Regisseur Christoph Röhl antwortet den Kritikern seines FilmsBenedikt XVI. hat die eine Frage nie gestellt

Mein Film „Verteidiger des Glaubens“ über die Versäumnisse Benedikts XVI. in der Missbrauchskrise ist heftiger Kritik ausgesetzt: Ratzinger-Anhänger werfen mir vor, ich hätte entlastende Punkte weggelassen. Wenn es nur so wäre. Eine Entgegnung.

Benedikt XVI. hat die eine Frage nie gestellt
© Pixabay

Seit einigen Wochen läuft der Film „Verteidiger des Glaubens“ in den Kinos. Gemeinsam mit katholischen Einrichtungen haben wir ihn auch in den Wochen vor Kinostart auf Veranstaltungen gezeigt und hinterher mit dem Publikum rege Diskussionen geführt, zum Beispiel in Münster, Köln, Frankfurt, Freiburg, Stuttgart und Tübingen. Wir haben erlebt, wie der Film aufwühlt – gerade bei denjenigen, die zum ersten Mal mit dem wahren Ausmaß der Missstände in ihrer Kirche konfrontiert wurden. So ergriff beispielsweise eine ältere Dame während einer Diskussionsrunde in Frankfurt das Wort und sagte beinahe verzweifelt: „Auch wenn das alles wahr ist, was Sie in ihrem Film zeigen, werde ich mich dennoch entscheiden, es nicht zu glauben.“ Es kann nicht sein, was nicht sein darf.

Aber der Film macht nicht nur betroffen. Er befreit auch. Immer wieder haben sich Zuschauer bedankt, dass wir endlich etwas zur Sprache gebracht haben, das sie ein Leben lang in ihrem Innern gespürt haben. Einige Zuschauer haben sogar berichtet, dass sie während der Vorführung geweint haben. Besonders groß ist die Erschütterung unter katholischen Frauen, denn der Film zeigt auf, wohin eine elitär männerbündisch klerikale Herrschaftsform, in der alles Weibliche herabgewürdigt wird, führen kann.

Seit mehr als fünf Jahren habe ich mich mit der Hauptfigur meines Films, Joseph Ratzinger, beschäftigt. Die erste Frage, die mir seit Wochen immer zuerst gestellt wird, ist: Warum? Was hat mich getrieben? Hierfür gibt es viele Gründe, aber eine Motivation war sicherlich die bisherige fast hagiographische Darstellung, die Ratzingers konservative Fans in etlichen Filmen und Büchern in die Welt gesetzt haben. Mit glühenden Augen nannte Kölns früherer Kardinal Joachim Meisner Ratzinger „den Mozart der Theologie“.

Andere arbeiten seit Jahren fleißig daran, dass er als „Theologenpapst“ in die Geschichtsbücher eingeht. Wer sich mit diesem Bild nicht zufrieden gibt und es wagt, kritische Fragen über ihn zu stellen, wird aufs Schärfste angegriffen. „Kritik an Benedikt XVI. ist aus Sicht dieser Leute [von konservativen Kreisen und Benedikt-Fans] beinahe schon Häresie“, schrieb neulich das katholische Onlineportal katholisch.de als Reaktion auf die Pressemitteilung der Deutschen Bischofskonferenz, die den Film kritisierte.

Ein Mann, der das Gute wollte, aber letztlich großes Unheil anrichtete

Die Deutungshoheit über diese für die Kirchengeschichte der letzten 60 Jahre so wichtige Persönlichkeit sollte man aber Ratzingers Verehrern nicht allein überlassen. Schließlich ist während seiner Amtszeit etwas grundlegend schiefgelaufen: Die Betroffenen – nicht nur von sexuellem, sondern auch von spirituellem Missbrauch – verdienen mehr als diese verklärte Darstellung, in der alle unangenehmen Fakten verschleiert und verbrämt werden. Es bedarf einer Aufarbeitung, einer Korrektur.

