Das kann ins Auge gehen: In der kommenden Karwoche, am 8. April 2020, räumt der Privatsender RTL seine beste Sendezeit und inszeniert „The Passion“: RTL wird das Leiden und Sterben als populäres TV-Event live aus der Ruhr-Metropole Essen übertragen. In vielerlei Hinsicht ist das Vorhaben ein Wagnis. Für den Sender geht es dabei um die Quote und auch um die Reputation. RTL häutet sich und will sich offensichtlich weniger „dschungelcampig“ geben und mehr als TV-Größe ernst genommen werden. Der Aufwand wird enorm sein: über 300 Beteiligte, über 5.000 erwartete Zuschauerinnen und Zuschauer in der Essener Innenstadt, bekannte Popgrößen in den verschiedenen Rollen und beliebte RTL-Gesichter als Erzähler und Live-Kommentaren.
Dass „The Passion“ im besten Sinne „ins Auge“ geht und ein Quotenbringer sein kann, dafür sprechen die Zahlen der vorausgegangenen Inszenierungen in Großbritannien, USA und den Niederlanden. Besonders auf dem niederländischen Fernsehmarkt gibt es wenig, was an die Traumquoten des christlichen TV-Events heranreicht. Ausgerechnet in einer säkularisierten Gesellschaft wie dem Polderland erreicht das Spektakel Zuschauerzahlen von über 40 Prozent Marktanteil, in der jungen Zielgruppe sogar bis zu 60 Prozent. Daran reicht im deutschen Fernsehmarkt, abgesehen von Fußballweltmeisterschaften, tatsächlich mittlerweile nur noch das Dschungelcamp heran.
Aus katholischer Sicht sind Passionsspiele der Volksfrömmigkeit zuzurechnen. Ob es die bald 400 Jahre alte Tradition in Oberammergau ist oder mehr oder weniger bekannte Passionsspiele wie im schwäbischen Waal oder im Kloster Chorin. Dabei ist der Trend leicht umgekehrt: Je mehr sich die Gesellschaft säkularisiert und den traditionellen „offiziellen“ Kar- und Osterliturgien fernbleibt, umso mehr steigt das Interesse an derartigen Inszenierungen. So sind allein in den vergangenen Jahren Passionsspiele an Orten wie Gelsenkirchen oder im belgischen Schönberg hinzugekommen. Und in Oberammergau werden in diesem Jahr über 500.000 Besucher aus dem In- und Ausland erwartet. Zum Vergleich: Die traditionsreiche Aachener Heiligtumsfahrt aus dem Jahr 2014 brachte es auf 125.000 Teilnehmer. Insofern ist der Erfolg von „The Passion“ ein erklärbares Phänomen: Je säkularer die Gesellschaft, je offener scheint sie für eine ungewohnte und „unorthodoxe“ Inszenierung der „greatest Story ever told“.
Ralf Dilger, der auf 30 Jahre TV-Erfahrung als Produzent und Regisseur zurückblicken kann, ist Kopf des deutschen „Passion“-Teams und sagt: „Wenn wir zum Start 20 Prozent Marktanteil in Deutschland hinbekommen, sind wir froh.“ Fast ein Jahrzehnt hat er das Format bei nahezu allen großen Fernsehanstalten – auch öffentlich-rechtlichen – angeboten. Fast immer wurde zäh gerungen um die Finanzierung, aber auch um die Position des Senders zu einem solchen religiösen Entertainment-Programm.
Ein Kreuz wie aus Cupertino
Erstmals wurde die „Passion“ in einer ähnlichen Form 2006 in Manchester von der BBC ausgestrahlt. Dort sah es der niederländische Produzent Jacco Doornbos, kaufte die Lizenz, machte das Format fernsehtauglicher und wandelte es zu einer Art Franchise-Produktion. Das Korsett des Formates ist relativ eng: Der Hipster-Kleidungsstil der Protagonisten unterscheidet sich in der Inszenierung von New Orleans (2016) nur unwesentlich von der in Dordrecht, Niederlande (2019). Auch die opulenten, strahlend weißen Bühnenaufbauten samt ausladendem Catwalk in die Zuschauerschaft ähneln sich. Das alles wird es in wenig abgewandelter Form auch in Essen geben: eine Mischung aus moderner Nacherzählung und populärer Show. Zum einen wird etwa die Abendmahlsszene in einem angesagten Restaurant gespielt und die Gefangennahme Jesu in einer Industrieruine durch ein SWAT-Team dargestellt. Dazu gehört, dass die Protagonisten eingängige Popsongs in der jeweiligen Landessprache singen und ein prominentes TV-Gesicht als Erzähler der Gesamtgeschichte agiert. Die Hauptrollen sind bekannt: Für Jesus, Judas, Petrus, Maria, Pontius Pilatus werden Stars gecastet. Ein Livereporterteam, das die Prozession des überdimensionalen Kreuzes begleitet, das strahlend weiß daherkommt, als wäre es von Apple in Cupertino entworfen worden.
