Die politische Stimmung ist angespannt. Jetzt ist Evangelischer Kirchentag in Dortmund: War es richtig, die AfD für Podien auszuschließen und somit auszuladen?
Armin Laschet: Zunächst steht es mir nicht zu, dem Evangelischen Kirchentag Ratschläge zu geben. Als Staat und Regierung müssen wir im Parlament alle politischen Parteien und Gruppen gleich behandeln. Ein Kirchentag muss aber keine Gruppierung hinzubitten, die seinen Werten grundlegend widerspricht.
Was ist denn Ihrer Meinung nach der Zweck eines Kirchentages, muss da nicht Dialog über gesellschaftliche Bruchlinien hinweg organisiert werden?
Laschet: Natürlich. Das geschieht ja auch. Aber ich kann es schon nachvollziehen, wenn der Kirchentag für sich sagt, man wolle ein politisches Zeichen setzen gegenüber einer Partei, die so vieles ablehnt, wofür Kirche steht. Der Kirchentag sieht rote Linien überschritten, wenn mit Rassismus und Antisemitismus gespielt wird. Das sollte eine selbstverständliche Haltung sein.
Ist der Kirchentag also ein Treffen von Gleichgesinnten? Wo findet denn sonst angesichts der Polarisierung eine gesellschaftliche Auseinandersetzung statt?
Laschet: In der Tat sind die Kirchen einer der wenigen gesellschaftlichen Orte, an denen sich Menschen mit völlig unterschiedlichen Hintergründen begegnen. Deshalb sollten alle Menschen, auch diejenigen, die gar nicht oder Protest wählen oder sich abgehängt fühlen, natürlich auf einem Kirchentag Angebote und Foren zur Debatte finden. Dazu braucht es aber keine Funktionäre, die gegen andere Religionen und unsere christliche Ordnung agieren und unsere Gesellschaft spalten.
Was ist die politische Antwort auf die AfD?
Laschet: Kurs halten, nicht taktisch denen nach dem Mund reden. Und Probleme lösen, statt Scheindebatten zu führen.
Eigentlich vertreten Sie ja bei vielen Fragen konservative Standpunkte, warum darf man das nicht sagen?
Laschet: Sie dürfen sagen, was Sie wollen. Wenn Sie mich fragen, für was ich politisch einstehe, dann antworte ich Ihnen: die Christdemokratie. Christlich ist nicht gleich konservativ.
Aber auch nicht das Gegenteil, oder? Man darf in der Union konservativ sein, aber es nicht so nennen?
Laschet: Hier stellt sich die Frage, was denn „konservativ“ bedeutet. Im Gründungsprogramm der CDU unter Konrad Adenauer nach dem Krieg findet sich nirgendwo das Wort konservativ. Adenauer wollte sich bewusst von den konservativen Kräften der Weimarer Republik abgrenzen. Deshalb war die Christdemokratie auch etwas Neues.
Aber er war es doch trotzdem?
Laschet: Nach heutigen Kategorien war Adenauer sicher auch konservativ, auch von seinem Habitus her, aber in der damaligen Zeit war Adenauer geradezu revolutionär. Nicht das katholische Zentrum als Partei wiederzubeleben, sondern eine Partei aus Protestanten und Katholiken zu bilden in einer Zeit, als Angehörige der beiden Konfessionen untereinander noch nicht mal heiraten konnten, war gewiss nicht konservativ, sondern etwas radikal Neues. Und für die Einheit Europas einzutreten, gegen jede Nationalisierung, war auch innovativ und revolutionär.
Sie haben die „Ehe für alle“ abgelehnt und Bluttests für Schwangere als Kassenleistung für falsch gehalten, konservative Positionen, oder?
Laschet: Diese Haltung entspringt meinem christlichen Weltbild. Meine Kirche, die Una sancta, ist auch nicht konservativ, sondern allumfassend.
Aber es geht auch um eine bewahrende Haltung, nicht nur um das Progressive, oder?
Laschet: All das gehört zur CDU, natürlich auch das Wertkonservative. Aber die Leute, die heute konservativ sagen, deuten den Begriff ja auch um. Sie meinen einen Richtungswechsel, etwa eine generell skeptischere Haltung gegenüber unseren humanitären Hilfen für Flüchtlinge. Wenn man hingegen meint, unsere konsequente Haltung in Nordrhein-Westfalen bei der Inneren Sicherheit sei konservativ, dann habe ich nichts dagegen, dass man das so nennt.
