Ein Plädoyer für eine Renaissance der Beichte in der evangelischen KircheViva la Absolution

Viele evangelische Christen halten die Beichte für ein konfessionsunterscheidendes Merkmal. Dabei gehört das Eingestehen von Schuld zum Menschsein dazu, und Luther persönlich empfahl es dringend. Es lohnt sich, dieses Vermächtnis freizulegen.

Menschen beichten bei einem Priester im Beichtstuhl.
© KNA

Der mit elf Oscars ausgezeichnete Film „Titanic“ von 1997 endet mit folgenden Worten der geretteten Titelheldin: „1500 Menschen stürzten in die See, als die Titanic unter uns versank. Zwanzig Boote trieben in nächster Nähe umher. Aber nur eins ist umgekehrt. Nur eins. Sechs wurden aus dem Wasser gerettet. Mich eingeschlossen. Sechs von 1500. Danach brauchten die 700 Menschen in den Booten nichts anderes zu tun als zu warten: warten auf den Tod, auf das Weiterleben. Warten auf eine Absolution, die aber nie erteilt wurde.“ Offensichtlich bewegt die Frage nach Schuld und Vergebung auch die moderne säkulare Gesellschaft.

Jahrzehntelang wurde die Schuld aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt: Man denke nur an die Waschmittelreklame der Sechzigerjahre, in der Hausfrauen aufgrund des Gebrauchs des richtigen Waschmittels ein gutes Gewissen verheißen wurde. Seit einigen Jahren zeichnet sich jedoch eine Veränderung der gesellschaftlichen Gemütslage ab: Im Gefolge des Scheiterns der modernen Utopien von einer neuen Gesellschaft und einem neuen Menschen ist die Rede von Schuld und Versagen in den öffentlichen Raum zurückgekehrt. Ja, es ist geradezu modern geworden, in der Öffentlichkeit Schuld zu bekennen: und zwar individuelle und kollektive gleichermaßen.

Das Thema Schuld und Entlastung, das ursprünglich im Raum der Religion beheimatet war, wird an säkularen Orten aufgegriffen und thematisiert. Aber auch in der evangelischen Theologie und Kirche scheint sich neues Interesse an der Beichte zu regen. Sie ist an manchen Orten zum heimlichen Modethema avanciert. Es gibt offensichtlich sowohl bei einzelnen Menschen als auch bei ganzen Gesellschaften die tiefe Sehnsucht nach Entlastung und Entschuldigung, nach der Chance eines Neuanfangs.

Das Ziel der folgenden Überlegungen besteht darin, zu zeigen, dass im Bekennen von Schuld und Versagen vor Gott eine Lebenskraft verborgen liegt, die heute weithin unbekannt ist und deshalb ungenutzt bleibt. Ansatzpunkt ist dabei die Überzeugung, dass Schuldbekenntnis und Vergebungszusage Zeichen menschlicher Würde darstellen. Schuldig zu werden, gehört zum Menschsein. Niemand kann dem entgehen. Ich nehme mein Leben ernst, indem ich meine Schuld eingestehe. Schuld zu leugnen, zu bagatellisieren oder zu verdrängen, bedeutet demgegenüber eine Missachtung meines Menschseins.

Das Sündersein darf – anders als eine jahrhundertelange Tradition der Beichte es suggerierte – nicht länger als Ausdruck einer kleinmachenden und entmündigenden Erfahrung missverstanden werden. Vielmehr muss es als heilsam rettende Erfahrung begriffen werden. Das Stehen zu meinem Sündersein in der Beichte ermöglicht mir die Einkehr in eine Selbstbegrenzung, die mir letztlich zugutekommt.

