Sibylle Lewitscharoffs neuer Roman „Von oben“Luftarchäologie

Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Berlin 2019
Sibylle Lewitscharoff: Von oben. Berlin 2019

In einer Luftreise jenseits seines Grabes blickt Sibylle Lewitscharoffs unbehauster Erzähler Wilhelm Görtz aus der Vogelperspektive hinab auf Berlin. Körper- und willenlos driftet er, „ein leichtes Nichts, beschwert von einer bleiernen Melancholie“, durch den Himmel und ist mit jener übernatürlichen Hör- und Sehkraft begabt, die nur den Trägen, den Müden und verwirrt Ortlosen eigen ist. Der Erzähler schwebt über der Hauptstadt, zu nah zur Erde und viel zu weit entfernt vom Himmel.

Sibylle Lewitscharoff ist eine Virtuosin der Einbildungskraft. In ihrem neuen höchst faszinierenden Roman mischen sich wilde und barocke Phantasien, allerlei Autobiographisches und Lektüre- und Meinungsfetzen. Die Grenzen von Diesseits und Jenseits verschwimmen und in den Schwebezuständen dieser Seelenreise stellen sich Selbsterkenntnisse ein, die nur mit dem Sterben zu gewinnen sind. Lewitscharoff folgt ihrem sanften und stillen Auf und Ab und durchmisst luftwärts die Schichten der Trägheit und die Tonarten der Schwermut bis am Ende nach einem mitreißenden Höhenflug der Verklärung der Absturz in die Selbsterkenntnis steht.

Dem Schweigen des Todes, das jedes menschliche Leben beschwert, verschattet und verdüstert und unvermeidlich nach unten zieht, wird hier die Freude am Aufstieg, am Aufschwung, an der Entzückung und am nach oben Hingerissensein entgegengesetzt. „Es ist“ – so Richard Kämmerlings – „eine Poetik des Vertikalen, in der alles in die Höhe, ins Planetarische, Lunare und Stellare strebt“. Eine Poetik des Vertikalen indes, die die irdischen Widerlager und dunklen Schwerkräfte auslotet: den Überdruss des Erlebten, den Mangel an Reue, die eigene Geschwätzigkeit und die Verstocktheit des geronnenen Lebens, die leeren Wiederholungen kraftloser Phantasie, die Stille und Einsamkeit des Verzagten. Der Wirbel der Phantasien und die vielen Tempowechsel des Erzählens, das wird mehr und mehr klar, umspielen ein Geheimnis und beschützen es gleichzeitig.

„Voller Bangen bewegen sich meine Gedanken“ – so der Protagonist von jenseits des Grabes – „in einer zittrigen Vergangenheit, während ich in einem Schwebezustand voller Schuld verharre, in den ich mit Fledermausohren hineinhorche, ohne daß ein Echo zu mir zurückkäme. Vielleicht fühlt sich mein Seelenmüll nicht genügend schmutzig an für das Aufkommen einer reinigenden Klarheit, nach der ich mich sehne“ (29–30).

Diese Luftreise ist dabei stets von menschenfreundlicher und listiger Komik bestimmt, heiter und lichtvoll: ein komischer Ernst, der Freude hat an den undurchschaubaren Verwicklungen und Kompliziertheiten des Lebens. Und ein Ernst, der die „leuchtenden Erinnerungen“ kennt, die für einige Menschen das Leben erfrischen können, leicht machen und zum Himmel steigen lassen, wie jene Erinnerung an eine nächtliche Ballonfahrt: „Die Fahrt über schneebedeckte Bäume eines dichten Waldes bei vollkommener Stille war so bezaubernd, daß wir andächtig verstummten. Ruhe herrschte, sanftmütige Ruhe über einer weißbestäubten Landschaft, die in einen tiefen Schlaf gesunken war, allenfalls durchbrochen von einsamen Vogelrufen“ (46).

Nach dem letzten Roman „Das Pfingstwunder“ (2016) belegt „Von oben“ einmal mehr die Einschätzung von Karl-Heinz Ott: „Sie stürzt sich auf die Letzten Dinge, als handle es sich um das Alltäglichste der Welt. Zwischen Himmel und Erde hat bei ihr, um mit Hamlet zu reden, tatsächlich weit mehr Platz, als unsere Schulweisheit sich träumen lässt. Inmitten unserer realistisch festgezurrten Literatur wagt sie den Sprung ins Luftige, Dunstige und Windige hinaus, dorthin, wo die Geister miteinander reden und nicht alles mit rechten Dingen zugeht, zumindest nicht in physikalischer Hinsicht.“

Lewitscharoff beflügelt die Phantasie des Lesers, die paradox genug sich wie ein scheues Velum um das Lebensgeheimnis des Erzählers legt, immer mehr von dessen Lebensdunkelheit und Lebensdickicht ahnt und ihm bis an den Punkt des Absturzes folgt. Alle Erinnerungen aber scheinen hier von den glücklichen und lichtvollen Aufstiegserfahrungen zu leben, die immer gemeinsame Erfahrungen sind und zu jenen seltenen geteilten Momenten gehören, die einem niemand nehmen kann, wohl auch der Tod nicht. Für jetzt bleibt der Wunsch: „Ein Luftschiff soll kommen und mich in die Höhe entführen, wo alles Gehörte und Gesehene im Reinen und Leichten ineinanderschwankt“ (125). Joachim Hake

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