, die in der Mittelaltersehnsucht in Kunst und Literatur eine imaginierte heilere Zeit der Vorfahren und eine Wiederverzauberung der Welt gegen die Aufklärung popularisierten. Hier wurde mithilfe von Sagen, Brauchtum, Archäologie, Historiografie und Linguistik – man entdeckte eine indogermanische Sprachgruppe – eine gemeinsame germanische Vorfahrenkultur in Zentral- und Nordeuropa rekonstruiert. Das Sammeln von Liedern und Märchen wie etwa der Gebrüder Grimm, die Besinnung auf das Eigene diente in ganz Europa der identitären Selbstvergewisserung und war zumal in Deutschland ein Mittel zur Förderung von politischer Einheit und Demokratie.
Als es später Einzelnen nicht reichte, die Vergangenheit nur ästhetisch zu erkunden, begannen sie aus diesen kontrakulturellen Bewegungen die Religion der Germanen neu zu beleben. Dazu kondensierten sie einen vermeintlich historischen Kern aus dem Gesammelten, nutzten ihre Phantasie und rekonstruierten eine angebliche germanische Religion, und zwar oft auf der Grundlage von Rassetheorien, wie sie damals vielerorts en vogue waren. So entstanden zwischen 1880 und 1930 die sogenannte „Ariosophie“ (Arier-Weisheit) und „deutschgläubige“ Bewegungen. Auch wenn der reale Einfluss auf die Nazis gering war, bestanden weltanschauliche Parallelen. Das hat diese Ansätze nach 1945 nachhaltig diskreditiert und bis auf Splittergruppen unmöglich gemacht.
Das heutige Ásatrú hatte eine andere Quelle. 1972 gründete der isländische Bauer Sveinbjörn Beinteinsson im Rahmen der kulturellen Umbrüche – Stichwort: 1968, New Age und Ökologiebewegung – die Wikingerreligion „Ásatrúarfélagið“ (Ásatrúvereinigung). Während die New-Age-Bewegung bei Indianern und im Fernen Osten nach wahrer Erkenntnis suchte, wurden Einzelne in Skandinavien, den USA und Großbritannien stattdessen bei den eigenen Vorfahren fündig. Statt der eigenen Rasse war nun aber die Natur der Leitbegriff, in dem man die Urweisheit bewahrt sah. Deshalb stehen bis heute germanisch-religiöse Rekonstruktionen stets unter pantheistisch-naturbezogenem Vorzeichen. Ab den Neunzigerjahren drang diese naturreligiöse Tradition germanischen Heidentums nach Festlandeuropa vor. Wegen der früheren, rassisch gegründeten Ansätze der neuen Germanen kam es in Deutschland bis heute zu anhaltenden Richtungsstreitigkeiten innerhalb der Szene.
Ásatrúgruppen gibt es vor allem in Skandinavien, Großbritannien, Deutschland, den Niederlanden, den USA und Australien. In Island sowie in einigen anderen Ländern sind sie eine staatlich anerkannte Religion, auch in Großbritannien genießen Heiden bestimmte korporative Rechte beim Schutz ihrer Feiertage und der Durchführung religiöser Kasualien. In Island ist seit 2003 ein eigener Tempel im Bau.
Die Zahl der Ásatrúar ist unbekannt, nicht wegen Geheimniskrämerei, sondern aus praktischen Gründen. Viele regelmäßige Praktizierende streben keine formale Mitgliedschaft an. Abgrenzung und Definition von Ásatrú innerhalb des Heidentums sind auch intern umstritten. Hinzu kommt das für die Heidenszene typische Phänomen der fluktuierenden Patchwork-Religiosität: Man nimmt an Ritualen verschiedenster Richtungen teil oder praktiziert sie allein, auch lebenszyklisch variierend.
In Deutschland sind die meisten Gruppen als Vereine mit ein bis drei Dutzend Mitgliedern organisiert, zum Beispiel Nornirs Aett oder der Verein für Germanisches Heidentum (VfGH), aus dessen Mitgliederzeitschrift „Ringhorn“ das eingangs zitierte Julritual stammt. Die meisten sind ursprünglich Ableger amerikanischer oder britischer Gruppen. Der größte deutschsprachige Verein ist der Eldaring mit 350 Mitgliedern, davon ein gutes Drittel unter 40 Jahre alt. Im Ásatrú-Sehnsuchtsort Island werden offiziell 4000 Ásatrúar auf 300.000 Einwohner gezählt. Weltweit schätzen Experten maximal 20.000 Mitglieder. Manchmal gibt es internationale Treffen, aber eine globale Dachorganisation existiert nicht. In Deutschland gehört Ásatrú zur allgemeinheidnischen deutschen Sektion der Pagan Federation (PFI).