Wo evangelische Christen beichten

Die Einzelbeichte wird im evangelischen Raum gegenwärtig kaum wahrgenommen – am ehesten noch in Kommunitäten wie Taizé und auf Kirchentagen. Vielen evangelischen Christen ist sie nicht einmal bekannt, ja, sie wird von vielen als konfessionsunterscheidendes Merkmal missverstanden. Es war deshalb ungewöhnlich, dass ich am Anfang meines Theologiestudiums die Beichte kennenlernte. Ein älterer lutherischer Pfarrer weckte in mir den Wunsch nach Seelsorge und Beichte. Ich hatte beobachtet, dass die unterschiedlichsten Menschen kamen, um bei ihm zu beichten. Mit einer liturgisch geprägten Beichte, zu der der Zuspruch der Vergebung unter Handauflegung gehörte, begann meine persönliche Geschichte mit der Beichte.

Dass die christliche Rede von Sünde, Schuld und Vergebung den Menschen zu entlasten vermag und ihm gleichzeitig seine Verantwortlichkeit zurückgibt und so zur Stärkung seines Selbstwertgefühls beiträgt, wird nicht von heute auf morgen im öffentlichen Bewusstsein Eingang finden. Theologie und Kirche haben die Rede von Sünde und Schuld zu lange dazu missbraucht, Menschen in Angst und Abhängigkeit zu halten. Um hier ein neues Bewusstsein zu fördern, sind aufseiten von Theologie und Kirche Fantasie und Beharrlichkeit gefragt.

Schon in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind einzelne Gruppen in der evangelischen Kirche zu der Überzeugung gelangt, dass ihr mit dem Verlust der Einzelbeichte eine wesentliche Lebensäußerung verloren gegangen ist. In der 1931 gegründeten evangelischen Michaelsbruderschaft, zu der neben Theologen auch Laien gehörten, und in der weniger bekannten Sydower Bruderschaft wurde die persönliche Beichte als Erstes wiederentdeckt.

Auch Dietrich Bonhoeffer gehört zu den Pionieren der evangelischen Beichte im vergangenen Jahrhundert. Das Neue seines Ansatzes gegenüber den genannten Bruderschaften bestand darin, dass es ihm darum ging, die Beichte für die gesamte Kirche wiederzugewinnen, und dass er sie nicht nur als Angelegenheit einer mehr oder weniger privaten Bewegung betrachtet wissen wollte. Als Direktor eines Predigerseminars der Bekennenden Kirche und als Leiter des damit verbundenen Bruderhauses in Finkenwalde bei Stettin (1935–1937) ermunterte Bonhoeffer die Vikare zur persönlichen Beichte untereinander und beichtete selber bei einem von ihnen. Schriftliches Zeugnis dieser Bemühungen ist sein Buch „Gemeinsames Leben“. Neben Bonhoeffer haben damals auch andere Vertreter der Bekennenden Kirche wie Hans Asmussen die Beichte wiederentdeckt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich diese Ansätze noch verstärkt. Vor allem die lutherischen Landeskirchen in Deutschland versuchten, durch ihre Ordnungen die Einzelbeichte wieder zu beleben. Auch der damals gegründete Deutsche Evangelische Kirchentag hatte an dieser Entwicklung maßgeblichen Anteil. Eines der Themen des Frankfurter Kirchentages von 1956 lautete: „Evangelische beichten“. Aus den Kirchentagsprotokollen der Nachkriegszeit wird ersichtlich, dass viele Kriegsheimkehrer damals die Möglichkeit zur persönlichen Beichte genutzt haben.

Heute sind neben den Kirchentagen vor allem die verschiedenen, seit dem Zweiten Weltkrieg entstandenen evangelischen Kommunitäten Orte, an denen die Einzelbeichte angeboten und von einer größeren Anzahl evangelischer Christen praktiziert wird. In Taizé fällt nach dem Abendgebet auf, dass sich in der großen Kirche junge Menschen in langen Schlangen bei einzelnen Taizé-Brüdern zu Aussprache und Beichte anstellen. Während meiner Tätigkeit als Pfarrer einer evangelischen Kommunität konnte ich auch selbst vielfältige Praxiserfahrungen machen, sowohl als Beichtender als auch als Beichthörer. Aus dieser Zeit weiß ich, dass eine Reihe von Freunden und Tagungsgästen regelmäßig bei einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft beichteten.