In dem Film wird Ratzinger als Mensch in seiner ganzen Tragik gezeigt, der wegen seiner blinden Flecken zwar das Gute wollte, aber letztlich großes Unheil anrichtete. Nun wird mir und dem Film aber vorgeworfen, selbst blinde Flecken zu haben. Meine Auswahl von Gesprächspartnern sei zu einseitig. Zudem hätte ich „entlastende“ Fakten unterschlagen. Ist da was dran? Der erste Vorwurf ist leicht von der Hand zu weisen. Schließlich habe ich Erzbischof Charles Scicluna, der als Ratzingers Chefankläger in der Glaubenskongregation die Missbrauchsfälle bearbeitete, und Erzbischof Georg Gänswein, seit vielen Jahren sein Privatsekretär, interviewt. Näher an Ratzinger kann man kaum kommen.

Der zweite Vorwurf ist dagegen schwerwiegender und fordert zu einer Antwort auf. Eine Analyse der Fakten wird jedoch zeigen, dass in meinem Film nicht so sehr entlastendes, als vielmehr belastendes Material weggelassen wurde. Im Folgenden gehe ich im Einzelnen auf die Kritikpunkte ein.

Der erste dieser Kritikpunkte lautet: Kardinal Ratzinger habe eine klare Linie gegen beschuldigte Priester vertreten, aber er sei damals am Widerstand anderer im Vatikan gescheitert. Diese Deutung ist eine Variante des altbekannten Mythos: Nicht der König selbst ist schuld, sondern die Schar der nebulösen Höflinge. Man reibt sich die Augen: Konservative Kreise sind scheinbar so eifrig, ihr Idol und ihre Galionsfigur in Schutz zu nehmen, dass sie nicht einmal davor zurückschrecken, die Kurie beziehungsweise den eigenen Regierungsapparat ihrer sonst als heilig verklärten Institution anzugreifen. Dabei bemerken sie aber nicht, dass sie damit die zentrale These meines Films bestätigen: dass Joseph Ratzinger nicht als Einzelfall zu betrachten ist, sondern als Bestandteil eines Systems, das eklatante strukturelle und institutionelle Fehler aufweist.

Aber wer sind diese ominösen Männer, die Joseph Ratzinger daran gehindert haben sollen, das Richtige zu tun? Kardinal Christoph Schönborn, der zu Ratzingers Schülerkreis gehört, ist einer derjenigen, die sich dieser Lesart von Ratzingers Scheitern verschrieben haben. Als Beweis für seine These nennt er den berühmt-berüchtigten Groër-Fall in Österreich. Kardinal Hans Hermann Groër war ein notorischer Missbrauchstäter, der, ähnlich wie Pater Marcial Maciel, von Papst Johannes Paul II. protegiert und geschützt wurde. Gehört also selbst der heiliggesprochene polnische Papst zu denjenigen, die Ratzinger im Weg standen? Schönborn bleibt uns diese Antwort schuldig.

Nur einen Namen hat er in diesem Zusammenhang genannt. Und zwar jenen des ranghöchsten Kardinals im Vatikan: Kardinal Angelo Sodano, dem Schönborn vorwarf, den Fall Groër verschleppt zu haben. 2010 kritisierte Schönborn Sodano öffentlich, nachdem Sodano die Feier der Osterliturgie unterbrochen und Berichte von Missbrauchsopfern als „Geschwätz des Moments“ diffamiert hatte. Damit hat aber Schönborn etwas getan, was „man“ im Vatikan nicht tut. Als Belohnung für seinen Mut, den Opfern beizustehen, wurde Schönborn in Rom Hochverrat vorgeworfen. Schönborn habe „Papst und Kirche in Schwierigkeiten gebracht“, hieß es. Papst Benedikt zitierte den aufmüpfigen Kardinal zu sich und zwang ihn, sich persönlich bei Sodano zu entschuldigen.

Ein zweiter Einwand gegen den Film besagt: Die Kirche verdanke es Ratzinger, dass 2001 ein eigener Gerichtshof an der Römischen Glaubenskongregation eingerichtet wurde, der Missbrauchstäter streng verurteilte. Gemeint sind Änderungen im kanonischen Rechtssystem, die durch das Motu Proprio „Sacramentorum Sanctitatis Tutela“ von 2001 eingeleitet wurden. Mit diesem Gesetz hat der damalige Papst Johannes Paul II., wohl veranlasst durch Kardinal Ratzinger, einerseits versucht, Unzulänglichkeiten des kirchlichen Strafrechts zu mildern, die eine schnelle und effektive Verfolgung von Priestertätern fast unmöglich machten, und andererseits die Zuständigkeitsfrage zugunsten der Glaubenskongregation geklärt. Für einen durchgriffswilligen Papst wäre allerdings auch der Codex des Kanonischen Rechts kein Hindernis gewesen: Er hätte sich kraft seines Primats jederzeit legal darüber hinwegsetzen können. Mit dem Motu Proprio hat Joseph Ratzinger sich allerdings gegenüber anderen Kardinälen durchgesetzt, die den Missbrauch als eine große anti-katholische Verschwörung der säkularen Medien abgetan haben.

