Darf ein Lehrer im Unterricht ein Kreuz oder ein Kopftuch tragen – oder nicht? Die Frage erhitzt seit Jahren die Gemüter. Im Fall Berlin kulminierte die Auseinandersetzung im August in einem neuen Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Das Berliner Neutralitätsgesetz ist nach Einschätzung der Erfurter Richter in seiner aktuellen Form verfassungswidrig. Ein generelles Verbot religiöser Symbole verstoße demnach gegen die Religionsfreiheit – und damit ein Grundrecht.
Das Berliner Neutralitätsgesetz untersagt Beschäftigten in bestimmten staatlichen Institutionen wie Schulen, Justizvollzug und Rechtspflege das Tragen religiöser und weltanschaulicher Symbole und Kleidung. „Unverhältnismäßig“ – so erklärte das Bundesarbeitsgericht. Es berief sich auf das Grundgesetz, außerdem auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Das hatte bereits 2015 entschieden, dass das Verbot religiöser Symbole im Bildungsbereich nur dann zulässig ist, wenn der Schulfrieden konkret gefährdet ist.
Eine solche Gefahr lag im vorliegenden Fall nach Auffassung der Richter nicht vor: Eine Informatikerin, bekennende Muslimin, hatte sich 2017 als Quereinsteigerin für den Schuldienst an einer staatlichen Schule in Berlin beworben. Im Vorstellungsgespräch trug sie ein Kopftuch. Die Schulaufsicht verwies sie auf das Neutralitätsgesetz, im Unterricht müsse sie das Kopftuch ablegen. Nachdem die Bewerberin dazu nicht bereit war, wurde sie abgelehnt. Das Arbeitsgericht gab ihr Recht und sprach der Klägerin eine Entschädigung zu.
In der Berliner Koalition führte der Fall zu Spaltungen. Soll man das Neutralitätsgesetz anpassen und beibehalten? Oder sich davon verabschieden? Linke und Grüne begrüßten weitgehend die Entscheidung des Gerichts. Bildungsstaatssekretärin Beate Stoffers (SPD) erklärte dagegen, die SPD halte am Neutralitätsgesetz fest. In der „Abendschau“ des rbb kündigte sie sogar an, man werde eine Verfassungsbeschwerde oder den Gang zum Europäischen Gerichtshof prüfen.
Selbst bei den Kirchen fielen die Reaktionen keineswegs einheitlich aus. Jörg Antoine, Konsistorialpräsident der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (EKBO), befürwortete die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vehement: „Nach über fünf Jahren ist es an der Zeit, im Berliner Neutralitätsgesetz dem Grundrecht der Religionsfreiheit mehr Beachtung zu schenken.“ Erzbischof Heiner Koch äußerte sich zurückhaltender. Die Fragen nach religiösen Symbolen in der Öffentlichkeit und staatlicher Neutralität seien entscheidend „für unser friedliches Zusammenleben in einer pluralen Gesellschaft“, so Koch. Er regte dazu an, die Fragen gemeinsam, mit den staatlichen Stellen, zu diskutieren.
Kopftuch, Kreuz und Fisch
Das Gesetz ist seit Jahren umstritten. In Kraft getreten ist es 2005. Noch bis 2003 hatte es das Bundesverfassungsgericht weitgehend für rechtens befunden, wenn öffentliche Schulen ihren Lehrkräften verbieten, während des Unterrichts religiöse Symbole und Kleidung zu tragen. Eine entscheidende Wende erfolgte mit dem sogenannten „Kopftuchurteil“: Eine muslimische Lehrerin hatte sich in Baden-Württemberg um einen Posten als Beamtin an einer staatlichen Schule beworben. Ihr Antrag wurde abgelehnt, mit der Begründung, das Kopftuch sei „nicht nur religiöses, sondern auch politisches Symbol“. Es widerspreche damit dem „Gebot der staatlichen Neutralität“.
Der Streitfall ging durch mehrere gerichtliche Instanzen, bis zum Bundesverfassungsgericht. In seinem abschließenden Urteil befand es im Jahr 2003, das Verbot finde im geltenden Recht „keine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage“. Den Landesgesetzgebern blieb es damit überlassen, ob und wie sie ein Verbot durchsetzen oder nicht.