Martin Luther lehnte mit den übrigen Reformatoren nicht die Beichte als solche ab, sondern die in seinen Augen falsche Beichtpraxis der damaligen römisch-katholischen Kirche. Aus dem gnädigen Angebot Gottes war ein Zwangsinstrument zur Knechtung der Gewissen geworden. Durch seine Beichtreform wollte Luther, dass sie wieder zu einem freiwillig gebrauchten Hilfsmittel auf dem Weg der Nachfolge Jesu Christi wurde.

Beichten ohne Angst

Luther hat immer wieder in seinen Schriften auf den großen Nutzen der Einzelbeichte hingewiesen. Eine Art Kompendium seiner Beichtauffassung liegt im Kleinen Katechismus vor. Zunächst wird die Beichte darin in großartiger Weise auf ihre beiden wesentlichen Stücke beschränkt: Es geht in ihr allein um das Bekenntnis der Sünde und um die Absolution. „Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: eins, dass man die Sünde bekenne, das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger empfange als von Gott selbst ...“ Damit ist die ganze mittelalterliche Verknüpfung der Beichte mit einer Fülle von Bußleistungen vom Tisch.

Weiter weist Luther darauf hin, dass nur bewusste Sünden bekannt werden müssen. Damit ist die Forderung nach vollständiger Aufzählung aller begangenen Sünden überwunden. Dieser Hinweis ist deshalb so wichtig, weil bis dahin die Wirksamkeit der Absolution von der Vollständigkeit der Aufzählung abhängig war, man also nie sicher sein konnte, ob die Vergebung auch gültig war.

Die Beichte wird durch die neuen Einsichten Luthers von Ängstlichkeit befreit. Dass sie dem Menschen ein befreites Gewissen schenken will, muss sich widerspiegeln in der Art, wie in ihr Schuld bekannt wird. Darum sollen nur konkrete Sünden gebeichtet werden. Es soll auch nicht nach Sünden gesucht werden; der Beichtende ist frei von der ängstlichen Fixierung auf vielleicht zusätzlich begangene, aber in Vergessenheit geratene oder unbewusst gebliebene Sünden. „Wenn aber jemand sich nicht befindet beschweret mit solcher oder größeren Sünden [die Luther zuvor aufgezählt hat], der soll nicht sorgen oder weiter Sünde suchen noch erdichten und damit eine Marter aus der Beicht machen, sondern erzähle eine oder zwo, die du weißt.“

Die Beichte ist Zuspruch des Evangeliums, der frohen Botschaft. Genauso wenig, wie ein Mensch zur Annahme des Evangeliums gezwungen werden kann, darf er deswegen mit Zwangsmitteln zum Gebrauch der Beichte gebracht werden. „Man soll wohl dazu reizen, aber nit treiben, man soll dazu locken, aber nit zwingen. Man soll die Leute darin bestärken, aber man soll nit drohen und schrecken mit der Beicht. Frei, willig und gern soll man beichten. Kann man das nit tun, so lasse man das Treiben ausstehen.“ Luther macht die Beichte und damit die Seelsorge insgesamt zu einer freiwilligen Angelegenheit. Hinter diesen revolutionären Schritt ist er nicht wieder zurückgefallen, auch dann nicht, als er merkte, dass die evangelisch gewordenen Gemeindeglieder die Freiheit zur Beichte als Freiheit von der Beichte missverstanden.

Ein vergessenes Mittel zur Selbstwerdung des Menschen

Offensichtlich kann kein Mensch leben, ohne von Zeit zu Zeit Entlastung von Schuld und Versagen zu erfahren: Ohne Aussprache, Annahme und Entlastung keine seelische Gesundheit! Das belegen nicht nur Talkshows mit ihren Geständnissen vor Millionen, sondern auch die überfüllten Praxen von Therapeuten der unterschiedlichsten Schulen. „Ein Katholik hat die Beichte … Ich habe bloß meinen Hund,“ schrieb der aus der reformierten Kirche stammende Max Frisch in seinem Roman „Mein Name sei Gantenbein“.

