Den Blick auf die Wunde wagenDieses Herz ist anders

Die Neuinterpretation der Herz-Mariä- und Herz-Jesu-Verehrung in Berlin spricht direkt in die Gegenwart: Wer mit Maria auf die offene Wunde Jesu blickt, kann lernen, mit der eigenen Verwundbarkeit umzugehen und den Kreislauf der Viktimisierung zu durchbrechen.

Dieses Herz ist anders
© KNA

Jeder Schriftgelehrte, der ein Jünger des Himmels geworden ist, gleicht einem Hausherrn, der aus seinem Schatz Neues und Altes hervorholt“ (Mt 13,52). An diesen Vers aus den Evangelien hätte man zuerst bei der am 15. August 2020 vollzogenen Weihe des Erzbistums Berlin an die heiligen Herzen Jesu und Mariä denken können, anstatt gleich – wie dies hier und da in den kirchenpolitischen Kommentaren geschah – die Zukunftsfähigkeit einer Kirche, die in Zeiten der Krise solch liturgische Akte setzt, in Frage zu stellen. Freilich entspringt diese – weiterhin in breiten Kreisen gepflegte, gar von den Päpsten der jüngsten Vergangenheit auch praktizierte – Form der Frömmigkeit einem anderen Zeitalter und wird auch von vielen Gläubigen gerne „in eine bestimmte Ecke“ gedrängt. Genügt dies aber, um derart harte Urteile zu fällen?

Das katholische Denken lebt doch von der Akzeptanz des „sowohl ... als auch“, es generierte schon immer und soll auch weiterhin eine Kultur hervorbringen, die einem „bunten Blumen- und Gemüsegarten“ gleicht, in dem die Gläubigen, aber auch „alle Menschen guten Willens“ sich ihre eigenen „Frömmigkeitssträuße“ pflücken und binden können.

Die sowohl bei den sogenannten „aufgeklärten Gläubigen“ als auch bei den sogenannten „Reformverweigerern“ immer wieder festzustellende Versuchung, die Kirche zu einer Monokultur nach ihren Vorstellungen zu transformieren, beraubt sie ihrer Kreativität, macht sie nur noch steril. Und damit auch für die meisten Menschen überflüssig! Beiden Extremen würde ein Schuss echter Katholizität – die ja auch die Glaubensform der Anderen inkludiert und sich von ihr auch bereichern lässt – guttun. Der in Berlin vollzogene Kultakt lädt geradezu ein zu einer solchen Lernstunde in Sachen gegenwartsbezogener Spiritualität.

Bei der Wahl des Andachtsbildes, das an den Weiheakt erinnern sollte, hat nämlich das Erzbistum überrascht, weil es stückweise den Weiheakt zu modernisieren versucht. Nicht die weltweit verbreiteten traditionellen, süßlich-kitschigen Doppelbilder von den Herzen beider Protagonisten sind da zu sehen, sondern die aus dem 14. Jahrhundert stammende Pietà aus der Unterkirche der Sankt-Hedwigs-Kathedrale. So paradox es zuerst klingen mag: Dadurch wird ein gewaltiger Schritt in Richtung Transformation der traditionellen Andacht und der mit ihr verbundenen Inhalte in Richtung unmittelbarer Gegenwart vollzogen.

Warum dies? Vom Schmerz versteinert schaut Maria, die in der Sprache des Zweiten Vatikanischen Konzils als socia, als „Gefährtin“, ja als „Genossin“ bezeichnet wird, den Sohn an, nimmt aber in ihre Mutter-Sohn-Beziehung auch die Betrachter mit, inspiriert damit zur Empathie. Wohl auch zur Empathie mit all jenen Menschen, die in eine ähnliche Bodenlosigkeit fallen, im Jahr 2020 noch sprachloser wurden, weil sie sich oft von ihren verstorbenen Angehörigen nicht einmal verabschieden konnten, wurden doch viele von ihnen anonym oder fast anonym – im kleinsten Kreis – begraben.

Vom Bild geht kein Impuls aus zu dem wie auch immer verstandenen Aktionismus: Vielmehr nimmt das Bild all jene, die es wohlwollend betrachten, in jene Kultur des Alltags mit, die angesichts von Ausweglosigkeit zwar erstarrt, trauert, auch den Boden unter den Füßen verliert und sich doch noch an einen letzten Hoffnungshalm zu halten vermag. Auf diese Art und Weise darf ja der Wert der Religiosität auf dem elementarsten Niveau beschrieben werden.

