Was ein Papst in den Augen einer Marienikone sehe, wird Papst Franziskus einmal in seinem neuen Interviewbuch gefragt (Ave Maria, Freiburg 2019). „Natürlich ist es schön, die Mutter Gottes anzusehen“, antwortet Franziskus, „aber noch schöner ist es, sich von der Mutter Gottes ansehen zu lassen, sich ansehen zu lassen und ihr alles zu sagen, weil ich weiß, dass sie mich ansieht.“
Der so abwegige wie unüberwindliche Verdacht, dass die Bilder sehen können, dass Porträts den Blick des Betrachters zu erwidern imstande sind, ist ein urmenschlicher Tick, dessen bis heute ungebrochene Wirkmacht sich am besten anhand einer normalen Tageszeitung demonstrieren lässt: Selbst Menschen, die sich für völlig rational halten, spüren ein Unbehagen, wenn man sie auffordert, einem beliebigen Porträtfoto aus der Zeitung mit einem Messer die Augen auszustechen. Es fühlt sich ungehörig, ja gewalttätig an – dabei ist es doch nur ein bisschen Druckerfarbe auf billigstem Papier!
Anders als die westkirchliche Tradition hat die ostkirchliche Tradition diesen Tick nicht zu unterdrücken versucht, sondern zur offiziellen Bildlehre ausbuchstabiert: Ihr zufolge zitiert eine Ikone nicht nur das Äußere der abgebildeten Person, sondern lässt sie tatsächlich gegenwärtig sein. In dieser Lesart verheißt eine Marienikone die Chance auf eine echte Begegnung mit der Gottesmutter, eine Chance, die Papst Franziskus vor allem an einem Ort regelmäßig ergreift: in der Kirche Santa Maria Maggiore in Rom.
Zu Beginn und am Ende jeder Auslandsreise lässt sich Franziskus dorthin fahren, um vor der berühmtesten Marienikone der Stadt, der „Salus Populi Romani“, einen Blumenstrauß niederzulegen. Schon als Erzbischof von Buenos Aires kam er hierher, wenn er auf Rombesuch war, und als Papst betete er zum ersten Mal am Tag nach seiner Wahl hier, am 14. März 2013, um sein Pontifikat unter den Schutz dieser Ikone zu stellen.
Erst vor wenigen Monaten haben Spezialisten der Vatikanischen Museen die Salus Populi Romani frisch restauriert. Bei der Gelegenheit hat man auch die mit einem feinen Tuch überzogene Holztafel, auf der die Ikone aufgebracht ist, mit der Radiokarbonmethode datiert: Das Holz stammt demnach aus einer Zeit zwischen Ende des 9. und Mitte des 11. Jahrhunderts – was eine Autorschaft des Evangelisten und Madonnenmalers Lukas, wie die Legende sie berichtet, nicht unbedingt gestützt hat. Ob das Bild zumindest in Jerusalem entstand, wie die Tradition ebenfalls besagt, ist unklar. Die spezielle Art der Farbmischung, mit der die Gesichter und Hände Marias und des Jesuskindes von ihrer Kleidung abgesetzt wurden, weist nach Ansicht von Barbara Jatta, der Direktorin der Vatikanischen Museen, eher nach Rom als Entstehungsort. Seit dem Mittelalter ist die Ikone jedenfalls in Santa Maria Maggiore nachweisbar, der ältesten Marienkirche nicht nur Roms, sondern der ganzen Westkirche. Ursprünglich im Mittelschiff angebracht, ließ der Borghese-Papst Paul V. (dessen Namen man von den gewaltigen Lettern auf der Fassade des Petersdomes kennt) 1613 am linken Seitenschiff extra eine Kapelle für die Ikone errichten, die Cappella Paolina.
Dort kann die Salus Popoli Romani nun schon seit 400 Jahren angetroffen werden, wenn sie nicht gerade auf einer Prozession mitgeführt wird, was recht häufig geschieht, weil die Ikone in der örtlichen Volksfrömmigkeit einen Ehrenplatz hat. In Seuchen, Kriegen und Naturkatastrophen wandten sich die Römer an ihre Mutter Gottes, und die Bischöfe von Rom taten es ihnen nach: Paul V. ließ sich an ihrer Seite begraben. Eugenio Pacelli, der spätere Pius XII., feierte unter ihren Augen seine Primiz und ließ sie später, als Papst, mit einer Goldkrone schmücken. Johannes Paul II. schenkte dem Weltjugendtag eine Kopie der Ikone, die seitdem an allen Treffen teilnimmt. Und Franziskus betet hier um erfolgreiche Papstreisen.
„Es ist ein schöner Name: Salus Populi Romani“, hat Franziskus einmal in einer Predigt in Santa Maria Maggiore gesagt und auch erklärt, wie er sich den Beistand Mariens vorstellt: „Die Mama hilft ihren Kindern stets auch, mit einem gewissen Realitätssinn die Probleme des Lebens zu betrachten. Sich nicht in diesen Problemen zu verlieren, aber sie mit Mut anzugehen, in einer guten Mischung aus Sicherheit und Risiko.“ Es klingt, als würde Franziskus die Dienste der Marienikone von Rom auch in Zukunft gut gebrauchen können. Lucas Wiegelmann