An die Stelle der Beichte ist inzwischen nicht allein beim säkularen Protestanten, sondern auch beim Katholiken der Besuch des Therapeuten oder der diakonischen Beraterin getreten. Diese gelten als die kompetenteren Gesprächspartner: Von ihnen wird eher als von Seelsorgern erwartet, dass sie aufgrund ihrer Ausbildung vorurteilsfrei zuhören können und die komplizierten Reaktionsmechanismen der menschlichen Seele zu enträtseln vermögen.

Dennoch scheint die Therapie Menschen nicht zu genügen. Obwohl die Beichte sogar von einem prominenten Vertreter der kirchlichen Seelsorge in den Siebzigerjahren totgesagt wurde, erlebt sie seit einiger Zeit eine Renaissance. Joachim Scharfenberg (1927–1996) erklärte die Beichte aus psychologischen und soziologischen Gründen für überholt. Er war der Meinung, dass sie in einer freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft nicht länger funktioniere. Die Art und Weise, wie in ihr – seiner Meinung nach – Schuld auf fraglos anerkannte Autoritäten wie die Pfarrer übertragen würde, habe sich überlebt. Stattdessen müsse es in der Seelsorge in Zukunft darum gehen, die Probleme der Seelsorgesuchenden im Gespräch zu bearbeiten mit dem Ziel, deren Selbstheilungskräfte freizusetzen und auf diese Weise ein Leben in Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen.

Im Gegensatz zu Scharfenbergs Prognose finden heute Bücher zum Thema Beichte auch außerhalb von Kirche und Theologie in den säkularen Medien Resonanz. Immer wieder werden Diskussionssendungen über den Umgang mit Schuld und Versagen im Radio ausgestrahlt. Der christliche Beitrag zur Frage nach der Entlastung von Schuld ist wieder gefragt. Während Therapien die Hintergründe von Schuld und Schuldgefühlen analysieren und so verstehen helfen, geht es in der Beichte darum, dass Menschen Vergebung ihrer Schuld erfahren. Die Beichte eröffnet einen Weg, auch dann mit Schuld und Versagen fertig zu werden, wenn sie nicht wieder gutgemacht werden können.

Dabei wirkt sich die Beichte mindestens in dreifacher Weise positiv auf die seelische Gesundheit aus. Untersuchungen über die Häufigkeit psychosomatischer Erkrankungen legen nahe, dass Christen, die regelmäßig die persönliche Beichte in Anspruch nehmen und sich aktiv am Gemeindeleben beteiligen, weniger seelisch erkranken als andere. Der Schweizer Arzt und Psychotherapeut Paul Tournier meinte schon vor vielen Jahren, dass Beichte und Umkehr auf dem Weg zu seelischer Gesundheit die wichtigsten Schritte seien.

Durch die Möglichkeit, Schuld einzugestehen, gibt die Beichte dem Menschen erstens seine Verantwortlichkeit zurück. Das führt zur Stärkung des Selbstwertgefühls. Schuldbekenntnis und Vergebungszusage stellen Zeichen menschlicher Würde dar, weil Schuldigwerden wesentlich zum Humanum gehört.

Das Bekenntnis zum eigenen schuldhaften Handeln führt psychologisch gesprochen zur Integration verdrängter Persönlichkeitsanteile, stellt mithin einen Akt der Reife dar. Die Beichte vermag auf diese Weise, Menschen „Mut zum Selbst“ zu machen, wie es in der Seelsorgebewegung früher formuliert worden ist. Indem Seelsorge und Beichte einen geschützten Raum bieten, in dem Nöte, Probleme und belastende Emotionen ausgesprochen werden können, kann sich die Persönlichkeit der Ratsuchenden entfalten und weiterentwickeln. Seelsorge und Beichte können in einer Zeit, in der soziale Kontakte und damit die Möglichkeiten zu einem „existentiellen Gespräch“ im Abnehmen begriffen sind, in ihrer Bedeutung für die Persönlichkeitsentwicklung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Zweiter Punkt: Der Zuspruch der Vergebung in der Beichte besitzt einen kathartischen Effekt – auch das eine wichtige Hilfe auf dem Weg zu seelischer Gesundheit. Viele Menschen leiden darunter, dass sie selbst und die Welt um sie herum nicht so sind, wie sie sein sollten. Sie erkennen, dass sie hinter den Ansprüchen an sich selbst zurückbleiben und ein unheilvoller Riss durch die gesellschaftlichen Verhältnisse geht. Gleichzeitig ist in den vergangenen 300 Jahren das Angebot des Evangeliums, dass Gott bereit ist, um Jesu Christi willen Menschen die Sünden zu vergeben, mehr und mehr in Vergessenheit geraten oder für unzeitgemäß erklärt worden.

