Einer aktuellen Studie zufolge bezeichnet sich in Deutschland etwa die Hälfte derer, die sich selbst (!) zu den „Atheisten“ zählen, als spirituell oder religiös. Auch wenn „Spiritualität“ zu den Plastikwörtern gehört, die zu definieren hieße, „trying to nail jello to a tree“: Die Daten sind bemerkenswert, besonders im Blick auf den konfessionslosen Osten (41,2 Prozent; im Westen 50,2 Prozent; vgl. Heinz Streib, Barbara Keller [Hg.], Was bedeutet Spiritualität? Befunde, Analysen und Fallstudien aus Deutschland, Göttingen 2015, 24).
Ist Spiritualität eine von inzwischen schwer überschaubar vielen Deutungsmöglichkeiten für eine Kontingenzerfahrung (neben naturalistischen, fatalistischen, nihilistischen, religiösen), so stellt in diesem speziellen Bereich die atheistische Spiritualität ein bisher wenig bekanntes Phänomen dar. Man kann auf Friedrich Schleiermacher verweisen, der, auf eine antike Metapher zurückgreifend, von der Musik des Universums gesprochen hat. Mit seinem Bild im Hinterkopf ist allerdings nicht auszuschließen, dass die von Max Weber und Jürgen Habermas so genannten religiös unmusikalischen Menschen existieren. Andererseits ist damit zu rechnen, dass zuweilen diese Musik doch durchdringt.
Es gibt mindestens zwei solcher „Einfallstore“ in eine atheistische oder religiös indifferente Weltsicht: erstens auf dem Weg bestimmter Erfahrungen, von denen sich aus noch zu nennenden Gründen nur vereinzelt Berichte finden. Zweitens auf dem Weg durch bestimmte institutionelle Ansprüche, welche auch für Menschen ohne solche Erfahrungen herausfordernd sind. Atheistische Spiritualität stellt aber auch eine Anfrage für das theologische Geschäft dar.
Atheisten und ihre mystischen Erfahrungen
Die „Giordano-Bruno-Stiftung“ fällt immer wieder durch spektakuläre Aktionen auf (vgl. HK Dezember 2011, 7–8). Die atheistische Überzeugung ihres Vorstandssprechers Michael Schmidt-Salomon, unter anderem Verfasser eines „Manifest des evolutionären Humanismus“, dürfte über jeden Zweifel erhaben sein. Erst 13 Jahre später schildert er ein exakt auf den 23. März 1995 datiertes Ereignis (Jenseits von Gut und Böse. Warum wir ohne Moral die besseren Menschen sind, München 2009): Beim Verlassen des Universitätsgebäudes „geschah etwas, was ich nur schwer beschreiben kann. (…) Die Farben leuchteten kräftiger als je zuvor, die Düfte der Pflanzen, die auf dem Uni-Campus standen und die ich bis dahin kaum bewusst wahrgenommen hatte, stiegen betörend in meine Nase. Noch bemerkenswerter war, dass diese starken äußeren Sinneseindrücke begleitet wurden von einem Gefühl größter innerer Ruhe, das mich geradezu überwältigte. (…) Die Grenze zwischen mir und der Außenwelt schien völlig aufgehoben zu sein. (…) Nie zuvor und auch nie mehr danach war ich – leider kann ich es nur in dieser esoterisch anmutenden Form ausdrücken – so sehr ‚in meiner eigenen Mitte‘, so sehr ‚mit mir selbst im Reinen‘ wie in diesem Moment, in dem sich dieses Selbst, mein Ich, verflüchtigte.“
Schmidt-Salomon benötigt viele weitere Seiten, um zu der Erkenntnis zu kommen, es müsse so etwas wie eine „rationale Mystik“ geben, welche aber weder mit Asien noch mit dem Christentum zu tun hätte. Was er gespürt habe, so seine Interpretation: „Wir sind nicht nur allesamt miteinander verwandt, weil wir aus der gleichen Ursuppe stammen, wir sind vielmehr eins, denn jeder von uns trägt denselben vier Milliarden Jahre alten ‚Lebenskeim‘ in sich.“
Ähnlich beschreibt André Comte-Sponville, Philosoph und bekennender Atheist, „eine mystische Erfahrung“ bei einem Waldspaziergang – auch dies Jahrzehnte danach (Woran glaubt ein Atheist? Spiritualität ohne Gott, Zürich 2009): „Und plötzlich ... Was? Nichts. Alles! (…) Der Sternenhimmel über mir, unermesslich, unergründlich, strahlend, und in mir nur dieser Himmel, dessen Teil ich war (…). Friede. Unermesslicher Friede. Einfachheit. Gelassenheit. Heiterkeit.“ Es war „wie eine Offenbarung, nur ohne Gott. Das war der schönste, fröhlichste, gelassenste und natürlich spirituellste Augenblick, den ich je erlebt habe. (…) Ich gehöre nicht zu jenen, die dauerhaft im Absoluten hausen können. Aber es hatte in mir gehaust, wenn auch nur für einen Moment. Endlich hatte ich begriffen, was das Heil ist (...), vielmehr, ich hatte es empfunden, gefühlt, erfahren (Hervorhebung vom Autor!) und musste deshalb nicht weiter danach suchen.“ Comte-Sponville deutet es als Begegnung mit dem „Mysterium des Seins – Licht des Seins“. Er verstehe nun manches, was er als Philosoph aufnehme, besser und tiefer.