Aber kann das aufgehen? Die theologisch dichteste Erzählung des Christentums erzählt in einer Mischung aus „Sing meinen Song“, „Alarm für Cobra 11“ und „Berlin Tag und Nacht“? Gerade im deutschen TV-Markt und ebenso in der hiesigen kritischen Kirchenöffentlichkeit ist ein solches Vorhaben ein Wagnis. Religion findet entweder in der Spartenlandschaft von Sendern wie Bibel-TV oder EWTN statt oder in einer Art öffentlich-rechtlichen Zähmung, die auf Grundlage von Rundfunkstaatsverträgen den etablierten Kirchen Sendezeiten einräumt. Religion zur Grundlage eines Mainstream-TV-Events zu machen, roch im Lande Luthers wie im Lande Ratzingers bislang eher nach Schwefel als nach Erfolg.
Wie also sollte man sich dem Phänomen theologisch nähern, um sowohl blinder Affirmation zu entgehen und auch einen intellektuell-pejorativen Affekt zu überspringen? Es ist einen Versuch wert, den dänischen Philosophen Søren Kierkegaard für diese RTL-Produktion zu bemühen. Was er selbst einmal als „Gedanken meines Lebens“ bezeichnete, bietet sich mit Blick auf „The Passion“ geradezu an: Gleichzeitigkeit. Kierkegaard war davon überzeugt, dass nur derjenige die wahre Gestalt Jesu Christi erkennen kann, der mit ihm gleichzeitig wird: Quasi bereinigt vom theologischen Tand um den auferstandenen Christus herum forderte er die unmittelbare wie existenzielle Begegnung mit dem historischen Jesus, dem „Zeichen des Ärgernisses“, wie er es nannte. Nur wer sich diesem Ärgernis des Jesus-Ereignisses stelle, habe die Möglichkeit, in der Überwindung desselben in den Glauben zu „springen“, so der Duktus Kierkegaards.
Und die Zuschauer der „Passion“ werden sich fragen müssen: Bin ich bereit, die Jesusgeschichte an mich heranzulassen, wenn sie nicht im historischen Gewand der Jesus-Latschigkeit erzählt wird, sondern daherkommt wie aus einer H&M-Werbung? Tatsächlich erscheinen die bisherigen Passion-TV-Events in hohem Maße „zeitgeistig“ beziehungsweise „gleichzeitig“. Dazu tragen die urbanen Drehorte ebenfalls bei wie die Korrelation der Handlung mit bekannten Popsongs. Im besten Fall unterstreichen die ausgewählten Lieder die großen Gefühle, die seit Abfassung der Evangelien in der Geschichte des Leidens und Sterbens Jesu mitschwingen: Freundschaft, Hingabe, Liebe, Ohnmacht, Verzweiflung, Vertrauen, Verrat, Trauer, Tod und Leben. Im schlimmsten Fall provoziert es Kopfschütteln. Da fällt bei der New-Orleans-Inszenierung von 2016 Sänger Seal in der Rolle des Pontius Pilatus nach Jesu Verteidigungsrede plötzlich ein in den Tina-Turner-Song „We don’t need another hero“ – was damals Kritik seitens der „New York Times“ hervorrief.