„Sie haben gut gehandelt“

Unter diesen Leugnern befanden sich beispielsweise der kolumbianische Präfekt der Kleruskongregation, Darío Castrillón Hoyos, der in einem Brief einen französischen Bischof für seine Entscheidung beglückwünschte, einen pädophilen Priester nicht den zivilen Behörden gemeldet zu haben. „Sie haben gut gehandelt und ich freue mich über einen Bischofskollegen, der in den Augen der Geschichte und aller anderen Bischöfe auf der Welt das Gefängnis dem Verrat an einem Priester-Sohn vorgezogen hat“, schrieb Hoyos. Andere Kardinäle drückten sich ähnlich aus. Derweil suchte sich Kardinal Oscar Rodriguez Maradiaga, der heute zu den engsten Beratern von Papst Franziskus gehört, einen anderen Sündenbock aus: Er gab 2002 der italienischen Zeitschrift „30 Giorni“ ein Interview, das so klang, als vermute er hinter dem Missbrauchsskandal eine jüdische Verschwörung gegen die Kirche. Amerikanische Medien, sagte Maradiaga, würden die Missbrauchsfälle „instrumentalisieren“ und sich „in obsessiver Weise daran festklammern“, um die allgemeine Aufmerksamkeit von Israels Vorgehen gegen die Palästinenser wegzulenken.

Gewiss: Im Gegensatz zu diesen Würdenträgern hat Ratzinger vergleichsweise gut gehandelt. Aber was sind das für Maßstäbe?

Durch das Motu Proprio wurde der Missbrauchsskandal zur Chefsache. Ab sofort sollten alle weltweiten Missbrauchsfälle direkt an Ratzingers Büro in die Glaubenskongregation geschickt werden, wo sie unter seiner Ägide bearbeitet werden sollten. Das mag sich zunächst einmal wie ein positiver Schritt anhören. Aber der Schein trügt: Denn Ratzinger wusste, welchem enormen Druck die Kirche ausgesetzt war – und zwar schon seit 25 Jahren. Der Missbrauchsskandal, der 1985 in den USA seine Anfänge hatte, hat sich seitdem wie ein Lauffeuer in anderen Ländern ausgebreitet – hauptsächlich in Kanada, Australien und Irland.

Während dieser Zeit versuchte die Kirche, den finanziellen Schaden noch in Grenzen zu halten, beispielsweise indem man Versicherungspolicen abschloss oder teure Anwälte damit beauftragte, mit den Opfern Verschwiegenheitserklärungen auszuhandeln und sie damit zur Geheimhaltung zu verpflichten. Ende der 1990er-Jahre zeichnete sich jedoch ab, dass diese Vorgehensweise nicht mehr ausreichte, um dem Druck seitens der Medien standzuhalten.

Unmittelbar bevor das Motu Proprio erlassen wurde, soll Ratzinger gewusst haben, dass Journalisten in Boston vor Gericht einen Antrag auf Akteneinsicht in die Geheimarchive der Kirche gestellt hatten. Wenn das stimmt, dann wird er sich vermutlich bewusst gewesen sein, was das für eine gefährliche Wendung für die katholische Kirche bedeutete. Denn: Mit der Offenlegung dieser Dokumente hätten Staatsanwälte schwarz auf weiß beweisen können, dass die Kirche gegen das Zivilrecht verstoßen und Strafvereitelung im Amt begangen hatte. Diözesen in den USA, die ohnehin dem Bankrott nahestanden, sahen sich dadurch mit Bußgeldstrafen in Milliardenhöhe bedroht. Unter Berücksichtigung dieser Entwicklung war das Motu Proprio des Vatikans kein heroischer Akt, um Opfern zu helfen, sondern vielmehr eine verzweifelte Maßnahme, um inkriminierende Akten der weltlichen Gerichtbarkeit zu entziehen und sie unter Berufung auf das „Päpstliche Geheimnis“ hinter den Mauern des Vatikans und unter Ausschluss der Öffentlichkeit zu bearbeiten. Das oberste Prinzip der Kirche, Skandale zu vermeiden – sprich: nichts nach außen dringen zu lassen, was dem Ansehen der Kirche schaden und dazu führen könnte, dass Gläubige vom Glauben abfallen –, war damit ebenfalls gesichert.

