Herr Professor Riccardi, Sie kennen Matteo Salvini und Papst Franziskus persönlich. Wer von beiden hat Sie bei der Begegnung mehr überrascht?
Andrea Riccardi:Ich kann nicht sagen, dass ich Matteo Salvini kenne. Bisher habe ich ihm nur einmal die Hand gereicht, bei einem Treffen in der israelischen Botschaft in Rom. Ich kann dagegen immer noch sagen, dass Papst Franziskus mich jedes Mal überrascht – und ihn kenne ich seit vielen Jahren. Ich bin ihm schon begegnet, als er Erzbischof von Buenos Aires war, sowohl in Rom als auch in Buenos Aires, als er mir die Ehrendoktorwürde an der Katholischen Universität verliehen hat. Schon damals faszinierte mich seine Sichtweise, seine starke Hoffnung, sein festes Vertrauen. Noch heute bin ich ein Fan von Papst Franziskus, auch wenn er nicht mehr so populär ist wie am Beginn seines Pontifikates. Es ist eben so: Die Beziehung des Volkes Gottes mit seiner Führung unterliegt denselben Phasen wie eine Ehe, der Euphorie der Flitterwochen folgt eine gewisse Desillusionierung oder Normalisierung. Ich glaube allerdings, dass die Linie von Papst Franziskus die Zukunft der Kirche umfassend beeinflussen wird. Sie wird einen vertieften, spirituellen und auf das Evangelium ausgerichteten Katholizismus formen, der die armen Völker in den Mittelpunkt stellt.
Wer von beiden hat derzeit mehr Macht über die Herzen und Köpfe der Italiener, Franziskus oder Salvini?
Riccardi: Ich verstehe nicht, warum Sie diesem Vergleich solche Bedeutung zumessen. Zwischen dem Papst und Salvini gibt es keine Konkurrenz, denn sie wirken auf verschiedenen Ebenen. Sie folgen verschiedenen Logiken, haben unterschiedliche Mentalitäten, verbreiten verschiedene Botschaften. Der Papst ist das Oberhaupt einer universalen Kirche, Salvini war Innenminister eines europäischen Landes: Es gibt keine Grundlagen für einen Vergleich.
Beide sind international wahrgenommene Antagonisten in der Migrationsdebatte. Papst Franziskus ist die wichtigste globale Identifikationsfigur der Flüchtlingshilfe, Salvini ist Wortführer des europäischen Rechtspopulismus.
Riccardi: Mag sein, aber beide sprechen auch ständig über andere Themen, zum Beispiel über die Familie oder die Wirtschaft, ohne dass man sie deshalb vergleichen müsste. Mir scheint es wichtiger, über die Gründe nachzudenken, warum der Papst über die Migranten spricht. Zunächst sind die Migranten arm und werden immer ärmer, und für den Papst stehen die Armen im Mittelpunkt. Dann ist Franziskus das Oberhaupt der universalen Kirche. Wie in einem alten Artikel aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs über Pius XII. gesagt wurde, ist der Papst „der Vater der Völker“. Muss nicht ein Papst, heute wie damals, dem Drama der Afrikaner, der Syrer, der Afghanen Gehör schenken? Er muss ihnen Gehör schenken, und er tut es. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Katholizismus zu einem Segen nur für eine bestimmte Nation wird, dass er ein Ethnokatholizismus wird. Diese Versuchung gibt es in allen Religionen, auch bei uns Katholiken.
Haben Sie auch noch Kontakt zu Angela Merkel?
Riccardi: Ab und zu. Mit ihr haben wir immer einen guten Austausch gepflegt, sie hat uns immer sehr in unserer Arbeit ermutigt. Die Bundeskanzlerin hat an unseren Friedensgebeten in Deutschland 2011 in München und 2017 in Münster teilgenommen. Wir sind uns einige Male in Berlin und Rom begegnet, wo die Bundeskanzlerin Sant’Egidio in Trastevere besucht hat. Angela Merkel ist für mich das Paradebeispiel für eine in der demokratischen Tradition des Christentums verwurzelte Politik. In einer Welt, in der die Christdemokratie auf dem Rückzug ist, hat sie gezeigt, dass das christlich-demokratische Denken von dauerhafter Gültigkeit ist. Es ist schade, dass sie in den vergangenen Jahren in Deutschland die Erfahrung einer starken Gegenströmung machen musste, doch gegen Ende eines politischen Weges ist das immer so. Nachher folgt die Nostalgie, anschließend wird man in vernünftiger Weise ihre Bedeutung wertschätzen.