Nimmt man diese beiden – stark verkürzt zitierten – Beispiele mit aller Vorsicht pars pro toto, zeigen sich folgende Charakteristika: Die bisher theoretischen Weltanschauungskonstrukte erhalten eine Erlebnis- oder Erfahrungskomponente, welche das Ganze in einem neuen Licht erscheinen lassen. Das dürfte ein Wesensmerkmal von Spiritualität überhaupt sein. Darüber hinaus sind die Betroffenen selbst überrascht, sich plötzlich in der Nähe von Esoterikern oder Mystikern wiederzufinden, und legen deshalb oft wortreiche Erklärungen vor, um diesen Eindruck zu entkräften. In der Notwendigkeit und der Art der Verteidigung macht sich ein kultureller Standard bemerkbar, dessen Repräsentation die betroffenen Intellektuellen für sich beanspruchen: wissenschaftlich-aufgeklärte Säkularität, skeptisch-distanzierte Herangehensweise, präzise Terminologie und so weiter. Das mag zum einen der Grund für den zeitlichen Abstand bis zum coming out sein.
Zum anderen verweist die Schwierigkeit, das Erlebte zu artikulieren und zu interpretieren, auf das jeglicher Mystik bekannte Phänomen der Sprachlosigkeit und zusätzlich auf die Armut einer wissenschaftlichen Sprachkultur, in der sich die Betroffenen üblicherweise bewegen. Ausführlich wird erläutert, dass das Erlebte das bisherige Weltbild nicht ins Wanken gebracht und nichts an der atheistischen Grundüberzeugung geändert, sondern diese eben nur erlebnismäßig verstärkt und zu einer Art All-Einheit geweitet habe. Mit „Gott“ dürfe das alles nichts zu tun haben.
Atheistische Spiritualität geht nicht immer auf solche Intensiverlebnisse zurück. Wolfgang Welsch, bis 2012 Lehrstuhlinhaber für Philosophie, schreibt über seine Strandspaziergänge (Immer nur der Mensch? Entwürfe zu einer anderen Anthropologie, Berlin 2011): „Ein Jahr lang war der kalifornische Pazifik mein Lehrmeister. Er hat mir die Augen für eine andere Stellung des Menschen in der Welt geöffnet.“ Hier erfolgte also erst allmählich der Umschlag von Theorie in Erfahrung. Denn „ausschlaggebend ist nicht diese immense geographische Extension [des Ozeans], sondern die Erfahrung der Unermesslichkeit“. Welsch nennt das Erlebte „Reflexions-Gefühle“. Sie seien nicht rein subjektiv wie Schmerz oder Müdigkeit, sondern zielten auf eine intersubjektive Wahrheit (wie man auch eine Unstimmigkeit fühlt, wenn es unlogisch zugeht), weshalb ihnen nachzugehen sei.
So gesehen ist atheistische Spiritualität wie Spiritualität überhaupt wohl weniger Erfahrung im Sinne von Widerfahrnis, sondern – wie man von einer erfahrenen Ärztin spricht – ein längerer Prozess, den ganz normalen Alltag aus einer neuen Perspektive beharrlich zu betrachten, ob und wie sich das Ganze, sozusagen von einer inneren Tiefe aus gesehen, verändert. Auslöser wird allerdings oft ein bestimmtes Schlüsselerlebnis sein.
Äußere Ansprüche
Aber auch „religiös Unmusikalische“ ohne ein solches Erleben werden mit dem Thema „Spiritualität“ konfrontiert, wenn dringliche Ansprüche, besonders im Erziehungs- und im Gesundheitswesen, erhoben werden. Beispielsweise beschloss die UN-Generalversammlung „A world fit for children“ von 2002 neben der körperlichen, psychologischen, sozialen, emotionalen, kognitiven und kulturellen auch die spirituelle Entwicklung der Kinder „as a matter of national and global priority“ – für säkulare Kulturen eine Herausforderung, wie eine Tagung der Schwedischen Akademie für Kinderrechte 2008 mit dem bezeichnenden Titel „Das Recht des Kindes auf Spiritualität und religiöse Entwicklung“ zeigt.