Um Papst Benedikts angeblich hartes Durchgreifen gegen geistliche Missbrauchstäter zu veranschaulichen, wird heute immer wieder mit einem gewissem Stolz auf die etwa 380 Priester hingewiesen, die er aus dem Klerikerstand entfernt haben soll. Interessant dabei: Die Kirche versuchte lange Zeit, diese Zahl geheim zu halten. Erst als im Dezember 2013 die UN-Kinderrechtskommission mit Verweis auf die von der Kirche unterzeichnete Kinderrechtskonvention den Vatikan aufforderte, Statistiken zu liefern, sah die Kirche sich gezwungen, die Ergebnisse ihrer Ermittlungen gegen beschuldigte Priester offenzulegen. Eine Überprüfung der Angaben ist nicht möglich.

Warum wurde die ermittelnde Behörde nicht besser aufgestellt?

Ebenfalls 2013 offenbarte Charles Scicluna in einem „FAZ“-Interview, dass die Glaubenskongregation bis dahin insgesamt 4.000 Fälle bearbeitet hatte. Wichtige Fragen blieben aber unbeantwortet, wie beispielsweise: Wer hat die – bekanntlich hochkomplexen – Fälle überhaupt ermittelt? Haben etwa Priester gegen Sexualstraftäter in den eigenen Reihen, also gegen ihre Mitbrüder ermittelt? Scicluna bezeichnete die massenhaften Fälle, die auf seinem Tisch landeten, als „Lawine“.

Doch: Laut Medienberichten sollten lediglich sieben Kleriker (!) mit der Bearbeitung dieser vielen Fälle beauftragt worden sein. Warum hat man die Behörde angesichts dieses „Tsunamis“ (Gänswein) bloß nicht besser ausgestattet? Welche Kriterien wurden überhaupt angewendet, um Täter zu identifizieren? Wurden die Opfer überhaupt in die Verfahren eingebunden? Gab es unter den Tätern solche, die von ihren zuständigen Bischöfen gedeckt wurden, und wurden diese Bischöfe ebenfalls zur Rechenschaft gezogen? Wo befinden sich jene Täter, bei denen sich der Vorwurf des Missbrauchs erhärtet hat, heute? Auf diese Fragen bekommen wir keine Antworten, und zwar aus einem ganz einfachen Grund: weil alle kirchenrechtlichen Verfahren dem „Päpstlichen Geheimnis“ unterliegen – jenem Geheimhaltungsgebot also, das mit dem Motu Proprio von 2001 für Missbrauchsfälle bestätigt wurde.

Man kann nur hoffen, dass man mit schuldigen Tätern härter umgegangen ist als mit Marcial Maciel. Womit wir beim nächsten häufig vorgebrachten Einwand gegen meinen Film wären. Er lautet: Im Fall des Ordensgründers der Legionäre Christi sei Ratzinger entschieden gegen den Mehrfachtäter Marcial Maciel Degollado (1920–2008) vorgegangen, sobald er nach seiner Wahl zum Papst die Macht dazu gehabt habe.

In meinem Film steht Pater Marcial Maciel pars pro toto für die Art und Weise, wie Ratzinger und der Vatikan mit den Tausenden von Tätern in ihren Reihen umgegangen sind. Dabei stellt Maciel eine Ausnahme dar, weil die Liste seiner Verbrechen so unfassbar abgründig ist. Maciel war ein serieller Missbrauchstäter, ein Drogensüchtiger, Plagiator, Betrüger und Bigamist. Mit einer Frau hatte er eine Tochter. Als Maciel auf seinem 60. Priesterjubiläum in Rom von Papst Johannes Paul II. und der Hierarchie umjubelt wurde, hatte er seine Familie in Begleitung dabei. Während sein zölibatäres Leben gefeiert wurde, übernachtete er mit seiner Frau in einem von seinen vielen Apartments, die er in Rom hatte. Mit einer anderen Frau, die 22 Jahre alt war, als er sie als 60-Jähriger kennenlernte, zeugte er zwei weitere Söhne. Er missbrauchte den älteren und vergewaltigte dessen Halbruder. Viele Einzelheiten dieser abscheulichen Geschichte wurden erst 2008/2009 bekannt. Aber Ratzinger war, wie mein Film belegt, schon weit vorher über die Missbrauchsvorwürfe und über die Existenz der Tochter informiert.

