Sie haben sich in einem Reportage-Band mit der Welt des Rotlichts beschäftigt. Warum?
Nora Bossong: Mich hat interessiert, was allein dieses Wort „Rotlicht“ für Imaginationsräume eröffnet, was für eine Faszination das noch hat – irgendwas zwischen Blauem Engel, Belle de Jour und der Ernüchterung, die darauf folgt. Außerdem habe ich mich für die Frage nach Gewalt und Hierarchien interessiert. Wieso bleibt so etwas bestehen, trotz des Leidensdruckes jener, die davon nicht profitieren, wieso wird so etwas weiter hingenommen? Ich musste für die Recherche immer wieder über meine Grenzen gehen, und auch, wenn ich noch immer der Meinung bin, dass man für Literatur weit gehen sollte, und sie erst anfängt, wenn man sich ihr ausliefert, bin ich mir nicht sicher, ob ich hier nicht ein Stück zu weit gegangen bin. Natürlich wollte ich auch fragen, ob es sozusagen positive Möglichkeiten der Prostitution gibt, ob sich also Sex und Geld auf eine würdige Art miteinander verbinden können.
Und, können sie es?
Bossong: Ich kann nur über das sprechen, was ich beobachtet habe in der Zeit meiner Recherche, und die Situation auf dem Straßenstrich oder in Laufhäusern, wo ich mit Frauen sprach, mag eine andere sein als im Edel-Escort-Bereich. Dort, wo ich mich umsah, erlebte ich immer wieder ein großes Machtgefälle, das ausgenutzt wurde. Was ich zudem mitbekommen habe, ist, dass einige Herren davon ausgehen, sie hätten ein Menschenrecht darauf, den Körper eines oder meist einer anderen zu besitzen, um sich daran selbst zu befriedigen – ein Recht, das im Übrigen Frauen nicht zusteht. Daraus spricht natürlich ein furchtbares Menschenbild.
In Ihrem Buch gibt es ein Zitat von Susan Sonntag aus dem Jahr 1967: „Die Sexualität, mag sie auch gezähmt sein, bleibt dennoch eine der dämonischen Mächte im menschlichen Bewusstsein, die immer wieder verbotene und gefährliche Wünsche in uns weckt, vom Verlangen, einem anderen Menschen willkürlich Gewalt anzutun, bis zu der wollüstigen Vorstellung der Auslöschung des eigenen Bewusstseins.“ Ist das so, ist Sexualität eine „dämonische Macht“?
Bossong: Wahrscheinlich. Sie mag domestiziert sein, aber sie ist doch der Bereich, wo wir eine im Alltag hinter Normen verborgene Seite von uns spüren, die mitunter auch dunkel sein kann. Es ist zugleich der Bereich, wo wir am verletzlichsten sind. Nicht umsonst wird Sexualität auch als Vergeltung genutzt. Die Massenvergewaltigungen von Frauen im Krieg sind ein Mittel der vollständigen Erniedrigung. Hier soll die Rache am absolutesten geübt werden. Aber natürlich ist nicht nur das Zerstörerische, sondern auch das Schöne gerade in der Sexualität zu finden.
Ein Jahr nachdem Susan Sonntag das geschrieben hat, im Jahr 1968, hat Papst Paul VI. gesagt, man dürfe bei der Sexualität die Aspekte der „liebenden Vereinigung“ und der „Fortpflanzung“ nicht voneinander trennen. In Ihrem Buch taucht Sex aber bemerkenswerterweise weder als „liebende Vereinigung“ noch als „Fortpflanzung“ auf. In diesem Sinne ist das, was sie in ihrem Buch beschreiben, eigentlich gar kein Sex.
Bossong: Sagen wir: Es ist sozusagen ein absolut entkleideter, nackter Sex. Bei Paul VI. sollte man eins nicht übersehen: So selbstverständlich es uns heute scheint, war der Aspekt der „liebenden Vereinigung“ als Sinngehalt der Sexualität für die kirchliche Lehre damals neu. Ich habe in meinem Buch übrigens auch aus der Enzyklika „Deus Caritas est“ von Benedikt XVI. zitiert. Als ich das schrieb, konnte ich den Aussagen noch eher folgen. Das hat sich seitdem geändert.
