Katholische Sexuallehre nach dem Ende verordneter EinheitlichkeitDiversität zulassen

Die Kirche muss ihre negative Bewertung von Homosexualität überwinden. Ansonsten verliert sie ihre moralische Glaubwürdigkeit.

Eine Word Cloud aus den Begriffen Liebe, Sex und Sexualität.
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Das Thema der Homosexualität polarisiert Religionen nicht weniger als die internationale Gemeinschaft. Innerhalb und zwischen den christlichen Konfessionen gehen die Meinungen weit auseinander, wie moralisch, rechtlich und in der religiösen Praxis mit homosexuellem Verhalten und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften umgegangen werden soll. Der offene Streit um die Frage der Bewertung von Homosexualität hat – verglichen mit anderen christlichen Konfessionen – mit Verzögerung nun auch die katholische Kirche erreicht, wie auf weltkirchlicher Ebene auf den Bischofssynoden über die Familie 2014 und 2015 deutlich wurde.

Doch das Thema entzweit nicht nur Ortskirchen voneinander, wie unterschiedliche Äußerungen deutscher Bischöfe in der jüngsten Zeit beweisen. Während die einen dafür plädieren, sich kritisch mit den Vorurteilen und Verurteilungen der Vergangenheit auseinanderzusetzen, warnen andere mit Nachdruck vor einer Aufgabe der bisherigen Position. Ein Teil der Bischöfe registriert den schwindenden sittlichen Geltungsverlust der kirchlichen Morallehre auf diesem Feld und kann sich eine Weiterentwicklung der Lehre vorstellen, ein anderer Teil verknüpft die Identität des Katholischen mit dem Festhalten an den vor allem unter Johannes Paul II. fixierten sexualethischen Normen. Die Differenzen mögen schon länger schwelen, zu Tage getreten sind sie im Zuge der angekündigten Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche.

In der sogenannten MHG-Studie (vgl. HK, November 2018, 13-16) wird vermutet, dass es spezifische katholische „Strukturen und Regeln“ gibt, „die ein hohes Anziehungspotential für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben“. Die Tabuisierung der homosexuellen Orientierung in einer nicht selten homophoben Umgebung stehe ihrer positiven Annahme im Weg und könnte auf diese Weise sowohl den Missbrauch als auch seine anschließende Verleugnung und Vertuschung begünstigt haben. Daher rät die Studie, die Haltung gegenüber Homosexualität zu überdenken, im Besonderen die gegenüber homosexuellen Priestern. Dem steht die Überzeugung entgegen, wonach Homosexualität „mit dem Priesterberuf nicht vereinbar“ sei (Benedikt XVI., Licht der Welt, Freiburg i. Br. 2010, 181). Immer wieder wird die These vertreten, das Problem des Missbrauchs sei in Wahrheit ein von homosexuellen Klerikern verursachtes Problem. Der männliche Homosexuelle wird als potentieller Kinderschänder wahrgenommen. Mir scheint, dass die moralische Empörung über die Tradierung dieses alten Vorurteils innerhalb des Klerus, auf allen Ebenen, zunimmt und ein Umdenken in Gang setzt.

Ethische Überreizung

Die kollabierende Glaubwürdigkeit der katholischen Sexualmoral bewirkt bei zahlreichen Bischöfen die Bereitschaft, sich beim Thema der Homosexualität (endlich) gegenüber den theologischen und humanwissenschaftlichen Diskussionen aufgeschlossen zu zeigen. Die jahrzehntelange Blockade der Rezeption heutiger Wissensbestände beginnt zu bröckeln. Die Vorgabe, dass jede sexuelle Handlung außerhalb der Ehe und jenseits der „Offenheit auf Zeugung“ unter allen Umständen eine Sünde bedeutet, gilt vielen als ethische Überreizung. Das Erstkriterium der „naturgemäß“ vollzogenen Sexualität tritt hinter dem Anspruch zurück, sich in der Sexualität verbindlich und treu als gleiche und freie Person wechselseitig zu respektieren. Menschenwürdig gelebte Sexualität lässt sich nicht vorrangig daran bemessen, ob der Zweck der Reproduktion respektiert wird. Denn so bleiben die weiteren wertvollen Dimensionen der Sexualität unterbelichtet. Zudem ist der Wille erkennbar, die Erfahrungen der betroffenen Menschen ernster als bisher zu nehmen. Das entspricht der moraltheologischen Tradition, die verschiedene Quellen sittlicher Einsicht kennt: die Heilige Schrift, die kirchliche Überlieferung sowie die menschliche Erfahrung und Vernunft. Schließlich darf nicht unterschätzt werden, welche Dynamik durch die Entscheidung von Papst Franziskus freigesetzt wird, die negative Sichtweise auf Homosexualität abzuschwächen und homosexuellen Personen öffentlich Respekt zu bezeugen, auch wenn die Doktrin noch unangetastet bleibt.