Immer wieder wird vom Vatikan behauptet, dass Ratzinger „entschieden“ gegen Maciel vorgegangen sei. Doch trotz der Schwere von Maciels Verbrechen entschied sich Ratzinger, kein kirchenrechtliches Verfahren gegen Maciel zu eröffnen – und das, obwohl er inzwischen Papst war und damit die absolute Macht innehatte, sich über jegliche Widerstände hinwegzusetzen. Statt ihn zu bestrafen, „lud“ Benedikt Maciel in einem einseitigen Communiqué lediglich „ein“, sich in ein Leben von „Buße und Gebet“ zurückzuziehen. Maciel hielt sich jedoch nicht einmal an diese milde Auflage und lebte den Rest seines Lebens, umgeben von seinen treuen Dienern, im Luxus. In Papst Benedikts Communiqué wurden weder Maciels Opfer noch seine Taten genannt.

Als 2009 öffentlich bekannt wurde, was Insider bereits wussten, nämlich dass Maciel mit einer zweiten Frau zwei Söhne hatte, ordnete Benedikt eine Untersuchung an – eine sogenannte Apostolische Visitation. Fünf Bischöfe sollten ein Jahr lang gegen die Korruptionsvorwürfe bei den Legionären Christi ermitteln, denen die Aussteiger zudem Personenkult vorwarfen. Ihr Bericht wurde März 2010 fertiggestellt, doch nie veröffentlicht. Stattdessen wurde er in den Geheimarchiven des Vatikans ad acta gelegt. Und damit sind wir schon beim nächsten Punkt. Denn in genau diesem Monat sah sich Benedikt durch die erschütternden Ergebnisse der von der irischen Regierung beauftragten Untersuchungen in kirchlichen Einrichtungen gezwungen, mit einem Hirtenbrief an die Iren zu reagieren:

In diesem Hirtenbrief, so ein weiterer Einwand gegen meinen Film, habe Benedikt seine Solidarität mit den Opfern ausgedrückt und das Versagen der Bischöfe angeprangert. Nun wird im Film durchaus gezeigt, wie Papst Benedikt den Brief vorliest. Und tatsächlich drückt er darin seine Solidarität mit dem Opfern aus. Ein verblüffend ähnlicher Text wurde allerdings 2002 von Bischöfen vorgelesen, und zwar drei Monate, nachdem der Boston-Skandal für Schlagzeilen sorgte. Man fragt sich: Hat die Kirche in der Zwischenzeit nicht gelernt, dass Betroffene von sexualisierter Gewalt keine wohlwollenden Worte von Heilung und Vergebung brauchen, sondern aktives Handeln, Aufarbeitung und Gerechtigkeit? Das Gleiche trifft übrigens auch auf die Treffen mit Opfern zu, die Benedikt auf seinen pastoralen Reisen organisierte.

In seinem Brief kritisierte Benedikt die Bischöfe scharf. Sie hätten in ihrer Leitungsposition versagt, schrieb er in dem Text, den die irischen Bischöfe ihren Gemeinden vorgelesen haben: „Zu uns Bischöfen sagt er [Papst Benedikt]: ,Wir müssen einräumen, dass schwere Fehlurteile gefällt wurden und es Defizite in der Führung gab.‘“ Diese Sätze riefen Entsetzen bei den irischen Bischöfen hervor. Denn sie hatten Ende der 1990er-Jahre versucht, einen Dispens vom Päpstlichen Geheimnis zu bekommen, um Priestertäter an die Polizei zu überführen. Der Vatikan hat sie ihnen verweigert.