Beides – die Erkenntnis des persönlichen und des gesellschaftlichen Fehlverhaltens bei gleichzeitiger Verdrängung des vergebungsbereiten Gottes aus dem öffentlichen Bewusstsein – hat nach Überzeugung des Philosophen Odo Marquard den neuzeitlichen Menschen in eine prekäre Lage gebracht. Er muss mit seiner Schuld und Schuldverflochtenheit selber fertig werden und findet sich als Konsequenz in einer „Übertribunalisierung“ seiner Lebenswirklichkeit vor. Der Mensch gerät „als wegen der Übel der Welt absolut Angeklagter ‒ vor einem Dauertribunal, dessen Ankläger und Richter der Mensch selber ist ‒ unter absoluten Rechtfertigungsdruck, unter absoluten Legitimationsdruck, unter absoluten Legitimationszwang“. Weil er die Entlastung durch die göttliche Vergebung nicht mehr kennt, ist er selbstverantwortlich für alles, was im persönlichen und gesellschaftlichen Leben misslingt. Die Beichte stellt angesichts dieser Situation einen Weg zu innerer Entlastung dar.

Und schließlich ein Drittes: Die Beichte bietet die Chance, dem Menschen zur Selbstvergewisserung durch heilsame Selbstbegrenzung zu verhelfen. Angesichts zunehmender Veraltungsgeschwindigkeiten und Ausdifferenzierung ist heute jeder Mensch gezwungen, eine Patchwork-Identität zu entwickeln, die dem rasanten gesellschaftlichen Wandel Rechnung trägt und aus verschiedenen möglichen Lebensmustern zusammengesetzt wird. Mit der Multioptionsvielfalt geht die Angst einher, etwas zu verpassen, die sich in der Scheu vor Selbstfestlegungen auswirkt.

Die Konsequenz ist eine häufig zu beobachtende Überanstrengung des Subjekts, das sich ständig selbst neu definieren muss. In dieser Situation geht es darum, Menschen zur Selbstvergewisserung durch „Selbstbegrenzung“ und „Selbstverendlichung“ zu verhelfen. Rolf Schieder hat festgestellt: „Die postmoderne Gesellschaft provoziert durch die Illusion, dass man immer unendlich viele Möglichkeiten habe, beim Einzelnen das Gefühl: ‚Ich darf nicht am Ende sein!‘ – Eben dies als gesellschaftlichen Zwang zu entlarven, vermag ein Seelsorger dann, wenn er diesen letzten Schritt der Selbstverendlichung mitgehen kann: Du darfst am Ende sein – ich will das mit Dir aushalten!“

Dabei bildet der christliche Glaube die inhaltlich-theologische Ermöglichung von „Selbstbegrenzung“ und „Selbstverendlichung“. Gott sieht mich in Jesus Christus ohne Vorleistungen gnädig an. Dass mir meine Gerechtigkeit von außen, als fremde Gerechtigkeit zugeeignet wird, ist nicht Ausdruck einer klein machenden Erfahrung, sondern einer heilsam rettenden Erfahrung. Die Beichte wahrt den Unterschied zwischen Schöpfer und Geschöpf. Ich muss nicht mehr sein, als ich vor Gott und Menschen bin: ein heilsam begrenzter Mensch. In einem Brief hielt Martin Luther fest: „Wir sollen Mensch und nicht Gott sein. Das ist die Summa.“

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