Im kirchlichen Strafprozess um den Verdacht des sexuellen Übergriffs auf eine Nonne im Rahmen der Beichte hat der Oberste Gerichtshof der römischen Kurie, die Apostolische Signatur, den beschuldigten ehemaligen Abteilungsleiter der Glaubenskongregation freigesprochen. Der Heilige Stuhl bestätigte am 17. Mai 2019 einen entsprechenden Online-Bericht der „Herder Korrespondenz“.
Die Jury aus fünf Richtern sah es demnach nicht als erwiesen an, dass der österreichische Ordenspriester der geistlichen Gemeinschaft „Das Werk“, Pater Hermann Geißler, die deutsche Theologin Doris Wagner in nach kirchlichem Recht strafbarer Weise bedrängt hat. Eine „Straftat der Verführung zur Übertretung des Sechsten Gebotes“ seitens Pater Geißlers „steht nicht fest“ („non constare“), heißt es in einem auf Latein verfassten Bescheid des Gerichts vom 15. Mai 2019, der dieser Zeitschrift vorliegt (Protokoll-Nr. 54121 / 19 CG). Eine eventuelle Strafe komme daher nicht in Frage. Unterzeichnet ist der Bescheid vom Präfekten der Signatur, Kardinal Dominique Mamberti, sowie vom Sekretär, Bischof Giuseppe Sciacca. In einer späteren öffentlichen Stellungnahme begründete das Gericht seinen Freispruch damit, dass „die Umstände der behaupteten schweren Straftat nicht mit ausreichender moralischer Gewissheit bewiesen“ seien.
Doris Wagner reagierte enttäuscht auf den Ausgang: „In einem kirchengeschichtlichen Moment, in dem Kirchengerichte bemüht sind, sich als unbestechliche und effektive Instanzen zur Aufarbeitung von Missbrauch zu präsentieren – was ihnen ohnehin kaum mehr geglaubt wird –, ist diese Entscheidung eine vertane Chance“, schrieb sie auf ihrem Twitteraccount. Ihr sei das Urteil nicht zugestellt worden und sie habe keinen Anwalt nehmen dürfen. Der Sekretär der Signatur, Bischof Sciacca, sei „ein Freund des Werks“, so Wagner weiter.
Außerdem beklagte sie, sie habe sich nicht ausreichend zu den fraglichen Vorgängen äußern dürfen. Bei Gericht hatte sie lediglich eine schriftliche Stellungnahme eingereicht, konnte aber nicht zusätzlich eine mündliche Aussage machen. Der Beschuldigte gab eine schriftliche Stellungnahme ab und wurde zusätzlich verhört. Doris Wagner, die im Prozess Zeugin und keine Prozesspartei war, kommentierte auf Twitter: „Während der Voruntersuchungen wurde ich diesmal sogar zur Vernehmung ein- und dann zwei Tage vor dem Termin wieder ausgeladen. Angeblich aus Zeitgründen.“ Sie habe sich daher entschieden, die ihr vorliegenden Akten des Verfahrens der Wissenschaft zugänglich zu machen.
Der freigesprochene Pater Geißler äußerte sich erleichtert über das Gerichtsurteil. „Dass dieses Damoklesschwert nun nicht mehr über meinem Kopf schwebt, ist eine große Entlastung“, sagte er der Website kath.net.