Die Lebensgeschichte der den Verlust ihres Sohnes betrauernden Mutter gleicht auch dem Schicksal unzähliger Frauen von heute. Das biblische Wort vom „Schwert, das ihre Seele durchdringt“ (Lk 2,35), weist auf das Ausmaß der Vulnerabilität hin, dem dieses Leben ausgesetzt war. Armut und Gewalterfahrungen, Stressfaktoren und Schocks prägten ihre Lebensgeschichte, mündeten in Flucht und Asylsuche, verdichteten sich also in der Angst, die sich zunehmend in ihre Seele hineinfraß. In die Seele der Mutter eines Außenseiters, für viele gar eines Spinners, eines Menschen, der einen atemberaubenden Aufstieg erlebt hat und einen noch atemberaubenderen Fall.

Letzte Worte, distanzierte Anrede: „Frau, siehe, dein Sohn“

Das Schwert weist aber auch auf die Worte des eigenen Sohnes hin – Worte, die sie mitten ins Herz trafen: wie Steine! Worte, die ihr den Atem nahmen und die Augen mit Tränen füllten: Meine Mutter? Wer ist meine Mutter? Alle, die das Wort Gottes hören, es verstehen und danach handeln. Sie alle sind mir Schwester und Bruder und Mutter (vgl. Lk 8,21). Das hat gesessen. Genauso wie die vielen distanzierten Anreden: „Was willst du von mir, Frau?“ Misch dich nicht ein! „Meine Stunde ist noch nicht gekommen“ (Joh 2,4). Selbst da, wo die Stunde da war – nein, nicht die Stunde des Triumphes, sondern die Stunde des Todes –, selbst da kam ja doch nur die distanzierte Anrede: „Frau, siehe, dein Sohn“ (Joh 19,26). Es waren seine letzten Worte an seine Mutter. Zu groß war da der Schmerz, als dass der Spruch ihr noch einmal die Sprache verschlug.

Und nun sitzt sie da, den toten Sohn, dessen Brust aufgeschlitzt wurde, auf ihrem Schoß bergend. Sie hätte allen Grund dazu, ihre Wunden zu zeigen. Und doch tut sie es nicht. Selber so oft verletzt, kann sie nun nur noch die offene Wunde ihres Sohnes betrachten! So zeigt sie ihre Größe: als Frau und Mutter. Als Mensch! Die Betrachtung dieser Wunde kapselt sie nicht in ihrem eigenen Schmerz ein. Vielmehr verbindet diese offene Wunde die Frau, deren Seele das Schwert durchdrang, mit uns allen.

Und warum dies? Nicht erst Corona hat uns mit aller Deutlichkeit darauf aufmerksam gemacht, wie verwundbar unser Leben ist; das Virus hat auch all unsere Macht- und Allmachtsphantasien in Frage gestellt, damit auch viele unserer Strategien, wie wir mit unserer Vulnerabilität umgehen, aus den Angeln gehoben. Die Palette der von uns tagtäglich wahrgenommenen „offenen Wunden“ reicht von den unzähligen Missbrauchsschicksalen und existenziellen Katastrophen über die „strukturellen Wunden“ der Gesellschaft bis hin zu den Wunden, die wir inzwischen so deutlich an unserer Mutter Erde wahrnehmen.

Offene Wunde kann inzwischen geradezu für den Inbegriff des modernen Lebens stehen. Gewaltiger kann der Paradigmenwechsel von der vollmundigen Kultur der Achtundsechziger, die ja das Heil im gesellschaftskritischen Engagement gesehen hat, zur tagtäglich an der Überforderung durch die sozialen, politischen, ökologischen und nicht zuletzt biografischen Herausforderungen leidenden Gegenwart nicht sein. Der einzige rote Faden, der beide Kulturen – die der Achtundsechziger des 20. Jahrhunderts und die der Zwanzigerjahre des 21. Jahrhunderts – generationsübergreifend verbindet, ist die Geste der Anklage, der Beschuldigung der „Verantwortlichen“ und die damit verbundene Sündenbockjagd!

Der Vulnerabilität ausgeliefert, inszenieren wir uns und unsere Lebenslust auf eine Art und Weise, wie dies kaum eine Generation zuvor je getan hat, und werden damit auch selber zu Opfern gemacht. Wir werden viktimisiert, viktimisieren uns selber und viktimisieren andere Menschen. Und inzwischen haben wir auch gelernt, wie man aus dem Opferstatus Profit, wie man aus dem Bild der offenen Wunde Kapital schlagen kann. Zumindest in finanzieller Hinsicht.