Ihre Gemeinschaft Sant’Egidio engagiert sich stark in der Flüchtlingshilfe. In Ihrem neuen Buch „Alles kann sich ändern“ (Würzburg 2018) sagen Sie, die Einwanderung nach Europa werde eine „Entwicklung unserer Identität“ zur Folge haben: „Etwas muss sich ändern, aber es wird keine Invasion werden.“ Wie wird sich Europas Gesicht denn ändern, die europäische Identität?
Riccardi: Ja, in den vergangenen Jahren vor allem durch die Schaffung der humanitären Korridore, von legalen und sicheren Wegen, die Legalität und Menschlichkeit miteinander verbinden und viele Frauen, Kinder und Männer vor dem Tod im Meer und vor den Händen der Menschenhändler bewahren, angefangen bei vulnerablen Personen auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Die Initiative hat Sant’Egidio mit italienischen Protestanten ergriffen, was humanitäre Korridore aus dem Libanon betrifft, und eine andere zusammen mit der katholischen Kirche Italiens für Somalier, Eritreer und Südsudanesen für einen humanitären Korridor aus Äthiopien. Auch Frankreich, Belgien und Andorra beteiligen sich daran. Die Unterhaltskosten für die humanitären Korridore werden von den Organisatoren ohne Kosten für den aufnehmenden Staat übernommen. In den vergangenen drei Jahren wurde durch den Einsatz der Zivilgesellschaft – Familien, Pfarreien, Gruppen – bei der Aufnahme ein hoher Grad der Integration unter Beweis gestellt. Dieser Weg ist umsetzbar und müsste ein europäischer Weg werden. Europäische humanitäre Korridore sind heute dringend notwendig, um viele Immigranten aus den libyschen Lagern herauszuholen. Wir dürfen nicht weiter zuschauen. In Bezug auf Ihre Frage möchte ich jedoch betonen, dass das Problem Italiens nicht die Immigranten sind – außerdem sind es viel weniger, als allgemein angenommen wird und als die Zahl der dringend benötigten Arbeitskräfte – das sagen nicht einige linke NGOs, das sagt vielmehr die Industrie. Das Problem Italiens sind demnach nicht die Immigranten. Im Gegenteil: Das Problem Italiens sind die Emigranten. Zirka 300.000 Personen lassen jährlich Italien hinter sich. Vor allem junge Leute zwischen 22 und 44 Jahren. Sie verlassen nicht nur das eigene Vaterland, weil sie hier keine Arbeit finden, sondern auch weil unser Land von einem allgemeinen Gefühl des Niedergangs erfasst ist. Hier muss unser Einsatz ansetzen: Wir müssen verstehen, warum diese Leute fortgehen, und wir müssen Italien neue Hoffnung schenken. Das ist nicht in erster Linie ein Auftrag für die Politik, sondern für die Moral. Zu Ihrer Frage über Europa: Europa ist selbst durch aufeinander folgende Migrationsströme entstanden. Ich halte die europäische Identität für stark genug, um auch in Zukunft Menschen anderer Herkunft integrieren zu können. Gerade darin besteht die Stärke dieser Identität. Eine starke Identität zeichnet sich aus durch Offenheit, nicht durch Verschlossenheit, durch Offenheit für neue Einflüsse.
Wie wird sich also die europäische Identität durch diese Einflüsse ändern?