Im Gesundheitswesen wächst das Interesse an „Spiritual Care“ besonders im Bereich der Palliativmedizin (vgl. HK November 2018, 36–38) – aber nicht nur dort. Die Weltgesundheitsorganisation WHO setzt entsprechende Standards: „Alle Menschen haben ein Recht, bei schwerer Krankheit eine hochqualifizierte Versorgung zu erhalten, und auf einen würdigen Tod, frei von erdrückendem Schmerz und in Übereinstimmung mit ihren spirituellen und religiösen Bedürfnissen“, schreibt die WHO auf ihrer Website. Das kann man so interpretieren: Wer diese Regeln nicht einhält, verliert seinen Status als anerkannte Gesundheitseinrichtung. Da Spiritualität eine eventuelle Heilung fördert, müssen Kliniken „Spiritual Care“ anbieten, ganz gleich, ob es kirchliche Häuser sind oder nicht – schon aus Effektivitätsgründen.
Dies hat nun im „Humanistischen Verband Deutschlands“ (HVD) eine heftige Diskussion ausgelöst, unterhält er doch auch Hospize – ausdrücklich religionsfrei für konfessionslose Menschen. Gita Neumann, die selbst zum HVD gehört und als Psychologin auch Sterbebegleiterin ist, kritisierte dessen formuliertes „Selbstverständnis“ (in: Horst Groschopp [Hg.], Barmherzigkeit und Menschenwürde. Selbstbestimmung, Sterbekultur, Spiritualität, Aschaffenburg 2011, 61–145): Es sei nur „an einer einzigen Stelle (…) in knapp einem Dutzend Wörter von ‚Geheimnissen der Welt und des Universums‘ die Rede, nach denen Humanistinnen und Humanisten ‚fragen und forschen‘ würden“. Das Ganze reproduziere den klassischen Materialismus des 19. Jahrhunderts, der „längst ausgedient“ habe. Sie empfehle von daher eine „aufgeklärte Spiritualität“, „ohne Gott und Jenseitsglauben“.
Überhaupt habe das „Spirituelle, Kulturelle und Ästhetische (…) das Erbe des verblassenden Christentums angetreten“. Als Beispiel dienten Neumann Kunst, Literatur, Musik. Sie vermitteln „Hinweise auf Überschreitendes“ und schaffen „eine wirkungsmächtige Atmosphäre durch Klangräume, gemüthafte Stimmungen, sinngemäßes Erfassen und Schauen, empfundene Schwingungen – im Kern zweckfrei, zumindest ohne Lösungs- oder Sinnzwänge“.
Der Streit war hier programmiert: Während Joachim Kahl, ebenfalls Mitglied im HVD, die Entfaltung einer spirituellen Dimension im Humanismus forderte, brachte Bernulf Kanitscheider, der zum wissenschaftlichen Beirat der „Giordano-Bruno-Stiftung“ gehört, Spiritualität mit Wissenschaftsfeindlichkeit in Verbindung. Neumanns Beschwichtigung, der Begriff „Spiritualität“ diene ja nur „unvoreingenommen zur leichteren Verständigung“, rief den „Beauftragten für Aufklärung über Psycho- und religiöse Sondergruppen sowie Okkultismus“ im HVD, Ulrich Tünsmeyer, auf den Plan. Der Begriff sei „aufgrund seiner semantischen Unklarheit und religiösen Konnotation in humanistischen Zusammenhängen wenig hilfreich“. Er befürchte Unterwanderungstendenzen: Es entstehe „der Eindruck, über die ‚Säule Spiritualität‘ letztlich wieder ein christliches Verständnis von Seelsorge und professioneller Sterbebegleitung einführen zu wollen“ (69–185).
Anfrage an Philosophie und Theologie
Das Phänomen atheistische Spiritualität beziehungsweise die Forderung nach einer solchen löst also zuweilen Irritationen im religionsfreien Kontext aus. Die Scheu davor, in die Nähe religiöser Themen zu geraten, bringt merkwürdige Größen ins Spiel: das Leben, das Sein, die Welt, das Selbst. Was ist deren ontologischer Status, die nun nicht mehr nur Allgemeinbegriffe bleiben, sondern zu Erfahrungsgegenständen geworden sind? Es gibt Lebewesen, aber gibt es „das Leben“ oder Schmidt-Salomons „Lebenskeime“? Es gibt raumzeitliche Dinge, die sind, aber gibt es „das Sein“ wie bei Comte-Sponville?