Die Grundsatzfrage bleibt damit aber kaum beantwortet. Werden die Wunden dadurch geheilt? Können Wunden dadurch geheilt werden, dass neue Wunden aufgerissen werden? Gibt es einen anderen Ausweg aus dem Teufelskreis der immer neu aufgerissenen Wunden als den in unserer Kultur inzwischen so selbstverständlich gewordenen Akt der Anklage? Was bedeutet es, dass sich politische, mediale und auch kirchliche Diskurse im Kontext der uns alle so schmerzhaft zusetzenden Überforderung zum Verwechseln ähnlich geworden sind?

Wir tun uns schwer, weil wir die Wunden nicht mehr verstehen

Die folgende Frage ist angesichts dieses kulturpolitischen Torsos keineswegs abwegig: Kann ein bewusster Weiheakt, der Akt der Hingabe an diesen Einen, dessen Brust aufgeschlitzt wurde, eine Alternative zum gängigen Umgang mit Überforderungen anzeigen, gar ein erster Schritt in der Schule der Resilienz sein?

Wie soll die Frage verstanden werden? Das Herz-Jesu-Bild und die Herz-Jesu-Frömmigkeit bereiten dem modernen, auf seine Autonomie so stolzen Menschen große Schwierigkeiten, nicht nur der kitschigen Ikonografie und auch nicht der ambivalenten geschichtlichen Reminiszenzen eines politisch instrumentalisierten Kultes wegen. Wir tun uns deswegen schwer, weil wir – gerade als Christen – es kaum mehr schaffen, Bilder und Narrative der offenen Wunden heute anders zu verstehen denn als Mahnung und Anklage. Die ihren toten Sohn auf dem Schoß bergende Mutter klagt aber nicht an. Die katholische Mariologie setzt bei der Betrachtung des Bildes bewusst die „Augen des Glaubens“ ein. Als Erste hat Maria begriffen, dass diese Wunde anders ist als die offenen Wunden des Hasses und der Destruktivität. Diese offene Wunde ist anders, weil derjenige, bei dem sie aufgerissen wurde, ein anderer ist.

Somit weist sie auf das offene Geheimnis Christi hin! Er starb den Gewalttod. Starb sogar mit dem offenen Schrei nach Gott. Seine Brust wurde aufgeschlitzt, auf dass sein Geheimnis offengelegt wird, und dieses heißt: An diesem einen Menschen hat es nichts, aber gar nichts gegeben, was nicht auf heilende Beziehung ausgerichtet war und auch ist. Deswegen kann auch diese eine Mutter aus dem Status des Opfers kein Kapital schlagen, sie definiert sich nicht durch das, was sie erlitten hat, rechnet nicht auf und träumt auch nicht von der Vergeltung.

Vielmehr nimmt sie als socia, als unser aller Gefährtin, uns – die Gläubigen – in ihre Schule der Betrachtung der heilenden Wunde mit. Der Akt der Weihe, so altertümlich die Kultpraxis auch aussehen mag, stellt demnach nichts anderes dar als eine bewusste Positionierung in ihrer Haltung. Es ist letztendlich die Haltung der Anbetung: eine Haltung, die nach außen hin oft kaum unterscheidbar ist von der Haltung jener, die vom Schmerz bloß versteinert, vom Gefühl der Sinnlosigkeit bloß übermannt sind, in deren Seele sich nur noch die Leere ausbreitet und Gleichgültigkeit.

Anbetend richten wir mit Maria unseren Blick auf „Ihn“, der uns heilen kann. Seinerseits lenkt er unseren gläubigen Blick auf all jene Menschen, die auch tagtäglich mit ihren Wunden leben müssen. Auf dass wir und sie alle zur Osterfreude geführt werden. Auch zu jener Osterfreude, die niemals endet!

Die „kritischen Leserinnen und Leser“ werden vielleicht diese Reflexionen zu einer frommen Meditation degradieren. Es sei jedoch die Frage erlaubt, ob die in der öffentlichen Diskussion stattfindende permanente Reduktion kultischer Vollzüge auf die religionspolitischen und kirchenstrategischen Aspekte nicht verhängnisvoll ist. Die Revitalisierung einer öffentlichen Diskussion über tiefere spirituelle Aspekte des Katholizismus ist ein Gebot der Stunde.

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