Riccardi: Die europäische Identität ist pluralistisch und wird immer so bleiben. Was uns größere Sorgen bereiten sollte als die Einflüsse von außen, ist der Trend, dass immer mehr Europäer und politische Kräfte sich von Europa distanzieren. Das ist das wahre Problem. Wenn das so weitergeht, werden die europäischen Länder eines Tages verdrängt werden. Sie werden keine Chancen mehr in den Beziehungen zu den Giganten dieser Erde bekommen, beispielsweise zu den Großmächten Asiens. Daher ist die Meinung absurd, dass ein Land wie Tschechien in einem Wettstreit den großen Weltmächten Paroli bieten könnte! Das ist für Tschechien nicht möglich, aber auch nicht für Italien und nicht einmal für Deutschland. Im Grunde genommen habe ich nichts gegen den Aufstieg von Ländern wie China oder Indien. Ich sage nur: Wenn sie wachsen, müssen wir vereint bleiben, sonst werden wir verdrängt. Der Selbstmord Europas hat einen Namen: Spaltung.
Viele Menschen in Europa fürchten sich vor einer Islamisierung. Wäre das aus Ihrer Sicht überhaupt ein Problem, wenn Europa weniger christlich und stärker muslimisch würde? Oder würde das eben zu dieser Offenheit für neue Einflüsse dazugehören?
Riccardi: Wir dürfen nicht jedes Mal den anderen die Schuld geben für die Probleme unserer Religion: Früher waren die Liberalen Schuld am Niedergang des Christentums in Europa, dann die Kommunisten, jetzt die Migranten. Die Frage, wie es dem Christentum in Europa geht, darf nicht den Muslimen gestellt werden, sondern einzig und allein den Christen in Europa. Zudem bin ich davon überzeugt, dass Europa christlicher ist, als man meinen könnte. Auch wenn das oft nicht im Besuch der Sonntagsmesse umgesetzt wird. Beispielsweise ist Deutschland ein großes christliches Land. Wenn man mit einigen deutschen Intellektuellen oder politischen Verantwortungsträgern spricht, spürt man die tiefe christliche Prägung, wie auch bei einem großen Teil der Bevölkerung. Als der Brand in Notre Dame in Paris ausbrach, war das kein Randproblem der Kunstgeschichte. Damals hat ganz Frankreich verstanden, was es bedeutet, wenn man die Mutterkirche verliert. Wir müssen jedoch mehr in die Tiefe gehen, damit die Menschlichkeit des Evangeliums zu unserer Zukunft wird. Karl Rahner sagte, dass der Christ des neuen Jahrtausends entweder ein Mystiker wird oder nicht sein wird. Mystiker mit offenen Augen für die „Zeichen der Zeit”, offene Augen für alle, angefangen bei den Ärmsten.
Missioniert Sant’Egidio in seinen Flüchtlingseinrichtungen eigentlich?
Riccardi: Mission bedeutet Verkündigung des Evangeliums. Die Verkündigung geschieht in jedem Augenblick, denn die Verkündigung ist mit dem Dialog verquickt. Paul VI. sagt in der Enzyklika „Ecclesiam Suam“: „Die Kirche muss zu einem Dialog mit der Welt kommen, in der sie nun einmal lebt. Die Kirche macht sich selbst zum Wort, zur Botschaft, zum Dialog“ (ES 67). Natürlich missionieren wir in diesem Sinn.
Sie haben Sant’Egidio in einer allgemeinen Zeit des Aufbruchs ins Leben gerufen. Das Zweite Vatikanische Konzil war gerade vorbei. Welche der Hoffnungen, die Sie damals für die Kirche hatten, wurden mittlerweile enttäuscht?
Riccardi: Ich spreche ungern von Enttäuschungen. In diesem Zusammenhang gefällt mir das Wort Enttäuschung nicht, denn ich bin kein Richter über die Geschichte. Ich bevorzuge lieber den Beitrag zur Gestaltung der Geschichte. Einige Hoffnungen werden erfüllt, andere verändert, das gilt für die Kirche wie für die Welt. Es geht darum, nicht auf die Hoffnung zu verzichten. Doch genau das geschieht: Wir verlieren die Hoffnung. Wir verlieren die Hoffnung auf den Dialog, daher akzeptieren wir den Krieg. Wir verlieren die Hoffnung auf die Integration und errichten Mauern an unseren Grenzen. Wir verlieren die Hoffnung auf die Gemeinschaften und daher: Rette sich, wer kann. Ich kann mich an all dem nicht beteiligen. Das Konzil hat vor allem zwei Gruppen einen großen spirituellen Impuls gegeben: den Jugendlichen und den Laien. Unsere Gemeinschaft ist eine Frucht genau dieses Geistes, und wir müssen ihn weitertragen.