Die langfristigen Auswirkungen auf die wissenschaftlich-aufgeklärte Säkularität unserer Zeit sind schwer abzuschätzen und vermutlich oft verdeckt, weil aus den angegebenen Gründen nicht die Erlebnisse selbst, sondern nur deren Interpretationen kommuniziert werden. Diese sind Mit-Auslöser einer wachsenden philosophischen Kritik am Naturalismus, konterkarieren sie doch dessen Vorstellungen einer geistlosen Materie und stellen Anfragen an die Kosmologie und die Erkenntnis- beziehungsweise Wissenschaftstheorie (vgl. zum „Panpsychismus“: HK September 2017, 44–47).
Vermutlich wird sich aber auch durch atheistische Spiritualität wenig an den Grundüberzeugungen und Deutungsmustern einer säkularen Kultur ändern. Also Vorsicht bei zu viel missionarischer Euphorie, nach dem Motto: Hier zeige sich doch mal wieder der „natürlicherweise religiöse“ Mensch. Da darf nämlich nicht die verbreitete „existentielle Indifferenz“ (Tatjana Schnell) vergessen werden, der zufolge zum Beispiel sogar unheilbar Kranke desinteressiert an Ressourcen wie Selbsterkenntnis, Spiritualität, expliziter Religiosität oder sogar Fortpflanzung bleiben können – und zwar ohne feststellbare mentale Verluste bei der Krisenbewältigung (vgl. Anne-Grithli Wirth, Arnd Büssing, Utilized Resources of Hope, Orientation, and Inspiration in Life of Persons with Multiple Sclerosis and their Association with Life Satisfaction, Adaptive Coping Strategies and Spirituality: Journal of Religion and Health 55 [2016], 1359–1380).
Die Theologie wird wahrscheinlich (unter anderem mit Verweis auf Weisheit 13,1–9) etwas vorschnell anfragen, warum die zitierten Deutungsversuche im vor- oder atheistischen Bereich verbleiben, wenn man beispielsweise Blaise Pascals „Memorial“ vom 23. November 1654 danebenhält: ähnlich genaue Datierung, ähnliches Staccato der Protokollierung, aber mit dem „Gott Jesu Christi“. Dann ist jedoch der religionskritischen Frage nicht mehr auszuweichen, in welchem Maße aus der Sozialisierung stammende Deutungsmuster solche „Gotteserfahrungen“ und „Bekehrungserlebnisse“ mitbestimmen und wie dann deren epistemischer Status einzuschätzen ist.
Welche Rolle spielt Erfahrung überhaupt? Die Theologie kann, ähnlich wie auch die Philosophie, besonders in ihrer sprachanalytischen Version zum Federballspiel geraten: Text antwortet auf Text, Dogmeninterpretation auf Dogmeninterpretation, Regeldiskurs auf Regeldiskurs. Damit wird sie jedoch steril, falls dieses Hin und Her nicht ab und zu wie beim Tennisspiel den Boden des persönlichen Erlebens berührt und dann vielleicht überraschende Richtungen einschlägt. Theologie ist Wissenschaft aus Glauben und somit Erfahrungshermeneutik, nicht nur Wissenschaft über den Glauben wie die Religionswissenschaft. Im Blick auf die üblichen Curricula darf die Frage gestellt werden: Wo ist der Platz einer „Geistlichen Theologie“, welche den reichen Schatz des Christentums an eigener Spiritualität und Mystik hebt, kritisch nach wissenschaftlichen Standards reflektiert (und somit charismatischen Überschwang ernüchtert) und dann mit ihrem Ganzen so vermittelt, dass Theologinnen und Theologen im Gespräch auch mit einer atheistischen Spiritualität bestehen? Besonders wenn diese sich – zuweilen expressis verbis – anschickt, das Christentum zu beerben.
Denn wer die Texte derjenigen liest, die hier unter „atheistische Spiritualität“ zusammengefasst sind, müsste bei aller kritischen Distanz berührt sein und sich dabei vielleicht eigene Defizite eingestehen. Die Äußerungen verweisen auf das Grundproblem aller Theologie, die sich diesen Namen verdienen will: Gestammel zu sein und zu bleiben angesichts eines letztlich Unsagbaren. Das heißt aber nicht, dass sie inkommunikable Unvernunft produzieren darf. Und dieses Dilemma betrifft, wie sich an der atheistischen Spiritualität exemplarisch zeigt, auch nichttheologische Wissenschaften, sobald sie versuchen, ins Innere der Phänomene einzudringen.