Das älteste schriftliche Zeugnis der Bibel, das es gibt, findet sich weder auf Papyrus noch auf Leder und schon gar nicht auf Pergament. Weder auf einer steinernen Stele noch auf einer Tonscherbe haben diese schönen Worte die Epochen überdauert. Dem Herrn der Vorsehung gefiel es stattdessen, zwei filigrane, gerollte Silberrollen als älteste biblische Textträger auf uns kommen zu lassen:
Die sogenannten „Silberamulette aus Ketef Hinnom“ stammen aus dem 7. Jahrhundert vor Christus und wurden erst 1979 in Jerusalem ausgegraben. Ihre Entdecker brauchten mehrere Jahre, um die hauchzarten Silberschichten zu entrollen, ihre winzigen Fragmente zusammenzupuzzeln und aus den Versen schlau zu werden, die sie darauf eingeritzt fanden. Es handelt sich um eine alternative Version des bis heute gerne in Gottesdiensten zitierten Aaronitischen Segens: „Der Herr lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig...“ (Num 6,24-26).
So sind die Amulette ein rührendes Symbol für die Erforschung der Bibel und ihrer Ursprünge überhaupt: Diese Erforschung ist langwierig, bisweilen auch spekulativ und zufallsabhängig. Aber am Ende kann sie reiche Früchte tragen – und dafür, dass diese Forschungen schon so lange betrieben werden, ist es erstaunlich, wie viel Neues immer wieder ausgegraben und herausgefunden wird.
Die Alttestamentler Konrad Schmid und der Neutestamentler Jens Schröter haben der Entstehung der Bibel und ihrer Erforschung nun eine neue voluminöse Überblicksdarstellung gewidmet. Äußerste Detailfülle verbinden sie darin mit einer völlig uneitlen, leicht verständlichen Sprache: kurze, klare Sätze, und selbst die geläufigsten Fachwörter werden erklärt. Auch Leser ohne große Vorkenntnisse können sich so rasch über Überlieferungsfragen, aber auch über die parallele Ausprägung der christlichen und der jüdischen Bibel oder die Begründung der Vierzahl der Evangelienberichte informieren. Dabei erweist sich die Genese des heiligen Schriftkanons von Juden- und Christentum als derartig vielschichtiger Läuterungsprozess, als wollte die Bibel ihren eigenen, zu den Amuletten von Ketef Hinnom passenden Psalm beglaubigen: „Die Worte des Herrn sind lautere Worte, Silber, geschmolzen im Ofen, von Schlacken gereinigt siebenfach.“ (Ps 12,7). Lucas Wiegelmann