Warum?
Bossong: Zum einen wegen des aktuellen Missbrauchsskandals, der nicht nur für sich erschreckend ist, sondern mir auch in der Aufklärung bei weitem nicht ehrlich genug ist. Da fällt es mir wirklich schwer, die Kirche als Autorität in Fragen der Sexualität anzuerkennen. Zum anderen, weil ich auch die Heuchelei von Menschen erlebt habe, die ihre Ehe zu schützen vorgeben, aber eigentlich nur auf Kosten anderer eine Kulisse aufrecht erhalten.
In Ihrem Buch gibt es eine Passage, wo Ihnen in einem Hamburger Laufhaus das Wort „eingebetet“ in den Sinn kommt. Sie haben damals auch an einer Reportage über Frauenklöster gearbeitet und erinnern sich daran, dass eine Nonne zu Ihnen meinte, die Klostermauern seien „eingebetet“. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?
Bossong: Man soll den Vergleich nicht überspannen, aber es geht in beiden Fällen um Frauen, die aus der klassischen Gesellschaftsform der Ehe heraustreten, entweder als Hure oder als Heilige. Sie werden versteckt oder verbergen sich. Sie leben damit jenseits der Norm – und das übt auf die Umwelt auch einen gewissen Reiz aus.
Was hat Sie am Ordensleben interessiert?
Bossong: Die Entweltlichung. Das ist etwas, was mir als Schriftstellerin durchaus nahegeht, dieser Wunsch des Rückzugs.
Was ist an Entweltlichung reizvoll?
Bossong: Die Welt ist ja nicht immer ein besonders erfreulicher Ort. Wenn man wie ich viel reist, auch in Regionen, die keine Urlaubs-, sondern Krisengebiete sind, dann ist man oft erschüttert von dem Ausmaß an Zerstörung und Leiden, das wir Menschen hervorzubringen imstande sind. Im April bin ich nach Ruanda gereist, wo ich eine Woche lang an den staatlich organisierten Gedenkveranstaltungen zum 25. Jahrestag des Völkermords an den Tutsi teilgenommen habe. Eine Woche lang habe ich kaum etwas anderes gesehen als die Relikte der Gräueltaten, die Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind. In Nyamata habe ich eine Kirche besucht, in die sich damals viele Menschen geflüchtet haben im Glauben, dort Schutz zu finden. Doch die Kirche wurde für sie zur Falle, ihre Verfolger haben sie im Inneren hingerichtet. In solchen Momenten ist es äußerst schwer, optimistisch zu bleiben oder an so etwas wie Trost oder Hoffnung festzuhalten. Entweltlichung wäre darum vielleicht die Möglichkeit, dass im Glauben oder, aufs Literarische gewendet, in der Imagination, durch den zeitweiligen Rückzug ins Geistige, der Irrsinn aushaltbarer wird, man zur Hoffnung zurückfindet.
Was war der Anlass dieser Reise?
Für meinen neuen Roman bin ich bin Ruanda und Burundi gewesen und dort war ich mit der Frage konfrontiert, wie Vergebung überhaupt möglich ist, wenn etwas so unfassbar Schreckliches geschehen ist wie ein Genozid. Ich begleite in dem Buch eine junge Frau, die in Burundi die Wahrheitskommission voranbringen soll, jene Institution der Aufarbeitung, die erstmals unter Nelson Mandela und Desmond Tutu in Südafrika die Gesellschaft zusammenführen sollte, obwohl die Erinnerungen an Erniedrigung und Unterdrückung schwere Gräben hinterlassen hatten. Burundi hat, ähnlich wie sein Nachbarland Ruanda, einen Völkermord Anfang der Neunzigerjahre erlebt, und ähnlich wie in Ruanda ist das Land so klein, dass Täter und Opfer dicht beieinander leben. Natürlich muss man verhindern, dass die Gewaltspirale weitergeht, dass der Schrecken neue Rache nach sich zieht, aber wie soll das möglich sein, wenn eine Frau mit angesehen hat, wie ihre Kinder ermordet werden? Wie soll sie vergeben können? Vielleicht kann man es nur so verstehen, wie Derrida es über die Vergebung schrieb: dass dieses Wort überhaupt erst dann seinen Sinn hat, wenn es um das Nichtverzeihliche geht.