Nichts hat die politische Landschaft so zerrüttet wie die Flüchtlingsthematik. Sie würden nicht zu denen gehören, die sagen, die Grenzen müssen geöffnet werden?
Laschet: Die Grenzen in der Europäischen Union sind offen, seit 24 Jahren. Wer behauptet, dass Grenzen 2015 geöffnet worden seien, fängt schon an, ein falsches Narrativ der AfD weiterzuerzählen. Wir brauchen offene Grenzen innerhalb Europas und können die weltweite Flüchtlingskrise nicht an der deutsch-österreichischen Grenze lösen. Wir brauchen einen besseren Schutz an der Außengrenze der Europäischen Union. Außerdem bekämpfen wir illegale Migration und helfen vor Ort in den jeweiligen Herkunftsstaaten, um für die Menschen dort bessere Lebensbedingungen und Perspektiven zu schaffen.
Mit Blick auf Libyen beispielsweise bedeutet das aber: Ein stärkerer Grenzschutz verhindert, dass Menschen aus ihrer schrecklichen Lage entkommen können.
Laschet: Jedem ist klar, dass wir nicht in der Lage sind, allen Menschen auf der Welt, denen es schlecht geht, in Deutschland Zuflucht zu gewähren. Das Problem der Migration kann nur mit gesteuerten Verfahren gelöst werden. Diejenigen, die wirklich Schutz brauchen, haben Vorrang. Dazu braucht es begrenzte legale Wege, aber keine offenen Außengrenzen.
Sie waren der erste Integrationsminister in Deutschland. Sind Sie nicht vielleicht „konservativer“ geworden im Bezug auf den Islam, als sie es als Integrationsminister waren? Oder gar desillusioniert angesichts der Entwicklung?
Laschet: Keineswegs. Als ich erster Integrationsminister wurde, war es das erste Mal, dass sich der Staat mit einem Ministerium um die Integration der früheren „Gastarbeiter“ gekümmert hat. Und das, weil es Aufgaben, Gründe, die Notwendigkeit dafür gab. Die Stimmung bezüglich Integration und Dialog hat in den zurückliegenden zehn Jahren immer wieder Hochs und Tiefs erlebt.
Aber am Beispiel der DITIB zeigt sich, wie schwer die Integration sich gestaltet. Lässt sich mit der von der Türkei gesteuerten Organisation noch zusammenarbeiten?
Laschet: Dass Integration leicht wäre, habe ich nie behauptet. Wir waren 50 Jahre lang froh, dass die laizistische Türkei einen relativ grundgesetzkonformen Islam in Deutschland organisiert hat. Durch die innenpolitische Zuspitzung in der heutigen Türkei hat sich die Lage in den deutschen Moscheegemeinden so angespannt. Grund ist die Politisierung des Islam, die der heutige Präsident Recep Tayyip Erdoğan betreibt. Wir brauchen eine Konstruktion, welche die islamischen Gemeinden politisch loslöst vom türkischen Staat, ohne theologische Autoritäten auch außerhalb von Deutschland in Frage zu stellen. Die theologischen Grundlagen meiner Konfession werden auch nicht in Deutschland bestimmt. Was katholisch ist und was nicht, wird nicht in Aachen oder Düsseldorf, sondern in Rom festgelegt. Deswegen habe ich da ein gewisses Grundverständnis, auch wenn der türkische Staat etwas anderes ist als der Heilige Stuhl als Völkerrechtssubjekt. Derzeit ruht die Zusammenarbeit mit der DITIB, erste Gespräche beginnen wieder. Die einzelnen Gemeinden verhalten sich dabei sehr verschieden.
Wird die CDU mit der neuen Vorsitzenden Annegret Kramp-Karrenbauer, mit Wirtschaftsfachmann Friedrich Merz und NRW-Landeschef Armin Laschet katholischer?
Laschet: Formal wird sie durch diese Personen schon katholischer, aber es ist eher eine zufällige Entwicklung. Das Konfessionelle ist keine wirkliche Kategorie im Politischen mehr, auch wenn die jeweilige Konfession für viele Menschen durchaus noch prägend ist.
Neulich haben Sie gepredigt und gesagt: Die christliche Botschaft sei das Beste, was man der Gesellschaft anbieten könne. „Ich kenne keine bessere Botschaft.“ Mit solchen Sätzen gewinnt man aber keine Wahlen mehr?