Derweil übernahm Papst Benedikt keine Verantwortung für seine eigene Vertuschung von Fällen. Das Ausmaß von Benedikts Mitschuld wurde gleich nach seinem Hirtenbrief der Weltöffentlichkeit präsentiert. Als Erstes veröffentlichte die „New York Times“ einen Brief, in dem Ratzinger einem geständigen Priester namens Stefan Kiesle, der zwei Jungen in seiner Kirche gefesselt und missbraucht hatte, zunächst die Erlaubnis verweigerte, sein Priesteramt zu verlassen. Wie aus Ratzingers Brief hervorgeht, ist der Grund hierfür nicht, dass der damalige Glaubenspräfekt die Taten nicht glaubte, sondern dass eine Entscheidung mehr Zeit benötige und „das Wohl der universalen Kirche“ berücksichtigt werden müsse. Kiesle wurde erst zwei Jahre nach dem Brief aus dem Priesterstand entlassen.

Die „Süddeutsche Zeitung“ brachte ebenfalls belastendes Material ans Licht. Das Blatt berichtete über einen schuldigen Täter aus Essen namens Peter H., der unter dem damaligen Erzbischof Ratzinger in eine neue Gemeinde der Diözese München und Freising versetzt wurde, ohne dass Gläubige davon in Kenntnis gesetzt wurden. Der Fall legte den Verdacht nahe, dass Ratzinger ähnlich mit Tätern umgegangen ist wie Bischöfe in den USA, Kanada, Australien, Irland und vermutlich überall in der Welt.

Gleich darauf veröffentlichte die „New York Times“ Dokumente bezüglich des Paters Lawrence Murphy, des Leiters einer Schule für gehörlose Menschen in Massachusetts, der im Laufe von Jahrzehnten 200 Kinder in seiner Obhut sexuell missbraucht hatte. Konkrete Missbrauchsvorwürfe gegen ihn gab es schon seit 1974. Im Jahr 1998 mehrten sich aber die Vorwürfe so sehr, dass sein Erzbischof, Rembert Weakland, persönlich nach Rom reiste, um mit Nachdruck die Entlassung des pädophilen Paters zu fordern.

Wenige Monate zuvor hatte sich aber der Täter Murphy mit einem Gnadengesuch an Joseph Ratzinger gewandt. Er sei sehr krank, schrieb er an den Glaubenspräfekten, und wolle „die restliche Zeit, die mir verbleibt, in der Würde meines Priesteramtes verleben“. Ob Ratzinger auf den Brief antwortete, ist unbekannt. Aber sein damaliger Sekretär in der Glaubenskongregation, der spätere Kardinalstaatssekretär Tarcisio Bertone, hielt daraufhin offenbar die Untersuchung des Falles an. Als Pater Murphy wenig später starb, mussten seine Opfer zuschauen, wie er in einer Totenmesse gefeiert wurde.

Zwei Briefe, zwei unterschiedliche Ansätze

In seinem Hirtenbrief an die Iren nahm Benedikt keinen Bezug auf die Fälle in seinem Heimatland. Dabei hätte er allen Anlass dazu gehabt. Schließlich kamen just im Jahr 2010 in Deutschland erschreckende Fälle ans Licht, beispielsweise in Ettal und in Regensburg, wo sein Bruder Georg Ratzinger jahrelang als Dirigent des berühmten Knabenchors fungierte und im Vorstand saß.

Der Skandal fing aber im Canisius-Kolleg in Berlin an. Dort arbeitete Klaus Mertes als Schulleiter, der, ähnlich wie Ratzinger, mit der dunklen Geschichte seiner Einrichtung konfrontiert wurde. Im Film „Verteidiger des Glaubens“ kommt er als einer der Gesprächspartner vor. Mertes hat etwas Außerordentliches gemacht. Ähnlich wie Papst Benedikt reagierte er auf die Missbrauchsenthüllungen, indem er einen Brief schrieb.

Nur: Sein Brief war an ehemalige Schüler gerichtet und enthielt außerdem jene entscheidende Frage, die in Benedikts Brief gar nicht erst gestellt wird. Dabei ist sie ganz einfach und eigentlich selbstverständlich, gerade für eine Institution, die sich der Botschaft Jesu verpflichtet weiß. Diese Frage hieß: „Wer von euch ist noch betroffen?“

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