Baden-Württemberg preschte als erstes vor. Weitere folgten. Darunter auch Berlin, mit dem Neutralitätsgesetz. In der Hauptstadt ist die Regelung vergleichsweise strikt formuliert. Das Gesetz sieht ein allgemeines Verbot aller religiösen und weltanschaulichen „sichtbaren“ Symbole und Kleidungsstücke vor. In anderen Bundesländern unterliegt das Verbot teilweise Einschränkungen.
Angeheizt wurde die Debatte 2017 durch den Fall einer evangelischen Lehrerin, der an einer Berliner Schule das Tragen eines Kreuzes untersagt worden war. Die Lehrerin verlor den Rechtsstreit, trug wenig später stattdessen einen Fisch als christliches Symbol um den Hals. Die Senatsbildungsverwaltung erstellte daraufhin einen eigenen „Leitfaden für Schulleitungen“ für das Tragen religiöser Symbole in der Schule.
Die konkrete Abgrenzung religiöser Symbole im Alltag ist komplex, Deutung und Handhabung wandeln sich. Ersichtlich wird das an einem 2005 erstellten Gutachten, das die Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie anfertigen ließ – mit der Fragestellung: Verstößt das Neutralitätsgesetz gegen das Grundrecht auf Glaubensfreiheit? Gutachter Wolfgang Bock, Juraprofessor an der Universität Gießen, vermerkte in der Einführung, dass im Verlaufe der Jahre „Kritik am Kopftuchverbot an Raum“ gewonnen habe. Integration und die damit verbundene Stärkung der Grundrechte seien in den Vordergrund gerückt. Der Gerichtsentscheid vom August scheint diese Entwicklung zu bestätigen. Ersichtlich wird hier aber auch, wie die Kompetenzen von Staat, religiösen Einrichtungen und Privatperson im Zuge so einer Veränderung am konkreten Fall immer wieder neu austariert werden müssen.
Pater Manfred Kollig, Generalvikar des Erzbistums Berlin, erklärt im Gespräch mit der „Herder Korrespondenz“: „Das Bundesarbeitsgericht bestätigt die Argumentation des Berliner Landesarbeitsgerichts, das sich wiederum auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezieht. Das Urteil ist in diesem Kontext zu sehen.“ Mit einem konkreten Urteil zum Fall an der Berliner Schule hält sich Kollig als Vertreter des Erzbistums eher zurück. Er befürworte das Zeigen religiöser Symbole in der Öffentlichkeit. Er wisse aber auch, „dass man Symbole positiv und negativ einsetzen kann“: „Ich billige deshalb dem Staat zu, dass er genau hinsieht, aus welcher Motivation religiöse Symbole eingesetzt werden: als Bekenntnis, als Provokation oder Kampfansage?“ Allein schon die Deutung und Beurteilung religiöser Symbole aber stellt vor Herausforderungen: „Gerichte müssen eine Entscheidung als Bestandteil eines weltanschaulich-neutralen Staates treffen“, sagt Georg Essen, Professor am neuen Zentralinstitut für Katholische Theologie der Berliner Humboldt-Universität. „Der kann aber nicht ohne weiteres definieren, was zu einer Religion gehört und welche Bedeutung ein Symbol für die Religion hat.“ Er sei also angewiesen auf Beratung von außen. Durch wen und wie kann eine solche Beratung aber stattfinden?
„Symbole gehören zur Genetik von Religion“
Am Stellenwert von Symbolen für Religionen bestehen kaum Zweifel. „Symbole gehören zur Genetik von Religion dazu, sie sind gewissermaßen ein Sinnbild des Geglaubten“, so Essen. Zwischen den wie auch innerhalb der Glaubensgemeinschaften gebe es aber ganz unterschiedliche Auslegungen. Dazu seien im Verlaufe der Geschichte immer wieder neue Entwicklungen im Verständnis von religiösen Symbolen zu beobachten. „Viele Menschen wollen heute mit religiösen Symbolen und Kleidung anderen zeigen, wer sie sind und was sie ausmacht“, sagt Essen. Es geht um Identität.