Sie beschreiben das Chorgebet im Kloster in Ihrer „Zeit“-Reportage „Hilft Beten doch noch?“ mit den Worten Romano Guardinis als „zweckfrei, aber voll tiefen Sinns“. Können Sie das noch so erleben?
Bossong: Die Rituale, die Schönheit, dieses Spielen, wie es nur Kinder und Engel können, wie Guardini es ausdrückt, das ist für mich eigentlich gerade das Moment, aus dem ich Hoffnung schöpfen kann, weil es eine gewisse Reinheit bewahrt hat.
In Ihrem jüngsten Gedichtband, „Kreuzzug mit Hund“, schreiben Sie an einer Stelle: „verstohlen schlug ich Kreuz“. Demonstrativ und mit großer Geste das Kreuz schlagen, war das schon immer nicht so Ihre Art?
Bossong: Das mag aber an dieser Verbindung aus meiner protestantischen Sozialisation und meiner katholischen Religionszugehörigkeit liegen. Eine Unsicherheit, weil meine Umgebung sich immer etwas anders verhalten hat als ich.
Was hat es mit dieser protestantischen Sozialisation bei gleichzeitiger katholischer Religionszugehörigkeit auf sich?
Bossong: Ich komme aus Bremen, also einer klassischen Kaufmanns- und Hansestadt. Nicht nur, dass fast alle meiner Klassenkameraden protestantisch waren, der Religionsunterricht protestantisch war und ich die Einzige war, die in der Grundschule zum Kommunionunterricht gegangen ist. Ich habe auch am Konfirmationsunterricht teilgenommen, weil alle hingingen. Wenn man 14 war und nicht zu den Konfirmationsfreizeiten mitfuhr, wäre man alleine zuhause geblieben, man hätte all das verpasst, was zu Beginn der Pubertät wichtig ist, das erste Händchenhalten, die ersten Verliebtheiten fanden ja dort statt.
Was bedeutet es, allein unter Protestanten katholisch zu sein?
Bossong: In Bremen katholisch zu sein, macht es einem in gewisser Weise leichter, weil man dort die mitunter weniger erhabenen Seiten eines alltäglich gelebten Katholizismus, der vielleicht zum Teil schon Folklore geworden ist, nicht sieht. In Bremen war für mich alles Profane protestantisch. Ich habe die negativen Seiten der Bremer Mentalität immer dem Protestantismus zugeschrieben.
In Ihrem Gedichtband „Sommer vor den Mauern“ findet man die Zeile „Von hier sieht der Himmel anders aus, mager, wie nur Protestanten ihn kennen.“ Was bedeutet „protestantisch“ für Sie?
Bossong: Das ist natürlich keine theologisch stichhaltige Kategorie, sondern eine Zuschreibung, die ich auch ein wenig ungerecht aus dem ableite, was ich in meiner norddeutschen Sozialisation erlebt habe: die grundsätzliche Skepsis gegenüber Schönheit und Verschwendung. Dabei bedeutet ja Verschwendung nicht nur, dass man sinnlos etwas wegwirft, mit dem man anderen hätte helfen können, sondern es kann auch bedeuten, sich im Schönen zu verausgaben. Wenn man Bremer Protestanten fragt, wird man sicherlich hören, dass der Katholizismus lustfeindlich sei. Ich habe aber immer eher den Protestantismus als lustfeindlich erlebt. Auch der Zölibat ist aus meiner Sicht nicht lustfeindlich. Es ist eine Hochschätzung der Lust und ein bewusster Verzicht darauf. Ob die Kirche diesem exzeptionellen Lebensweg gerecht wird, wenn sie ihn von allen Seelsorgern erwartet, halte ich allerdings für fraglich.