Drei Vorwurfskomplexe mit unterschiedlichen Folgen
Das Urteil markiert den vorläufigen Abschluss der strafrechtlichen Aufarbeitung einer langen Auseinandersetzung zwischen Doris Wagner und der geistlichen Gemeinschaft „Das Werk“, die weltweit Aufsehen erregte. Wagner erhebt seit Jahren schwere Vorwürfe gegen das „Werk“, dessen Mitglied sie von 2003 bis 2011 war. In Zeitungsinterviews, Fernsehauftritten und einem Buch gab sie an, im Orden unter verschiedensten Formen des Missbrauchs gelitten zu haben, von Gehirnwäsche über autoritäre Führungsstrukturen und sektenähnliche Isolierung bis hin zu mehrfacher sexueller Gewalt. Einen der Ordensgeistlichen beschuldigt sie, sie im Jahr 2008 mehrfach auf ihrem Zimmer in der Niederlassung des Ordens in Rom vergewaltigt zu haben („ich weiß nicht mehr, wie oft“). Ein anderer Pater, der besagte frühere Abteilungsleiter Hermann Geißler, habe sie als ihr Beichtvater im November 2009 ebenfalls in Rom während des Beichtgesprächs verbal bedrängt und im Anschluss unsittlich berührt. Wegen aller drei Komplexe – Vorwurf autoritärer Strukturen innerhalb der Gemeinschaft, Vorwurf der Vergewaltigung, Vorwurf des Übergriffs in der Beichte – reichte Wagner bereits im Jahr 2012 kirchenrechtliche Klage bei der Glaubenskongregation ein, mit je unterschiedlichen Folgen.
In ihrem Buch „Nicht mehr ich“, das 2014 erschien, beschrieb Doris Wagner den fraglichen Vorfall im Beichtzimmer erstmals ausführlich. Geißler, der im Buch unter dem Pseudonym „Pater Ulf“ vorkommt, habe sich bei den Ordensoberen als ihr Beichtvater ins Spiel gebracht, ihr „immer auf die Brust“ geschaut und ihr schließlich nach einer der Sitzungen gesagt: „Ich mag Sie doch auch. Denken Sie, ich merke nicht, dass Sie mich mögen?“ Sowie: „Wir können zwar nicht heiraten, aber wir…“ Daraufhin habe sie gehen wollen, „aber er ergriff meine Hand, kam dicht an mich heran und drückte seine Wange an die meine. Meine Knie trugen mich gerade noch aus dem Raum hinaus, die Treppen hinauf in mein Zimmer.“ Als sie, wie es in Doris Wagners Buch weiter heißt, ihren Verantwortlichen von dem Vorfall erzählt habe, habe man ihr einen anderen Beichtvater zugewiesen. In späteren Interviews und Auftritten ergänzte Wagner, Pater Geißler habe sie in der betreffenden Situation auch festgehalten und sie zu küssen versucht. Sie sei in Panik geraten und fortgerannt.
Im Gespräch mit der „Herder Korrespondenz“ stellte Pater Geißler die Abläufe anders dar. Nicht er habe sich als Wagners Beichtvater angeboten, sondern Wagner habe ihn darum gebeten. Er habe keinen Grund gesehen, diese Bitte nicht anzunehmen. „Nach der fraglichen Beichte im November 2009 ist es zu einem vertraulichen Gespräch mit Frau Wagner gekommen, bei dem ich in empathischer und mitfühlender Weise, jedoch immer in der Sie-Form meine Wertschätzung für sie zum Ausdruck gebracht habe. Gleichzeitig habe ich bekräftigt, dass die gegenseitige Verbundenheit übernatürlich sein muss.“ Beim Hinausgehen, so Geißler weiter, „habe ich ihr – nicht mehr im Beichtzimmer, sondern im Vorzimmer – die Hand gegeben und mit meiner rechten Wange ihre rechte Wange berührt, als Geste der Zuneigung und der brüderlichen Verbundenheit“.
Wenige Tage nach der Beichte schrieb Geißler einen eine Seite langen handschriftlichen Brief an Doris Wagner, der bei den Gerichtsakten der Apostolischen Signatur liegt. Er ist auf „Christkönig 2009“ (22. November) datiert. Darin kommt Geißler noch einmal auf das fragliche Geschehen zurück und räumt „unkluges“ Verhalten ein. Es sei seine Absicht gewesen, „Sie zu stärken und zu ermutigen“, schreibt Geißler. Falls er sie dadurch verletzt habe, bitte er „Sie aufrichtig um Entschuldigung“. Er habe „nicht gesunde Grenzen überschreiten“, sondern „Sie in der Christusfreundschaft stärken“ wollen.
