100 Jahre Internationale Arbeitsorganisation ILODer nächste Schritt

Die ILO wird 100 Jahre alt. Wenn sie künftig globale Ausbeutung nicht nur anprangern, sondern eindämmen soll, braucht sie endlich eines: einen Arbeitsgerichtshof.

Blick auf Genf mit Genfer See und Fontäne.
© Pixabay

Ausgerechnet in der größten Krise des Multilateralismus seit Ende des Kalten Krieges feiert die älteste Sonderorganisation der Vereinten Nationen Geburtstag. 100 Jahre alt wird die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization ILO) in diesem Jahr.

Zwar sind Unicef, Unesco oder WHO mit ihren Tätigkeitsfeldern den meisten Menschen geläufiger als die Friedensnobelpreisträgerin ILO, aber mit keiner anderen Sonderorganisation der UN pflegen die Vertreter der römischen Sozialverkündigung einen solch engen Austausch und wechselseitigen Bezug. Schon zum 50. Geburtstag 1969 reiste Paul VI. nach Genf und rief den Delegierten zu: „Das Schicksal zahlloser Arbeiter auf der ganzen Erde liegt in Ihren Händen.“ Johannes Paul II. betonte 1981 in seiner Enzyklika „Laborem Exercens“ zweimal die Bedeutung der ILO zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse weltweit. Benedikt XVI. nahm 2007 in „Caritas in Veritate“ nahezu wortgleich die Kernelemente der „Agenda für menschenwürdige Arbeit“ der ILO von 1999 auf und machte sich ihre Ziele zu eigen. Franziskus schließlich wandte sich 2014 in einer ausführlichen Botschaft an die 103. Internationale Arbeitskonferenz und traf den aktuellen Generaldirektor Guy Ryder.

Zugleich war die ILO die erste UN-Organisation, die sich strukturell mit dem Beitrag der Religionsgemeinschaften zur Umsetzung ihrer Ziele beschäftigte. Dies liegt sicher auch daran, dass bereits seit den ersten Jahren ihres Bestehens der Jesuitenorden in die Beraterstruktur ihrer Leitung eingebunden war. Noch heute liegt die Verantwortung für das Referat für die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft ‒ und damit auch mit den Religionsgemeinschaften ‒ bei einem Jesuiten. Der ILO ist es damit gelungen, ihre Programmatik nicht nur in den Veröffentlichungen vieler anderer internationaler Organisationen zu platzieren (selbst jener, die, wie der Internationale Währungsfonds und die Weltbank, in der Vergangenheit gänzlich andere makroökonomische Ziele verfolgt haben), sondern auch in der Lehre zu Arbeit und Entwicklung der größten Religionsgemeinschaften der Erde. Und dennoch kann dieser Erfolg, die Kernarbeitsnormen und manche Implementierungsoption als allgemeingültige Arbeitsstandards in der Debatte etabliert zu haben, nicht darüber hinwegtäuschen, dass nur wenige Staaten der Erde ratifizierte Übereinkommen implementieren. Von der Normensetzung zur Normendurchsetzung ist es ein weiter Weg.

Umgehung der Arbeitsstandards

Besonders gilt das mit Blick auf die Hälfte der weltweit Beschäftigten, die in der informellen Wirtschaft ohne jeden Arbeitsvertrag und damit meist ohne jeglichen Arbeits- und Sozialschutz tätig sind. Aber auch Millionen von Menschen, die über einen ortsüblichen Arbeitsvertrag verfügen, werden basale Arbeitsrechte vorenthalten. Dies besonders in Ländern mit schwachen Regierungen, in denen die Aufsichtsbehörden schlecht ausgestattet sind. Auch europäische Unternehmen nutzen die verlängerte Werkbank in den Billiglohnregionen Asiens, den Maquiladoras Lateinamerikas oder den Sonderwirtschaftszonen Afrikas. Der systemischen Umgehung von Arbeitsstandards hat die ILO auch nach 100 Jahren kein wirksames Sanktionsinstrument entgegenzusetzen.

Neben diesen längst bekannten Übeln warten neue Herausforderungen in der internationalen Welt der Arbeit: Die digitale Plattform-Ökonomie löst die klassischen Arbeitsverhältnisse auf und macht Millionen von Menschen zu (Pseudo-)Selbstständigen, die mit Werk- statt Arbeitsverträgen und ohne kollektive Repräsentation durch Gewerkschaften der territorial entgrenzten Arbeitsnachfrage begegnen. In ihrem Bericht zur „Zukunft der Arbeit“ hat die anlässlich des 100. Geburtstages eingesetzte „Globale Kommission“ der ILO daher zurecht den Umgang mit der Plattform-Ökonomie zu einem zentralen Forschungsschwerpunkt der ILO erhoben. Leider konnte sich die 30-köpfige Kommission nicht auf konkrete Empfehlungen zur Entwicklung von Sanktionsmacht durch die ILO einigen. Das Dilemma einer dreigliedrig operierenden Organisation zeigt sich auch hier. So wertvoll und weltweit einmalig eine Deliberationsarena von Regierungen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern unter Beteiligung der Zivilgesellschaft ist, die Entscheidungen über Sanktionsmöglichkeiten werden letztlich in den Wirtschaftsministerien und den Spiegelreferaten der Ämter der Regierungschefs der G7 getroffen.

Angela Merkel und Emmanuel Macron werden aller Voraussicht nach bei der diesjährigen Arbeitskonferenz einen gemeinschaftlichen Impuls für die Zukunft der Organisation am Genfer See setzen. Ein angemessenes Geburtstagsgeschenk wäre, die ILO mit der Normendurchsetzung zu mandatieren. Zum Beispiel könnte ein bei ihr angesiedelter Internationaler Arbeitsgerichtshof ein wirksames Instrument der Erzwingung von Arbeitsnormen sein. Nach 100 Jahren sei dies der ILO und den ausgebeuteten Frauen und Männern der Arbeitswelt endlich gewährt.

Markus Demele, geboren 1978, ist Generalsekretär von Kolping International.

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