Laschet: Ich bin davon überzeugt. Wir müssen die christliche Botschaft heute vielleicht mehr erklären als früher, dann leuchtet sie vielen ein. Nächstenliebe, gerechte Welt, Bewahrung der Schöpfung, das befürworten auch heute noch die meisten Menschen, sie identifizieren es nur nicht mehr direkt mit der christlichen Botschaft. Deswegen bleibe ich dabei, von allen Ideen, Ideologien und religiösen Vorstellungen auf der Welt ist die ernst genommene christliche Botschaft das Beste, was ich kenne.
Warum scheint das Christentum aber doch immer mehr Menschen in Deutschland so unattraktiv zu sein?
Laschet: Zunächst bin ich davon überzeugt, dass es nicht daran liegt, ob die Botschaft streng oder weniger streng ausgelegt wird. In den Achtzigerjahren haben wir diskutiert, ob die zu strenge Auslegung der Gebote mit schuld an der Kirchenkrise ist. Wenn ich mir heute anschaue, welche kirchlichen Gruppierungen den größten Zulauf haben, sind es oft die vermeintlich strengsten. Warum mehr Menschen aber allgemein das Christentum unattraktiv erscheint, ist mir letztlich auch ein Rätsel.
Beim Abriss des imposanten Immerather Doms für den Braunkohletagebau gab es kaum Widerstand, die drohende Rodung des Hambacher Forsts hat eine emotionalisierte Massenbewegung ausgelöst. Klimaschutz als Religionsersatz?
Laschet: Ich würde mir wünschen, dass wir die Debatte um den Klimaschutz sachlich führen – und ökologische Interessen, ökonomische Notwendigkeiten und geltendes Recht miteinander verbinden und nicht gegeneinander ausspielen. Wenn wir die Lebensgrundlage kommender Generationen irreversibel schädigen oder zerstören, dann gibt es allen Grund, alarmiert zu sein. Das zeigt sich etwa bei den Jugendlichen von „Fridays for future“. Engagement ist gut und wichtig. Manche emotionale Überhöhung irritiert mich aber durchaus.
Manchmal würden Sie mit Ihrer eigenen katholischen Kirche hadern, sagen Sie. Was beschäftigt Sie besonders?
Laschet: Das habe ich mal vor einiger Zeit gesagt. Aktuell hadere ich aber nicht mit meiner Kirche.
Und die Missbrauchskrise?
Laschet: Das sind schreckliche Fälle und abscheuliche Dinge, die ich aber nicht alleine jenen, die heute die Kirche führen, auf jeder Ebene anlasten würde. Viele Fälle, die jetzt öffentlich werden, sind zehn, zwanzig oder noch mehr Jahre her. Ich halte es für überzogen, jetzt aktuell von einer Systemkrise zu sprechen. Sexueller Missbrauch ist ein gesamtgesellschaftliches Problem, auch in anderen Bereichen etwa, im Sport, im Ehrenamt, in Internaten. Aus den Jugendämtern wissen wir von dramatischen Fällen. Die Kirche übernimmt hier in der gesellschaftlichen Debatte eine gewisse Stellvertreterfunktion, zudem ist der moralische Anspruch bei Kirche und ihren Vertretern auch noch mal höher. Verfehlungen fallen besonders schwer ins Gewicht. Die Kirche muss sich dem stellen.
Ist Papst Franziskus zu zögerlich, was Reformanstrengungen angeht?
Laschet: Was Papst Franziskus sich vorgenommen hat, ist extrem anspruchsvoll. Ich meine nicht, dass er zu zögerlich ist, etwa bei Veränderungen. Es gibt extreme Gegenbewegungen schon bei kleinen Dingen, die er unternimmt. Ich glaube, dass Papst Franziskus eine sehr positive Wirkung in der Welt hat und auch nach innen schwierige Vorhaben anfasst. Mein persönlicher Eindruck aus meiner Begegnung mit ihm ist, dass er sehr zugewandt ist, gut vorbereitet und auf Argumente sehr konkret eingeht.
Welche Konsequenzen müssen aus der gegenwärtigen Krise der Kirche gezogen werden? Zölibat? Frauenpriestertum?