Die Glaubenskongregation stellte fest, es handele sich „nicht um ein Delikt, sondern um unkluges Verhalten“
Doris Wagner, die 2011 aus dem „Werk“ austrat, reichte 2012 ihre Klage bei der Glaubenskongregation gegen Hermann Geißler wegen unangemessenen Verhaltens im Rahmen der Beichte ein. Im zugehörigen Beschwerdedossier fanden sich auch Vorwürfe einer weiteren früheren Novizin des „Werks“, die angab, Pater Geißler habe sie einmal mehrere Minuten lang umarmt. Wie aus einem bisher unbekannten Brief des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation, Gerhard Ludwig Müller, an die Leitung des „Werks“ hervorgeht, informierte Müller Papst Benedikt XVI. über die Vorwürfe und leitete eine Untersuchung ein, sowohl im österreichischen Bistum Feldkirch, wo Pater Geißler vor seiner Zeit in Rom arbeitete, als auch innerhalb des „Werks“. Dabei hätten sich „keine weiteren Anschuldigungen“ gegen Geißler ergeben, heißt es in dem Schreiben Müllers, das vom 30. Dezember 2014 stammt. Bei den Vorwürfen von Doris Wagner und der zweiten Novizin habe es sich „nicht um ein Delikt, sondern um unkluges Verhalten“ gehandelt, so Müller weiter. „P. Geißler, der dafür um Verzeihung bat, wurde ermahnt, in Zukunft wachsamer und klüger zu sein.“ Damit war die kirchenrechtliche Untersuchung des Beichtvorfalls zunächst abgeschlossen. Geißler verblieb als Abteilungsleiter in der Glaubenskongregation.
Im vergangenen Herbst, vor dem Hintergrund der neuerlichen weltweiten Missbrauchskrise der Kirche, geriet der Vatikan in der Sache unter verschärften Druck. Nachdem Doris Wagner in der Öffentlichkeit zunächst stets anonymisiert über ihre Zeit im „Werk“ gesprochen hatte, tauchte ab November 2018 Geißlers Klarname in Presseartikeln über den Vorwurf des Beichtübergriffs auf. Im Januar 2019 reagierte der Vatikan auf die internationale Berichterstattung. Sprecher Alessandro Gisotti teilte mit, der Heilige Stuhl habe eine neuerliche Untersuchung eingeleitet. Wenig später trat Geißler als Abteilungsleiter der Glaubenskongregation zurück. Er habe weiteren Schaden von seinem Orden und seiner Behörde abwenden wollen, hieß es in einer Erklärung, die die „Tagespost“ veröffentlichte. Gleichzeitig habe Geißler darum gebeten, das bereits eingeleitete neuerliche kirchenrechtliche Verfahren gegen ihn fortzusetzen, um die Vorwürfe zu klären. Obwohl für solche Fälle eigentlich die Glaubenskongregation selbst zuständig ist, wurde das Verfahren schließlich der Apostolischen Signatur übergeben, um kein Risiko der Befangenheit einzugehen. Dieses Verfahren ist mit der Signaturentscheidung vom 15. Mai 2019 nun abgeschlossen. Eine ausführliche Urteilsbegründung wird im Laufe der nächsten Wochen erwartet.
Im Fall von Doris Wagners Vorwürfen gegen den anderen Ordenspriester des „Werks“, der sie mehrfach vergewaltigt haben soll, führten Wagners Aussagen dazu, dass der Beschuldigte Ende 2012 seinen Posten in der Kurie verlor. Er hatte im Staatssekretariat gearbeitet. Er selbst gibt an, die sexuellen Kontakte seien einvernehmlich gewesen. Neben der kirchlichen Klage hatte Wagner ihn auch bei den Staatsanwaltschaften Erfurt und Feldkirch wegen Vergewaltigung angezeigt. Die Erfurter Behörde erklärte sich für nicht zuständig und hielt außerdem den Tatbestand für nicht erfüllt. Auch die Staatsanwaltschaft Feldkirch sah nach ersten Ermittlungen keinen hinreichenden Tatverdacht. Beide Behörden erhoben keine Anklage.