Die wichtigste Quelle ist das mittelalterliche Versepos Edda
Ásatrú ist eher eine Ritualpraxis als eine zusammenhängende Lehre. Eine Lehre ist schon deswegen schwierig definierbar, weil über die Religion der Germanen so gut wie nichts bekannt ist, da sie keine schreibende Kultur waren. Die wichtigste Quelle zur Rekonstruktion des Ásatrú ist das mittelalterliche isländische Versepos Edda, deren Übertragbarkeit auf die nicht-skandinavische Welt sehr schwierig ist. Die Edda ist außerdem Jahrhunderte nach der Christianisierung geschrieben und schildert den vorchristlichen Glauben aus christlicher Sicht. Insgesamt ist das germanische Heidentum in der gleichen Situation wie andere esoterische Strömungen, die sich meist auf zeitlich und räumlich ferne Traditionen berufen: Je weniger man weiß, umso freier kann man imaginieren und projizieren. Das erklärt, warum so vieles bei dieser Alten-Germanenreligion 2.0 so modern erscheint: Ökologie, Individualismus, Ablehnung von Autoritäten, nicht-hierarchische Ordnung und Diesseitsoritentierung werden großgeschrieben. Viele Ásatrúgruppen zählen heute auch explizite Erklärungen gegen Rassismus zu ihren Grundlagen.
Man sieht sich selbst als polytheistische, undogmatische Erfahrungsreligion. Aus dem reich bevölkerten Götterhimmel Asgard bezieht man sich in der Praxis auf ein Dutzend Götter: Odin, Thor, Freya und andere. Während einige Ásatrúar auf der transzendenten Personhaftigkeit der Götter bestehen, sehen andere diese eher als Symbole für pantheistische Naturkräfte. Wieder andere sind explizit atheistisch und sehen in den „Göttern“ eher Sprachspiele. Viele Ásatruár pflegen heute eine hervorgehobene persönliche Beziehung zu einer einzelnen ausgewählten Gottheit. Das scheint ähnlich wie das Konzept „Asen-Treue“ eine Übertragung aus dem Christentum zu sein: Die christlichen Autoren der Edda haben vermutlich ihre eigene Vorstellung von persönlichen Heiligen auf ihre heidnischen Vorfahren projiziert. Es ist völlig unbekannt, ob das vorchristliche Heidentum wirklich in dieser Weise als persönliche Gottesbeziehung gestaltet war. Es passt aber heute wie zur Zeit der Edda in eine vom Christentum geprägte Religionskultur.
Jenseitsvorstellungen spielen kaum eine Rolle. Die Ethik des Ásatrú wird öfters in Abgrenzung vom Christentum formuliert. Sie betont vor allem die Selbstverantwortung des Menschen, der sich keinem Gott unterordnet. Das Verhältnis Mensch-Gott ist gleichberechtigt, von gegenseitigen Treuepflichten auf Augenhöhe bestimmt. In der Szene kursieren (leicht variierende) Listen von neun Grundtugenden: Tapferkeit, Wahrheitsliebe, Ehre, Treue, Disziplin, Gastfreundschaft, Selbstverantwortung, Geschicklichkeit, Ausdauer.
Die Ásatrú-Vereine sind wegen der Verstreuung der Mitglieder als regionale „Stammtische“ organisiert, auch „Herd“ oder „Gilde“ genannt, die an bestimmten Jahreskreisfesten wie Sonnenwenden und Äquinoktien zu größeren Opferritualen, den „Blóts“, zusammenkommen. Hierbei kommen auch die fiktive „germanische Göttin“ Ostara und das Julfest zum Einsatz, die angeblich ursprünglich hinter Ostern und Weihnachten stecken sollen. Historisch ist beides nicht nachweisbar, obwohl diese Deutung auch unter Theologen populär ist. Rituale gibt es auch für Beerdigung und Heirat („Ehe-Leite“).