An der Spitze von Sant’Egidio steht der Präsident. Das ist immer ein Laie – aber nie eine Frau. Warum nicht?
Riccardi: Aktuell ist unser Präsident ein Mann, er hat zwei Vizepräsidenten, das sind zur Zeit beides Frauen. Es gibt viele verantwortliche Frauen in unseren Gemeinschaften weltweit, von Afrika bis Lateinamerika, Asien und Europa.
Wie ist das Geschlechterverhältnis in Ihrem Leitungsgremium, dem Consiglio di Presidenza?
Riccardi: Auswendig kann ich jetzt die Zahl nicht genau nennen. Natürlich sind Frauen darin stark vertreten und tragen reale Verantwortung im Leben der Gemeinschaft. Auch die afrikanischen Frauen. Die über 50 DREAM-Zentren (DREAM steht für das Hilfsprogramm „Disease Relief through Excellent and Advanced Means“ von Sant’Egidio; d. Red.) zur Aids-Behandlung in Mosambik werden ausnahmslos von Frauen geleitet. Sicherlich nicht, weil Papst Franziskus das heute wünscht. Es ist eine Entwicklung, die sich von sich aus in unserer Gemeinschaft gezeigt hat.
Seit einiger Zeit haben Sie auch ein eigenes Priesterseminar. Wozu braucht eine Laienbewegung das? Um eine Kirche innerhalb der Kirche zu werden?
Riccardi: Wir haben ein Seminar, denn wir möchten Berufungen fördern, die aus der Gemeinschaft selbst hervorgehen. Sie benötigen eine gute Vorbereitung, um ihren Dienst in der universalen Kirche zu tun. Ein Großteil der Priester, die zu Sant’Egidio gehören, sind in einer Diözese inkardiniert. Die anderen sind vor allem in der Mission tätig.
Die Amazoniensynode in Rom wird im Herbst über die Weihe von Viri probati diskutieren. Wären Sie dafür?
Riccardi: Das Problem des Priestermangels beobachten wir bekanntermaßen nicht nur in Amazonien, sondern auch in Europa. Die Ordination von Viri probati ist nicht die einzige Antwort, aber sie ist eine Antwort. Für uns Katholiken ist die Figur des Priesters sehr wichtig. Dass Pfarreien gerade an für die Geschichte des Christentums so wichtigen Orten ohne Priester sind, ist ein großes Problem. Daher bin ich für neue Zugangsmöglichkeiten zum Priestertum, zum Beispiel für in der Arbeit und Familie bewährte Männer, die in geregelten Lebensumständen leben und über eine angemessene Lebenserfahrung verfügen.
Das Gründungsjahr von Sant’Egidio ist 1968. Sie selbst haben sich einmal einen Veteranen der Achtundsechziger genannt. Der emeritierte Papst Benedikt XVI. hat kürzlich den Missbrauchsskandal in der Kirche als Folge der Achtundsechzigerrevolution beschrieben. Hat er recht?
Riccardi: Auch Papst Franziskus hat einige Aspekte der Revolution der Achtundsechziger-Jahre kritisiert. Papst Benedikt hat sich bei seiner Analyse auf die sexuelle Revolution bezogen. Ob er recht hat oder nicht, weiß ich nicht; mir scheint dies auch nicht von besonderer Wichtigkeit zu sein. Im Grunde genommen ist das Jahr 1968 ein Jahr mit einer Bedeutung wie viele andere Jahre, wir dürfen daraus keinen Mythos machen. Es ist nicht das Jahr, in dem Christus auf die Welt gekommen ist.
Es gibt in Ihrem neuen Buch ein ganzes Kapitel über die aktuelle Situation der Kirche und ihre größten Herausforderungen. Das Thema Missbrauch wird darin aber mit keinem Wort erwähnt. Warum nicht?