Wie aus einer der „Herder Korrespondenz“ vorliegenden Stellungnahme der Staatsanwaltschaft Feldkirch innerhalb des Ermittlungsverfahrens hervorgeht (Az: 2 St 72/14k), kamen die österreichischen Ermittler zu dem Ergebnis, dass „der Beschuldigte keine Gewalt angewendet hat“. Auch ein strafbarer sexueller Missbrauch einer wehrlosen Person oder sexuelle Belästigung seien nicht erkennbar, „zumal einerseits keine Wehrlosigkeit oder psychische Beeinträchtigung des Opfers vorlag, andererseits der Beschuldigte – nach Ansicht der Sachbearbeiterin durchaus glaubwürdig und nachvollziehbar – behauptet, die sexuellen Handlungen hätten sich immer im gegenseitigen Einvernehmen abgespielt“. Der Argumentation, die autoritären Strukturen innerhalb der geistlichen Gemeinschaft hätten zur Wehrlosigkeit des mutmaßlichen Opfers führen können, folgten die Ermittler nicht: „Dass es dem Opfer untersagt war, mit Familienmitgliedern oder Freunden zu kommunizieren, dass Freundschaften und persönliche Gespräche unter den Mitgliedern des ,Werkes‘ untersagt waren, dass es eingeschüchtert und/oder verunsichert war, reicht nach Ansicht der Sachbearbeiterin im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung nicht aus, um von einer Wehrlosigkeit iSd § 205 StGB sprechen zu können.“ Doris Wagner zog gegen diese Einschätzung der Staatsanwaltschaft vor das Landesgericht Feldkirch und forderte die Fortführung des Ermittlungsverfahrens. Ihr Antrag wurde in nichtöffentlicher Sitzung abgewiesen.
Der Schutz der Gewissensfreiheit genüge „offenbar nicht den Statuten des Kirchenrechts“
Was schließlich Doris Wagners Hinweise auf autoritäre Strukturen im „Werk“ betrifft, so sah der Heilige Stuhl nach ihren Vorwürfen im Jahr 2012 Handlungsbedarf. Das „Werk“ ist vom Vatikan offiziell als geistliche Gemeinschaft anerkannt, in der Kategorie „Andere Institute des geweihten Lebens“. Diese Rechtsform ist erst wenige Jahrzehnte alt und entsprechend selten. Das „Annuario Pontificio“, das offizielle behördliche Verzeichnis des Vatikans, listet unter dieser Rubrik neben dem „Werk“ derzeit sechs weitere solcher Institute auf, darunter die Gemeinschaften „Verbum Dei“ und „Idente“. Auf Doris Wagners Hinweise hin ordnete die Kongregation für die Institute geweihten Lebens eine Apostolische Visitation „ad inquirendum et referendum“ des „Werks“ an, die zwischen 2013 und 2014 stattfand. In deren Rahmen wurden unter anderem alle Mitglieder der Gemeinschaft einzeln und vertraulich befragt. Als Ergebnis mahnte der Bevollmächtigte des Vatikans Reformen an.
Im italienischen Abschlussdekret der Kongregation (Protokoll-Nr. 53141 / 2012) vom 5. Oktober 2016, das der „Herder Korrespondenz“ vorliegt, heißt es, der „Schutz der Gewissensfreiheit, insbesondere in der Phase der Ausbildung“, genüge im „Werk“ „offenbar nicht den Statuten des Kirchenrechts“, gerade auch in Bezug auf die „Unterscheidung zwischen forum internum und forum externum“. In der für das „Werk“ charakteristischen Praxis des engen Zusammenlebens von Männer- und Frauengemeinschaften habe sich außerdem die Notwendigkeit gezeigt, „die ,living conditions‘ besser und angemessener zu regeln“.
Als Konsequenz verlangte der Heilige Stuhl die Einführung eines bislang nicht vorhandenen „Generalkapitels“ und eine „Revision“ der von der Kurie selbst 2001 und 2011 (jeweils für zehn Jahre) approbierten Konstitutionen. Dem ersten Generalkapitel, das noch im Laufe des Jahres 2019 stattfinden soll, wird der Franziskanerpater Johannes Freyer vorsitzen, der bereits die Visitation geleitet hat.