Für die Rituale kostümiert man sich gerne phantasievoll. Die dabei sichtbare Religionsästhetik zeigt, dass viele Teilnehmer wie schon die Vorläufer im 19. Jahrhundert ihren Weg ins Heidentum über Literatur, heute besonders über Fantasyliteratur und -filme („Herr der Ringe“, „Nebel von Avalon“) sowie über Mittelaltermärkte und Reenactment-Gruppen gefunden haben. Letztere versuchen, historische Ereignisse möglichst authentisch zu inszenieren. Bedenkt man, dass die meisten Heiden in Städten wohnen, aber den alten deutschen Wald zu ihrem Tempel erkoren haben, darf man hierin auch eine Portion romantischer Zivilisationsflucht sehen.
Blóts finden meist im Freien an festen Kultplätzen mit maximal 30 bis 40 im Kreis stehenden Teilnehmern statt. Zum Ablauf gehören die Eröffnungsbegrüßung, die Platzweihe (Einhegung), Anrufungen der Götter, symbolische Opfer (vom Essen bis zu persönlich wertvollen Gegenständen), „Sumbel“ (Gemeinschaftskelch), Abschlussdank, manchmal auch kurze Gesänge. Unübersehbar ist die Anlehnung an christliche Gottesdienstabläufe.
Trotz einer Ethik, die unterschiedliche Geschlechterrollen betont (was isländische Ásatrúar nicht daran hindert, homosexuelle Paare zu trauen), ist soziale und kultische Gleichberechtigung der Geschlechter die Regel, schon wegen der basisdemokratischen Strukturen ohne festen Klerus.
Das germanische Heidentum und Bezüge zum Rechtsextremismus
Eine heikle Frage bei der Schaffung einer „autochthon“-tribalistischen Naturreligion betrifft die ethnische Offenheit in einer Vielvölkergesellschaft. Das germanische Heidentum wird in Deutschland oft mit Rechtsextremismus in Verbindung gebracht. Dafür gibt es neben den historischen Vorläufern mehrere Gründe: In den Achtzigerjahren waren manche Kleingruppen, die nach 1945 fortbestanden hatten, offen neonazistisch. So war der langjährige NPD-Vorsitzende Jürgen Rieger zugleich Leiter der „Artgemeinschaft – Germanische Glaubens-Gemeinschaft“. Manchmal rezipieren germanische Heiden problematisches Material. So ist ein 1908 erschienenes Werk des Ariosophen Guido von List über die Runenschrift bis heute beliebt, weil es die Runen mit phantasievollen runenmagischen Symboldeutungen verbindet. In dem Werk mischen sich skandinavistische Forschung mit esoterischen Spekulationen, angereichert um rassistische und antisemitische Ideen. Moderne Heiden ignorieren Letzteres meistens einfach. Viele kennen auch gar nicht das Original, sondern nutzen sekundäre Zusammenfassungen ohne diese Elemente, von denen sie nichts wissen. Sie setzen sich aber dem Vorwurf unkritischer Anknüpfung an problematische Vorläufergestalten aus.
Teilweise benutzen Neonazis und ihre Musikszene neuheidnische Symbole, insbesondere den „Mjölnir“, die Waffe des Gottes Thor in der Edda. Der Thorshammer wird auch bei Ásatrú-Ritualen verwendet und gehört als Abbildung, Tätowierung und Amulett zur germanisch-heidnischen Grundausstattung. Alle diese Symbole sind als Modeaccessoires weit verbreitet, etwa in der Goth-Szene, die weder in das Heiden- noch in das Neonazi-Milieu gehört. Diese Symbole allein weisen daher weder auf eine religiöse Orientierung von Neonazis noch auf eine rechtsextreme Gesinnung im Ásatrú hin.
Die Heidenszene insgesamt ist feministisch und individualistisch geprägt, ein erheblicher Teil rekrutiert sich aus der LGBT-Szene. Wenn die Ásatrúar daher ihr gemeinschaftsorientiertes Ethos und „traditionelle“ Geschlechterrollen propagieren, führt dies bei anderen Heiden bisweilen zum Verdacht, sie seien „rechts“. Dazu gehört auch der Vorwurf der „Heteronormativität“ – im Sagenkreis um Dietrich von Bern und in den isländischen Göttersagen sind Schwule und Lesben „unterrepräsentiert“.
Am Grundsätzlichsten ist der Einwand, eine Religion, die sich auf germanisches Ahnenerbe beziehe, impliziere unvermeidlich völkische und ausschließende Elemente, da Einwanderer in der Gegenwartsgesellschaft hier keinen Anknüpfungspunkt und daher keinen Raum hätten. Tatsächlich sind in Ásatrú-Gruppen Einwanderer selten. Dahinter stehen bei fast allen Gruppen keine ethnischen Ausschließungsgründe, sondern es ist ein Phänomen der gesamten Esoterik- und Heidenszene. In den großen Kirchen ist es übrigens kaum anders. Die meisten Ásatrú-Gruppen sind explizit menschheitlich universalistisch.
