Potsdam, die einstige Bezirkshauptstadt der DDR, hat sich innerhalb der letzten Jahrzehnte zu einem herausragenden Wissenschaftsstandort entwickelt. Allerdings werden hier nicht nur Probleme globaler Klimaveränderungen erforscht. Durch seinen Promi- und Glamourfaktor fühlen sich gerade Touristen von der Brandenburger Landeshauptstadt angezogen. Dass sie dabei auch religiöser Vitalität begegnen, wird vom Stadtmarketing mit Hinweis auf eine tief verwurzelte religiöse Toleranz (1685: Potsdamer Toleranzedikt) gern unterstrichen.
„Eine Vielzahl von Musikaufführungen geistlicher Werke wird beworben, das Stadtbild ist von Kirchengebäuden geprägt, diverse Initiativen informieren über religiöse Vielfalt“, erklären Johann Hafner (Potsdam) und Irene Becci (Lausanne) in ihrer Einleitung zu „Glaube in Potsdam“. Kritisch fügen die beiden Religionswissenschaftler jedoch hinzu: Keineswegs könne von dieser Wahrnehmung auf eine tatsächlich praktizierte Religiosität geschlossen werden.
Mit seinen 177.000 Einwohnern eignet sich die Stadt bestens, „Glaubens-Tatsachen“ für einen fest umrissenen urbanen Raum zu erheben und alle Gemeinschaften, die ein „Gravitationszentrum“ für ihre Mitglieder bilden, detailliert zu beschreiben. Die Herausgeber finden daher günstige Voraussetzungen für ihr Projekt, „eine Momentaufnahme der religiösen, spirituellen und weltanschaulichen Gemeinschaften“ zu bieten – und das im Zug langjähriger Recherchen entstandene umfangreiche Werk (845 Seiten) löst diesen Anspruch auf beeindruckend konsistente Weise ein.
Damit nimmt diese spezielle „City-Map“ eine Tradition auf, die im Osten Deutschlands von Halle ihren Ausgang nahm (Daniel Cyranka, Helmut Obst [Hg.] Mitten in der Stadt … Halle zwischen Säkularisierung und religiöser Vielfalt, Halle 2001) und mit der religiösen Kartierung Leipzigs (Interkulturelles Forum Leipzig [Hg.], Handbuch Leipziger Religionen, Leipzig 2009) ihre Fortsetzung fand. Aber anders als bei der Darstellung der deutschen Hauptstadt (Nils Grübel/Stefan Rademacher [Hg.], Religion in Berlin. Ein Handbuch, Berlin 2003) legen die Kartenmacher für das angrenzende Potsdam großen Wert darauf, nicht bloß exotische und fernöstliche Gruppen und Gemeinden en détail zu schildern: „Wir beschreiben jede Gemeinschaft gleichrangig als eigenständige Größe.“ Dies führt im Ergebnis dazu, dass da, wo sich früher ein weißer Fleck auf der Glaubenslandkarte befand, plötzlich ein hochdifferenziertes Panorama sichtbar wird. Allerdings zeigt sich dabei ein dezidiert „ostdeutsches Profil“ – nur bei der Glaubens- und Konfessionslosigkeit ging der Traum der einstigen DDR in Erfüllung, weltweit führend zu sein (Tschechien: Zahl der Nichtbeter 67% gegenüber 74% in Ostdeutschland).
Das hat enorme Auswirkungen auf die Zahl der Gläubigen in Potsdam: In der Landeshauptstadt lebten 2016 13,5 Prozent evangelische und 4,9 Prozent katholische Christen. Als sprechende Tatsache erweist sich weiterhin, dass – abgesehen von Zeugen Jehovas und einigen pfingstlichen Gemeinden – gar keine missionarische Tätigkeit mehr auf urbaner Ebene festzustellen ist. Darin sehen die Herausgeber ein Erbe der atheistischen Ideologie, die zu einem im internationalen Vergleich einmaligen Abschmelzen der Religiosität geführt habe. Erschwerend komme hinzu, dass der christliche Glaube in weitaus geringerem Maß an die kommende Generation vererbt werde als die zu über 90 Prozent weitergegebene Konfessionslosigkeit – nur 46 Prozent (evangelisch) und 66 Prozent (katholisch) der Kinder übernehmen das Bekenntnis ihrer Eltern.
„Die säkulare, wissenschaftlich orientierte Stadtkultur“, urteilen die Herausgeber über den von ihnen untersuchten Status quo von Religion, Spiritualität und Weltanschauung, „prägt das Stadtflair und wird von religiösen Menschen mitgestaltet. Selten wird Religionszugehörigkeit oder eine spirituelle Haltung offensichtlich gemacht. Unter religiös involvierten Menschen entsteht eine gewisse Solidarität und Nähe gegenüber der säkularen Mehrheit der Potsdamer Bevölkerung.“
Tatsächlich erweist sich Potsdam, wie die Herausgeber auf beeindruckende Art zeigen, damit als Teil jener „Gärtnerei im Norden“, wie es der Berliner Bischof Wilhelm Weskamm nannte (HK August 2018, 40–41), in der die Wachstumsbedingungen für Religion, Kirche und Spiritualität jahrzehntelang von frostigen Temperaturen diktiert wurden. „Wir haben versucht, an Gott und seiner Kirche in einer atheistischen Gesellschaft festzuhalten“, heißt es im letzten Hirtenbrief der Berliner Bischofskonferenz (BBK) zum „Tag der Einheit“ am 3. Oktober 1990. Was aus der in dem Buch beschriebenen Lage für die Zukunft der Kirche folgt, ist noch offen. Thomas Brose