Laschet: Wir müssen über alles nachdenken, bei dem es gute Argumente für Veränderung gibt. Wenn ich aber auf die evangelische Kirche schaue, stelle ich fest, dass sie die gleichen Nachwuchsprobleme hat. Die Evangelische Kirche ist ja nicht durch das Frauenpriestertum automatisch attraktiver. Ich kenne manche Theologen, die gute Priester geworden wären, die der Zölibat aber davon abgehalten hat. Da ist früher viel Nachwuchs verloren gegangen. Ob das heute noch so ist, dass die verpflichtende Ehelosigkeit den Nachwuchsmangel begründet, bezweifle ich.
Der Präsident des Evangelischen Kirchentags hat beklagt, dass die katholische Kirche sich immer noch einer gründlichen Aufklärung der Missbrauchskrise verweigert. Teilen Sie die Kritik?
Laschet: Die Kritik teile ich in der Form nicht. Ich finde, die Kirche kümmert sich intensiv um die Aufklärung der Missbrauchskrise. Sie reagiert heute schnell und professionell, wie aktuelle Fälle zeigen, wo sie auch bei Wahrung der Unschuldsvermutung tätig wird. Das ist schon sehr konsequent. Mich hat neulich ein Interview mit dem Wiener Erzbischof Christoph Kardinal Schönborn beeindruckt, das war sensationell stark, da er genau die richtige Sprache gefunden und den richtigen Ton getroffen hat.
Unter den Bischöfen in Deutschland herrscht eine gewisse Uneinigkeit über den Kurs. Wie kann man zu Einigkeit zurückfinden, haben Sie da Tipps als Unionspolitiker?
Laschet: Nach dem Streitjahr 2018 haben wir als CDU und CSU in diesem Punkt sicher keine Ratschläge zu geben. Aber ich glaube, die Uneinigkeit in der Kirchenführung wird in der breiten Bevölkerung so gar nicht mehr wahrgenommen. Früher wurden solche innerkirchlichen Themen auch in der Gesellschaft stärker diskutiert, das ist größtenteils verschwunden. Es ist leider so, dass vielen Menschen inzwischen egal ist, worüber die Bischöfe streiten.
Christen sind in Nordrhein-Westfalen fast in einer Minderheit mit 49-Prozent-Anteil an der Bevölkerung. Wo merken Sie als Politiker diese dramatische Entwicklung der Entkirchlichung?
Laschet: Ganz so dramatisch kann ich als Politiker die Entwicklung nicht beobachten. Zwei Drittel der Menschen in Nordrhein-Westfalen gehören nach wie vor einer christlichen Kirche an. Sicher hat sich seit den 1950er Jahren einiges verändert, aber der bedeutende Anteil der Christen in der Bevölkerung spiegelt sich auch in den gesellschaftlichen Strukturen wider: 60 Prozent unserer Kindertagesstätten sind heute immer noch in kirchlicher Trägerschaft – und die Menschen wollen dies offenbar auch so. Auch unsere Krankenhauslandschaft wäre so ohne die katholische und die evangelische Kirche nicht denkbar. Das zeigt, dass die Kirchen im gesellschaftlichen Leben nach wie vor eine starke Rolle spielen.
Ist das eine gute Situation?
Laschet: Ich zumindest befürworte die starke Präsenz der Kirchen, denn damit ist natürlich auch die Hoffnung verbunden, dass die christliche Botschaft für mehr Menschen anziehend und attraktiv ist.
Warum wünschen Sie sich das?
Laschet: Ich halte es für fundamental, dass Kinder in ihrem Leben mit Religion in Berührung kommen können. Es ist auch wichtig, dass Menschen die Praxis des Christentums und die Grundfakten dieser uns so prägenden Religion kennenlernen können.
Warum ist das dem Ministerpräsidenten Laschet wichtig?
Laschet: Zunächst weiß ich um meine Erfahrung, wann mir die Glaubensüberzeugung geholfen hat. Die Botschaft der Religionen ist meiner Ansicht nach eine zentrale für unsere Demokratie und für unsere Gesellschaft. Sie besagt: Das Handeln des Menschen ist immer beschränkt und fehlerhaft. Die Religionen bieten eine Medizin gegen Ideologie an, die sich selbst überhöht und das Himmelreich auf Erden schaffen will. Dieser Perspektivwechsel des Gottesbezugs, der seit 70 Jahren im Grundgesetz steht, ist unschätzbar wertvoll, auch für jene, die nicht unbedingt gläubig sind. Es tut der Gesellschaft gut, wenn Menschen sich aus dieser christlichen Motivation heraus einbringen.