Sie haben unter anderem in Rom studiert. Vielleicht sollten Sie bei Gelegenheit wieder dort hingehen. Eventuell kann einem das Erleben fröhlicher katholischer Verausgabung wieder etwas Auftrieb geben.
Bossong: Es wird einem schwer gemacht. Ich hatte lange eine gewisse Kunstfertigkeit darin, atheistischen Freunden zu erklären, warum Papst Benedikt XVI. ein großer Denker ist, jemand, den man nicht unterschätzen sollte, jemand, der nicht allein für einen verbissenen Konservativismus steht, sondern der eine größere Tiefe in seinem Denken hat. Es fiele mir leichter, bei dieser Meinung zu bleiben, wenn er sich daran hielte, sich nicht mehr öffentlich zu äußern. Meine Hochachtung bröckelt gerade.
In Ihrem Band „Kreuzzug mit Hund“ gibt es eine Reihe von Gedichten aus dem Heiligen Land. Was haben Sie dort gefunden? Haben Sie Heiligkeit gefunden im Heiligen Land?
Bossong: Ich glaube schon. Ich habe natürlich auch das gefunden, was man in den Nachrichten mitbekommt: das Problem, wenn eine Fläche von zu vielen als heilig empfunden wird und dadurch unbedingte und scheinbar unteilbare Ansprüche entstehen, die sich überlagern, was zu einer stetigen Krise führt. Aber ich habe doch auch Momente unmittelbarer Berührtheit erlebt, Augenblicke, in denen die Wahrnehmung überstiegen wird, in denen sich eine Dimension zu öffnen scheint, die sonst verschlossen ist. Und dann kam der 5. Dezember 2017 und wir waren wieder sehr schnell auf dem Boden der Realpolitik. Donald Trump verkündete an diesem Tag, dass die amerikanische Botschaft nach Jerusalem verlegt werde, obwohl oder womöglich weil diese Entscheidung eben auch als Provokation gegen die dort lebenden Palästinenser empfunden werden konnte. Wir verließen Jerusalem, weil Proteste, wenn nicht sogar Anschläge befürchtet wurden. Wie leicht das Zusammenleben dort destabilisert werden kann, haben wir direkt mitbekommen.
Es gibt in diesem Band auch die Zeile: „das Heilige hängt uns nicht um den Kopf, sondern liegt in den Knochen“. Was heißt das?
Bossong: Als Kind habe ich versucht, für die Krippe meinen Playmobilfiguren Heiligenscheine zu basteln. Vermutlich ist das nicht der direkte Weg zur Heiligkeit. Es ist womöglich auch nicht nur das, was man sich durch gute Taten verdienen kann. Eher geht es vielleicht um eine absolute Ehrlichkeit, auch um das Bewusstwerden der eigenen Verletzlichkeit.
Sind Sie eine katholische Schriftstellerin?
Bossong: Ich bin protestantische Katholikin. Ich versuche ja immer, in Ländern zu leben, die katholisch sind. Nur spüre ich dort immer meine protestantische Sozialisation. Ich habe mich selten so protestantisch gefühlt wie in Rom. Und wenn ich zurück nach Bremen ziehen würde, würde ich mich wieder sehr katholisch fühlen.
Trotz der Hoffnungslosigkeit, von der Sie eben sprachen?
Bossong: Ich kenne den Zweifel als etwas, das immer wieder auftaucht, aber manchmal auch eine neue Ebene des Glaubens ermöglicht. Mir scheint, dass Zweifel etwas ist, das für den Glauben notwendig ist. Wenn man nicht zweifelt, wird der Glaube zu sehr zur Gewohnheit, wird zu selbstverständlich und verlangt einem keine Fragen mehr ab.