Selbst jene mit öko-regionalistischer Gestalt, die auf Heimat- und naturromantischen Umweltschutz gründen, definieren Zugehörigkeit herkunftsunabhängig. Sie setzen nur eine „spirituelle Akkulturation“ voraus. So bezeichnet sich etwa der VfGH als „ethnische Naturreligion“, verneint aber eine Verknüpfung von Ethnie und Religion mit genetischer Abstammung. Vielmehr seien „ethnische Religionen gerade durch die Volksbindung offen: Wer in ein Volk integriert wird – was durch Heirat, Zuzug, Bündnisse usw. stets geschah –, hat auch Anteil an seinem gemeinsamen Mythos. Er gehört den Göttern des Volkes an, das nun auch seines ist“ (Ringhorn, Heft 41, 4).
In den vergangenen Jahren haben Deutschlands Ásatrúar viel getan, um klar rassistische Gruppen und Individuen zu isolieren – mit Erfolg: Der Armanen-Orden scheint erloschen, die Art-Gemeinschaft tritt öffentlich kaum noch in Erscheinung, und die von jeher winzige Germanische Glaubensgemeinschaft besteht nur noch aus einer Handvoll Mitglieder, mit denen andere Gruppen allen Kontakt meiden. Zugleich klopft man die ältere Literatur, auf die man sich bezieht, daraufhin ab, ob dort implizite Rasse-Ideologien vorliegen. Dazu rezipieren Ásatrúar oft seriöse akademische Literatur aus Religionsgeschichte und -wissenschaft.
Eine bisweilen noch anzutreffende pauschale Identifikation von Germanischem Heidentum mit rechtsextremem Gedankengut übersieht diese Entwicklungen und hält einem differenzierteren Blick nicht mehr stand. Im Gegenteil scheint der größte Teil der Szene teils einem unpolitisch-naturfrommen und teils einem linksalternativen Milieu zugehörig.
Es gibt Ansprechpartner für den interreligiösen Dialog
Eine große Veränderung hat sich in den vergangenen Jahren im Verhältnis zum Christentum ergeben. Viele Heiden sind getauft und haben sich irgendwann von der Kirche abgewandt, oft mit negativen Vorzeichen. Schon die Selbstbezeichnung „Heiden“ deutet ein Spannungsverhältnis zum Christentum an. Der schon im Mittelalter belegte Begriff ist ein christlicher Abwertungsbegriff für kulturelle und religiöse Außenseiter. Als Selbstbezeichnung wurde er einerseits wegen seines (heute kaum noch spürbaren) Provokationspotentials gewählt, andererseits, weil er ein Opferbewusstsein ausdrückt, das vielen Heiden gemeinsam ist. Für Ásatrúar ist insbesondere die Zwangsmissionierung der Sachsenkriege identitätsstiftend. Der heidnische Künstler Thomas „Voenix“ Vömel initiierte aus diesem Grund einige Jahre lang Demonstrationen von Heiden gegen das Bonifatius-Denkmal in Fritzlar.
Gehörte für viele Heiden lange Zeit die Ablehnung des Christentums zur religiösen DNA, so hat sich in den vergangenen Jahren das Verhältnis zu den Kirchen deutlich entspannt, die oft aggressive Abgrenzung tritt zurück. Die derzeitige Vorsitzende des Dachverbands „Pagan Federation“ hat sich nach ihrem zweiten theologischen Examen 1991 für das Heidentum entschieden und wirkt als Brückenbauerin. Seit kurzem gibt es in dem Verband sogar in einigen Gegenden Ansprechpartner für den interreligiösen Dialog. In Berlin wirkt man seit Jahren in der Langen Nacht der Religionen mit. Die deutsche Ásatrú-Szene vollzieht damit einen Reifungsprozess nach, den man in Großbritannien schon vor über zwanzig Jahren beobachten konnte.
Inwieweit die kleine und auf ein enges Milieu beschränkte Bewegung von Dauer sein wird, ist derzeit nicht absehbar, aber im Moment wächst Ásatrú zu einer der exoterischeren Blüten im Strauß der vielreligiösen Gesellschaft, die in Deutschland entstanden sind.