Riccardi: Man müsste die Frage an den richten, der mich interviewt hat. Es handelt sich um ein Interviewbuch, ich habe nur auf die Fragen geantwortet, die mir gestellt wurden. Ich wurde nicht zum sexuellen Missbrauch befragt. Aber es kommt nicht auf mich an, um zu erkennen, dass es sich um ein zentrales Thema für die Kirche handelt. Meine Gemeinschaft hat als eine der ersten von den Laienbewegungen sehr strenge Leitlinien für die Prävention von Missbrauch gegen Minderjährige und vulnerable Personen ausgearbeitet. Es ist eine schmerzhafte Wunde, die vor allem die Kinder betrifft. Unsere Gemeinschaft hilft Kindern und schützt sie vor jeder Form von Missbrauch, schon seit Beginn der Geschichte unserer Gemeinschaft. Die Kinder sind auf der ganzen Welt die am meisten vulnerablen Personen. Sie leiden unter Missbrauch, Kinderarbeit, Menschenhandel, Gewalt. Ich denke zum Beispiel an die Kinder, die in Afrika einfach so durch den Menschenhandel verschwinden. In Afrika südlich der Sahara werden in ländlichen Regionen zwei von drei Kindern nicht registriert und besitzen keinen Personenstand, daher sind sie in Gefahr, missbraucht, versklavt und Opfer von Organhandel zu werden. Daher haben wir das BRAVO!-Programm („Birth Registration for All Versus Oblivion“; d. Red.) eingerichtet zur Geburtenregistrierung beim Einwohnermeldeamt. Das ist von grundlegender Bedeutung, auch wenn davon nicht so viel gesprochen wird: Was bedeutet es denn, dass viele Kinder nicht einmal das Recht haben, zu existieren? Solange Kinder solches Unheil erleiden, sind wir eine unmenschliche Gesellschaft. Es geht darum, unserer Menschlichkeit wieder Bedeutung zu geben.
In Ihrer Gemeinschaft Sant’Egidio bleiben die vielen karitativen Projekte stets eng verbunden mit dem geistlichen Leben. Das gemeinsame Gebet ist bei Ihnen besonders wichtig. Haben Sie ein paar Beispiele für Gebete von Ihnen, die erhört wurden?
Riccardi: Ich bin davon überzeugt, dass unsere Gebete erhört werden. Karl Barth war bekanntlich kein katholischer Frömmler, sondern ein berühmter reformierter Theologe. Er sagte, dass das Gebet die Geschichte verändern kann. Ich fürchte nur, dass wir zu wenig beten. Und dass wir zu wenig für die Armen arbeiten. Die beiden Dinge gehören zusammen, denn in den Armen ist Jesus verborgen. Wer inständig betet, wird Erhörung finden. Das sage nicht ich, das sagt Jesus.
Stimmt es eigentlich, dass Sie einen Seligen zum Onkel haben?
Riccardi: Ja, er war ein Benediktiner. Sein Taufname war Tommaso Riccardi. Als er Mönch wurde in Sankt Paul vor den Mauern, nahm er den Name Placido an. Er starb 1915 in Rom, daher habe ich ihn nicht kennengelernt. Doch ich war 1954 bei der Seligsprechung durch Pius XII. dabei. Ich war vier Jahre alt und habe mich furchtbar gelangweilt. Während der ganzen Feier habe ich geweint, was meiner Familie unheimlich peinlich war.
Werden Sie auch eines Tages selig- oder heiliggesprochen? Der Gründer der Communità Sant’Egidio?
Riccardi: Nein, das möchte ich keineswegs. Ich bin gegen all diese Heiligsprechungsprozesse von Gründern oder Gründerinnen religiöser Orden. Die Heiligkeit ist kein Diplom oder Ehrendoktorwürde, die verdienstvollen Personen verliehen wird. Natürlich gibt es große Heilige, die der Kirche geschenkt wurden. Aber für mich sind die wahren Heiligen die Märtyrer. Im 20. und 21. Jahrhundert sind die Christen wieder für ihren Glauben gestorben. Je mehr wir den Märtyrern unserer Zeit Aufmerksamkeit schenken, umso mehr werden wir vor Selbstmitleid bewahrt. Ich wünsche mir, dass wir immer mehr Freunde der Märtyrer werden.
Weitere Artikel zum Thema finden Sie in unserem Dossier „Flucht und Flüchtlinge im 21. Jahrhundert“ auf www.herder-korrespondenz.de.