Sobald religiöse Symbole nach außen treten, werden sie für andere wahrnehmbar. Was nicht zwangsläufig zum Problem werden müsste – allerdings: „Wir haben uns im Zuge der Aufklärung sehr daran gewöhnt, dass Religion in der Narration etwas Innerliches ist und damit unsichtbar“, so Klaus von Stosch, Professor für Systematische Theologie in Paderborn. „Genau das aber steht dem Wesen des Katholischen zum Beispiel diametral entgegen.“ Religion werde „oft als etwas, wahrgenommen, das für das Leben nicht nötig“ ist, sagt auch Generalvikar Manfred Kollig. „Damit wird Religion zur Privatsache erklärt“, sagt Kollig.
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichtes vom Jahr 2003 gibt jenem Bedürfnis der Religionsfreiheit als äußerliches Bekenntnis ein Stück weit nach: Das Grundrecht der Glaubensfreiheit, so heißt es hier, erstrecke sich „nicht nur auf die innere Freiheit, zu glauben oder nicht zu glauben, sondern auch auf die äußere Freiheit, den Glauben zu bekunden und zu verbreiten“. Beim Neutralitätsgesetz sind jener „äußeren Freiheit“ aber Grenzen gesetzt. Verboten sind laut Gesetzestext all die religiösen Symbole, die „sichtbar“ sind, beziehungsweise Kleidungsstücke, die „auffallend religiös“ sind. Die Deutungshoheit über religiöse Kleidung und Symbole liegt damit hauptsächlich beim Betrachter.
Befürworter des Neutralitätsgesetzes unterstützen das. Neutralität, so etwa die Auffassung der Initiative „Pro Berliner Neutralitätsgesetz“, sei im öffentlichen Raum eine Sache des Vertrauens. Argumentiert wird unter anderem mit dem Prinzip der Befangenheit: Ein Richter – auch er ist erfasst vom Neutralitätsgesetz – kann laut Paragraf 42 der Zivilprozessordnung abgelehnt werden, wenn ein Grund zur Besorgnis der Befangenheit gegeben ist. Im Vordergrund steht damit das Misstrauen anderer – und nicht die tatsächliche Befangenheit.
Walter Otte, Jurist und Sprecher der Initiative Pro Berliner Neutralitätsgesetz, zeigt sicht enttäuscht vom Urteil des Bundesarbeitsgerichts. Den Verweis auf das Kriterium einer „konkreten Gefahr“ im Urteil vom August lehnt er ab. „Konkrete Gefahr heißt, eine Gefahr muss unmittelbar bevorstehen oder bereits eingetreten sein“, so Otte. „Eine solche Situation ist aber bei der Einstellung einer Lehrerin, die bislang an der Schule nicht tätig ist, nur schwer vorstellbar.“ Seine Initiative fordert ein pauschales Verbot religiöser und weltanschaulicher Symbole bei der Ausübung öffentlicher Ämter. Und damit eine strikte Trennung von Religion und Staat im öffentlichen Raum.
Allerdings gilt die Bundesrepublik Deutschland verfassungsrechtlich zwar als säkularer, aber nicht als laizistischer Staat wie etwa Frankreich. „Neutralität in Deutschland bedeutet nicht Reinheit von Religion im öffentlichen Raum, sondern eine Form der Kooperation“, sagt Klaus von Stosch. Manfred Kollig wünscht vor diesem Hintergrund eine breitere, öffentliche Diskussion über „Neutralität“. Ansätze dazu gab es bereits: Noch vor dem Erlass des Neutralitätsgesetzes erörterte beispielsweise der katholische Rechtswissenschaftler Ernst-Wolfgang Böckenförde verschiedene Formen der staatlichen Neutralität, schlug für Religionen das Modell einer offenen Neutralität vor: Gemeint sei „das Bekenntnis und die Lebensführungsmöglichkeit gemäß der Religion auch im öffentlichen Bereich, soweit mit den weltlichen Zwecken der staatlichen Ordnung vereinbar, durch die Rechtsordnung zugelassen und in sie hineingenommen“.