Lässt der Druck auf eine einheitliche Rhetorik und rigorose Normierung innerkatholisch nach, werden Differenzen sichtbarer. Bischöfe beginnen, freimütig über Veränderungen nachzudenken, und lassen sich von Verteidigern der bisherigen Doktrin nicht mehr ohne Weiteres zu Abweichlern stempeln. Sie wissen, dass ihre Loyalität gegenüber einer in Verboten erstarrten Lehre in ihren Ortskirchen einen immer höheren Preis fordert, bis hin zur offenen Entfremdung vieler treuer Kirchenmitglieder von der katholischen Sexualmoral, deren Inkulturation weitestgehend gescheitert ist – jedenfalls was die Ebene der Befolgung ihrer konkreten Handlungsnormen betrifft (während die Prinzipien von Liebe, Verbindlichkeit und Verantwortung nach wie vor breite Zustimmung finden). Von jeder Sexualmoral wird heute erwartet, dass sie die sexuelle Integrität (Selbstbestimmung) eines jeden Menschen ungeachtet seines Geschlechts, seiner Geschlechtsidentität und seiner sexuellen Orientierung respektiert. Eine Anerkennung dieser menschenrechtlichen Forderung durch die katholische Kirche, die sich als Anwältin der Menschenwürde begreift, erscheint geboten.

Auch in Zukunft wird es erhebliche innerkatholische Spannungen auf dem gesamten Feld von Sexualität und Geschlechtlichkeit geben. Die Globalisierung des Rechts auf individuelle Gestaltungsspielräume stößt nicht überall und bei allen auf Zustimmung. Es gibt erheblichen Widerstand gegen die Auffassung, Homosexuelle hätten als Menschen die gleichen Rechte: „Aus Sicht der traditionellen Moral ist Homosexualität ein soziales Laster und eine Sünde“ (Dennis Altman/Jonathan Symons, Queer Wars, Bonn 2018, 105), die zu ächten und zu sanktionieren und auf keinen Fall als natürliche Variante menschlicher Beziehungsfähigkeit anzuerkennen ist. Hier prallen unterschiedliche ethische Überzeugungen aufeinander: Das „moderne“ Konzept der Anerkennung sexueller Selbstbestimmung und Vielfalt trifft auf das „traditionelle“ Konzept der Anerkennung einer ins Wanken geratenen überlieferten Geschlechterordnung und ihrer Werte. Die Haltung gegenüber Homosexualität ist dabei von großer symbolischer und identitätsstiftender Bedeutung – im politischen wie im religiösen Raum.

Wieder auflebende religiöse Fundamentalismen zeichnen sich in den letzten Jahrzehnten weltweit durch eine ausdrückliche Haltung der Anti-Homosexualität aus. Und im politischen Bereich wird Homophobie instrumentalisiert zur Abgrenzung von einem moralisch vermeintlich dekadenten „Westen“. Wie sich die katholische Kirche orts- und weltkirchlich äußert, ist jeweils kontextuell geprägt und hat unterschiedliche Auswirkungen auf die Entwicklung in den verschiedenen Teilen der Welt. In jedem Fall bezieht die Kirche Position in einem sich global vollziehenden Umbruch in der Regulierung von Sexualität. Ein theologischer Konsens scheint in weiter Ferne zu liegen. Das zeigen die Erfahrungen anderer Konfessionen. Der bisherige katholische Konsens ist verordnet gewesen und beruhte mehr auf Disziplin als auf Einsicht. Es gab Vereinheitlichung, nicht Einheit. Diese Strategie ist gescheitert, weil sie unwahrhaftig war. Sie sah die Wahrheit exklusiv auf Seiten der traditionellen Werte. Zustimmung zu einer Frage, die moralische Überzeugungen betrifft, lässt sich durch Demonstrationen von Orthodoxie nicht gleichsam erpressen. Moral kann nicht übergestülpt werden, weil sie vom Subjekt innerlich angeeignet werden muss. Nur rechtskonformes Verhalten lässt sich erzwingen.

Die Verwerfungslinien beim Thema Homosexualität gehen unübersehbar zwischen und durch die verschiedenen Konfessionen. Die in der katholischen Kirche nunmehr deutlich werdenden Spannungen sind der konfessionelle Normal- und nicht Sonderfall. Das bedeutet zugleich die Chance, von Überlegungen profitieren zu können, die in anderen Konfessionen und im ökumenischen Gespräch dazu seit Längerem angestellt werden.

Wie eine Glaubensgemeinschaft mit der Tatsache der ethischen Diversität zurechtkommen kann und soll, ist keine neue Frage. Der Gedanke der Einheit wird aufs Äußerste auf die Probe gestellt, wenn ‒ wie im Falle der Homosexualität ‒ die Praxis des jeweils anderen als unvereinbar mit dem Willen Gottes bewertet wird. Was für die einen eine nicht zu begründende Verletzung gottgewollter gleicher Rechte und Würde darstellt, gilt den anderen als inakzeptable Duldung oder gar Billigung eines sündhaften Verhaltens. Wie will man in dieser Situation die jeweils andere Haltung als eine sittlich verantwortbare Interpretation des Evangeliums verständlich machen oder anerkennen? Welches Maß an gegenseitigem, nachsichtigem Respekt ist hier möglich? Selbst wenn man dazu kommt, die Differenzen zu verstehen, weil man sich ihre historischen und kulturellen Hintergründe vor Augen führt ‒ wird man sie auch tolerieren können, wenn es um grundsätzliche Vorstellungen von Gerechtigkeit und Menschlichkeit geht? Scheitern Kompromisse hier nicht an den Klippen des sittlich entschiedenen Gewissens? Ab wann wird man in einer Gemeinschaft moralisch heimatlos? Wann wählt man die Exit-Option? Das sind keine rhetorischen Fragen.