Songs von Grönemeyer bis Silbermond
In der Tat wird viel an der Auswahl der deutschsprachigen Lieder hängen, ob das Ganze Lob oder Spott erntet. So wird in der Runde der bereits früh eingeweihten Medienmacher schon länger gewitzelt, dass Xavier Naidoos Hit „Dieser Weg wird kein leichter sein“ offenbar unvermeidlich sei bei Jesu letztem Gang im deutschen Fernsehen. Aber bei aller kritischen Reserviertheit: Der gewollte Effekt ist aus pastoraltheologischer Sicht kein Novum: Die gesamte Korrelationsdidaktik der vergangenen Jahrzehnte baute auf ähnlichen Effekten auf. Das Reframing der bekannten Wirklichkeit durch die biblische Geschichte ist kein neuer Effekt – neu ist es, in dieser Form Popsongs zur Fernseh-Primetime zu „taufen“. Dass populäre Musik eine kollektive Erfahrung verdichten kann, das zeigte einst das Reframing des Enya-Titels „Only time“ durch die Bilder vom 11. September 2001. Das Lied wurde in der Rezeption derart verwoben mit den Anschlägen auf das Word-Trade-Center, dass es sich tief im kollektiven Gedächtnis verankert hat. Wenn eine ähnliche Verankerung der Jesus-Geschichte in den Popmusik-gewöhnten Generationen ohne peinliche Ausrutscher gelingt, dann kann den Machern der „Passion“ gratuliert werden. Angekündigt sind bei der deutschen „Passion“ Lieder von Herbert Grönemeyer bis zu Silbermond. Und es ist in jedem Fall ein spannendes TV-Experiment, eine derartige Verdichtung der Popwirklichkeit auf die christliche Erzählung zu wagen.
Was die TV-„Passion“ von bislang bekannten Passionsspielen besonders unterscheidet, ist der gleichzeitige Vollzug einer religiösen Handlung, die durch ein Live-Nachrichtenteam dokumentiert wird: die Prozession mit dem zentnerschweren Leucht-Kreuz. Rund 1.000 Menschen werden durch die Essener Straßen bis zum Burgplatz am Essener Dom ziehen. Das strahlende Kreuz wird selbst aus der Luft klar erkennbar sein. Wie in New Orleans oder in Dordrecht wird die Reporterin Interviews führen mit den Tragenden über ihre Motivation: Menschen, die eine schwere Krankheit überstanden haben, einen großen Verlust erlitten oder ihr Tragen als Opfer der Dankbarkeit verstehen. Und das Mainstream-Publikum wird sich ungläubig die Augen reiben und fragen: „Meinen die das in echt?“ Diese Prozession ist vielleicht die religiös ambitionierteste Sequenz für eine Prime-Time-Unterhaltung. Denn üblicherweise drückt sich Glauben im Fernsehen meist nur vermittelt aus durch die journalistische Distanz in Nachrichten oder Reportagen, oder durch klar „eingehegte“ Verkündigungsformate der Kirche – etwa einer Gottesdienstübertragung. Aber dass in einer Abendunterhaltung echt und ernsthaft gebetet wird, das könnte wohltuend irritieren.
Generell spielt das Beten für den deutschen Kopf der Produktion eine zentrale Rolle: „Wir haben bereits vor sieben Jahren einen Gebetskreis initiiert, mit diversen Gebetsanliegen zu diesem Thema. Und wir waren schon öfter an dem Punkt, an dem wir dachten, das Projekt sei am Ende“, sagt Ralf Dilger und ergänzt: „Ich habe ganz klar gemerkt, wie wichtig in dem ganzen Prozess das Gebet war.“ Dilger lässt keinen Zweifel daran erwachsen, dass diese Produktion kein Show-Event ist, sondern zumindest bei den Machern einer religiösen Motivation entspringt.
Und dennoch: Seit feststeht, dass die „Passion“ im Privatfernsehen läuft, muss auch Dilger sich damit anfreunden, dass die Passion Christi von Werbung unterbrochen wird – was schlicht der Finanzierung dient. „Ich bin sehr gespannt, wer welche Werbung schaltet. Aber wie auch immer: Damit müssen wir leben“, so Dilger.
Sicher wird „The Passion“ für viele ein „Zeichen des Ärgernisses“ sein: Die Auswahl der Popsongs, der Darsteller, die ganze Inszenierung, nicht zuletzt die geschaltete Werbung kann Anlass geben zur Kritik. Von Popularisierung der Passion Christi wird gesprochen werden, auch von Trivialisierung. Einer hätte das TV-Event mit Sicherheit begrüßt: Der im Jahr 2015 viel zu früh gestorbene einstige „RTL-Pfarrer“ Dietmar Heeg. Sein „Credo“ gegenüber kirchlichen Menschenfischern zur Medienarbeit war stets dasselbe wie das des RTL-Gründers Helmut Thoma: „Der Köder muss dem Fisch schmecken, nicht dem Angler.“ Eine Orientierung an den Sehgewohnheiten und Bedürfnissen der Zielgruppe lag dem Pfarrer und Medienmacher Heeg stets am Herzen. Seine Nachfolgerin Christiane Landwehr freut sich, dass dieses Format nach Jahren des Ringens nun endlich den Deutschen zugänglich wird. Sie sieht den Luxemburger Sender als massenattraktive Chance: „Mehr Verkündigung geht nicht. Und die RTL-Kompetenz für Musik garantiert eine erfolgreiche Einschaltquote“, so Landwehr, die seit 2019 RTL-Beauftragte der Bischofskonferenz ist.