Illusionen aufgeben

Nicht erst der Skandal des sexuellen Missbrauchs hat gezeigt, dass viele eine aus ihrer Sicht moralisch lethargische Glaubensgemeinschaft nicht mehr erdulden wollen. Vor allem können sie nichts mehr mit dem Hinweis anfangen, dass es „die Einheit der Kirche“ verbiete, in Fragen der Lebensführung über eine in den eigenen Glaubenserfahrungen verankerte Position nachzudenken. Diversität nicht zuzulassen, hat Inkulturation zum Schaden von Ortskirchen unterbunden und nicht wenige Gläubige in Gewissensnöte getrieben. Die Art, wie in den letzten Jahrzehnten kirchliche Einheit verstanden und hergestellt wurde, hat sich als selbstdestruktiv herausgestellt. Papst Franziskus lässt Dissens und Diversität in früher nicht vorstellbarem Maße zu. Damit ist die Zeit vorbei, in der es in der Frage der Homosexualität nur eine einzig legitime katholische Antwort gab ‒ nämlich die einer bestimmten, lehramtlich rezipierten Tradition.

Es ist daher die Aufgabe der Ortskirchen, sich ihrer Verantwortung zu stellen, ihre Antwort zu formulieren. Ohne eine breite und verbindliche Partizipation des Gottesvolkes wird dies nicht gelingen. Mit Diversität innerhalb und zwischen Ortskirchen ist zu rechnen. Um es deutlich zu sagen: Das ist ein Preis der christlichen Freiheit. Konsens vor Diversität ist bloß Zwang, Konsens trotz Diversität ein Kunststück, für das es freilich keine Garantie gibt. Vielleicht bietet der aus guten Gründen beim Thema Homosexualität viel gescholtene Katechismus (KKK) erste Anhaltspunkte für eine Verständigung. Liefe die strikte moralische Verurteilung der Homosexualität und homosexueller Partnerschaften zukünftig durch Beschweigen aus (KKK 2357) und würde keine eigene Theorie der Homosexualität („Neigung“, „Prüfung“) mehr vertreten (KKK 2358), sondern stattdessen die den Homosexuellen geschuldete menschliche Achtung und die Zurückweisung von Diskriminierung betont (KKK 2358), wäre Raum geschaffen für unterschiedliche ortskirchliche Interpretationen, was diese Achtung von Würde konkret verlangt.

In Teilen der Welt wäre bereits viel gewonnen, wenn die Entkriminalisierung von Homosexualität mit einer kulturellen Entwicklung in Richtung Toleranz einherginge und Homosexuelle nicht länger zu Opfern von Gewalt und Ausgrenzung würden. In anderen Regionen, in denen religiöse Traditionen einen selbstreflexiven Aufklärungsprozess durchlaufen haben, wird eine Vorstellung von Gleichheit und Freiheit im Ausdruck von Sexualität und Geschlecht dominieren, die moralische und rechtliche Asymmetrien zwischen Männern und Frauen, zwischen Hetero- und Homosexuellen auch im Raum von Glaubensgemeinschaften immer weniger akzeptiert. Die katholische Kirche hierzulande ist gefordert, der vom Evangelium her geschuldeten Achtung der Würde ihrer schwulen und lesbischen Mitglieder – etwa durch die Segnung ihrer Partnerschaft oder Änderungen im Arbeitsrecht – auf eine in unserem christlichen und kulturellen Kontext glaubwürdige und theologisch fundierte Weise Ausdruck zu verleihen.

Wer alles beim Alten belassen will, setzt die intellektuelle und moralische Satisfaktionsfähigkeit des Katholischen aufs Spiel. Eine veränderte Doktrin und Praxis wird den Verlust an Relevanz des kirchlich verfassten Christentums nicht einfach aufhalten. Eine schnelle Umkehr langfristiger Trends zu erwarten, dürfte eine trügerische Hoffnung sein. Es geht beim Verhältnis der katholischen Kirche gegenüber den modernen Umbrüchen im Bereich von Intimbeziehungen um sittliche Fragen, an deren Beantwortung sichtbar wird, an welches göttliche Gesetz man glaubt: an ein solches der Befreiung zu geschichtlicher Selbstgestaltung und der unbedingten Achtung menschlich authentischer Liebe oder an ein solches der Unterwerfung unter eine einmal gegebene und unveränderliche Ordnung.

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