Verhaltener zeigt sich Claudia Nothelle, Professorin für TV Journalismus an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Natürlich begrüße sie innovative Fernsehformate. „The Passion“ sei eine Chance, Menschen zu erreichen, die sonst noch nie etwas von der Passionsgeschichte gehört hätten. Aber es sei nicht so leicht, ein in den USA oder den Niederlanden bewährtes Format in den deutschen Fernsehmarkt zu integrieren. Die Deutschen seien eher kirchlich-distanziert. „Eine Gratwanderung wird es allemal: zwischen Unterhaltung und Dokumentation, zwischen Show und Glaubensbekenntnis.“ Als engagierte Katholikin sieht Nothelle die Grenze zum Spektakel fließend: „Ich befürchte, dass so manches um des Showeffekts, um des großen Namens, um der Einschaltquote willen geschieht und der Inhalt verschwindet.“ Vor Ort wird das Bistum Essen das TV-Event begleiten, allerdings ohne finanzielle organisatorische Unterstützung. Nur für die Prozession des Kreuzes braucht es die organisatorische Anbindung an die Kirchen: „The Passion“ wird als religiöse Veranstaltung angemeldet, denn das bedeutet weit weniger Sicherheitsaufwand als bei jeder andere Versammlung. Das Bistum verhandelt gerade, ob es diese Amtshilfe leisten kann. Darüber hinaus sichert es aber eine mediale Begleitung zu. Social-Media-Redakteur Jens Albers ist nicht zuletzt durch die Oster-Geschichte bei WhatsApp bekannt geworden. Er und das Team um Pressesprecher Uli Lota sondieren bereits Wege, die „Passion“ in den Sozialen Netzwerken voranzubringen. In den Niederlanden schaffte es die „Passion“ jeweils auf Platz 1 der Twitterfeeds des Tages. Albers zeigt sich verhalten optimistisch, dass es dem deutschen Format aus dem Stand ebenso gelingt – da es eben nicht nur von der Kirchen-PR abhängt: „Ich vertraue da auf den produzierenden Sender. Die verstehen ihr Handwerk und werden sicherlich für ordentlich Buzz sorgen.“
Sensibilität bei der Judas-Figur
Und da „Buzz“ die positive Kehrseite eines „Shit-Storms“ ist und besonders in Deutschland bei einem Thema eine historisch bedingte Sensibilität herrscht, haben die Macher viel Bedacht auf die ambivalente Rolle des Judas gelegt. Dilger möchte in jedem Fall vermeiden, dass die populäre TV-Inszenierung in den Ruch der Judenfeindlichkeit gerät – was bei einer allzu undifferenzierten Adaption der biblischen Textvorlage ein Leichtes wäre.
Und dann ist da noch der Vorwurf der Trivialisierung, der sicher im Nachgang im Netz laut werden wird. Aber rührt das nicht auch an den Kern des Passionsgeschehens? Selbst der Evangelist Lukas, der die Jesusgeschichte gerne in den großen historischen Bögen darstellte und den Tod des Gottessohnes einbettete in eine epische Sonnenfinsternis, selbst er konnte nicht verschweigen, dass die Todesumstände an sich äußerst trivial bis beschämend waren: Die Kreuzigung eines Menschen war im römischen Reich ebenso erbärmlich wie lausig. Wer sich mit Kierkegaards Diktum der „Gleichzeitigkeit“ auf eine historische Augenhöhe mit der Passion begibt, der wird viel Unrühmliches entdecken wie die ganze Banalität der menschlichen Bosheit. Ob dies der „Passion“ am 8. April bei RTL gelingt und wie es ihr gelingt, das bleibt abzuwarten. Immerhin wusste schon der dänische Philosoph, dass eine wirkliche Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben nicht ohne „Ärgernis“ vonstatten gehen kann.