Waren die Kirchen zu leise und zu passiv in der Corona-Krise?
Konstantin von Notz: Nein, die Kirchen haben sich nicht falsch verhalten. Es ist für uns alle die erste Pandemie, die wir erleben. Das kannten wir bislang nur aus dem Geschichtsbuch und wir sammeln alle Tag für Tag neue Erfahrungen – und so geht es den Kirchen auch. Die Situation war und ist für uns alle alles andere als leicht. Die Kirchen sind extrem wichtig für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, vielen Menschen geben sie Orientierung und Sinnstiftung, gerade in einer Krisenzeit.
Wie wird sich die Pandemie auf das religiöse Leben auswirken?
Von Notz: Persönlich erlebe ich es als harten Schlag, auf Gottesdienste in der gewohnten Form verzichten zu müssen; die Gemeinschaft, der Gesang, all das fehlt. Aber diese Pandemie lehrt eben auch die radikale Existenzialität von Problemen: Wie groß Veränderungsdruck in kürzester Zeit werden kann, das ist derzeit erlebbar. Ob nach der Krise mehr oder weniger Menschen in die Kirche gehen und religiöse Gemeinschaft suchen, ist eine spannende Frage.
Wie beurteilen Sie denn demgegenüber die schwindende Bedeutung der Kirchen angesichts von Mitgliederschwund und allgemeiner Säkularisierung?
Von Notz: Sicher gibt es massive Probleme, denen sich die Kirchen stellen müssen. Das Entscheidende aber ist, dass sie ihren Kern nicht verlieren. Das Christentum gibt es seit 2000 Jahren, da braucht man zur Beurteilung schon eine längerfristigere Betrachtungsweise. Und es gibt in unserer Gesellschaft nach wie vor ein großes religiöses Bewusstsein und das Bedürfnis dach Religion und Transzendenz. Es ist zentrale Aufgabe der Kirchen, das aufzugreifen und eine Ansprache zu finden, die die Menschen erreicht.
Was ist denn der Kern kirchlicher Arbeit?
Von Notz: Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Kirchen bei all ihren Aktivitäten zu unklar in ihrem Markenkern geworden sind. Nehmen Sie das Beispiel kirchliches Arbeitsrecht, darüber reden wir in der Politik viel. Ich gestehe den Kirchen das Selbstbestimmungsrecht voll zu. Es verwundert mich dann aber schon, dass sich kirchliche Betriebe oft wenig Mühe geben, sich in besonderer Weise auszuzeichnen. Um es verkürzt zu sagen: Wenn ich Sonderregelungen beanspruche, könnte ich schon Wert auf Dinge wie eine Morgenandacht in meinem Arbeitsumfeld legen. Da gibt es für mich ein Missverhältnis. Wenn das Einzige, woran kirchliche Mitarbeiter merken, dass sie bei einem kirchlichen Arbeitgeber arbeiten, ist, dass sie weniger Rechte haben, stimmt etwas nicht.
Das kirchliche Arbeitsrecht liegt Ihnen am Herzen, darüber haben Sie promoviert. Ist es für Sie denn akzeptabel, dass im katholischen Bereich etwa wiederverheiratete Geschiedene weniger Schutz genießen, als das säkular festgeschrieben ist?
Von Notz: Das sehe ich durchaus kritisch, die Rechtsprechung weist hier ja auch den Weg. Aber ich wende mich dagegen, dass die Politik jetzt den Kirchen sagt, wie sie das theologisch besser machen sollten. Da sind bei uns zum Glück die Sphären getrennt. Für mich ist es allerdings persönlich schon kurios, die Frage kirchlicher Loyalität ausgerechnet am Ehestand festzumachen. Da würde ich auch gerne die Frage nach dem Kern stellen. Offenkundig gelingt es den Kirchen oft nicht, ihre eigentliche Botschaft zu vermitteln – stattdessen stehen viel zu oft Nebenkriegsschauplätze im Vordergrund.
So viel Interesse für den kirchlichen Kern ist Ihnen nicht in die Wiege gelegt worden. Sie sind areligiös aufgewachsen, haben dann mit 13 begonnen, sich für den Glauben zu interessieren und sich taufen lassen. Wie kam es dazu?
Von Notz: Meine Eltern sind maximal liberale Menschen gewesen. Sie waren nicht direkt antikirchlich, aber sie meinten, man sollte Kinder nicht fremdbestimmen. Ich kann mich noch an das Gespräch mit meiner Mutter erinnern, als sie mir erklärte, dass einige Jugendliche sich konfirmieren lassen würden. Wenn ich Lust hätte, könnte ich auch in den Konfirmandenunterricht gehen, das dauere ein Jahr. Ich könne frei wählen, ob ich da mitmachen wolle. Ich wollte, und so bin ich da hereingewachsen. In der Gemeinde in Frankfurt gab es einen guten Pfarrer und eine gute Jugendarbeit, es wurde viel diskutiert und ich habe mich wohl gefühlt. Ich fand das spannend, habe dann selbst lange Jugendarbeit gemacht und bin darüber ein religiöser Mensch geworden.
Sie haben einmal gesagt, Sie seien ein frommer Protestant geworden. Was bedeutet das?
Von Notz: Ich bin ein gläubiger Mensch. Das bedeutet, dass ich jeden Tag zu meinen religiösen Überzeugungen, aber auch zu meinem religiösen Straucheln einen Bezug herstellen kann. Es ist bei mir ein Glaubensfundament gewachsen, auch durch Gespräche mit engen Freunden. Wenn man das ausspricht, ist das sehr abstrakt. Aber ich habe schon in der Jugendarbeit gemerkt, in dem Arbeiten mit den sehr verschiedenen, teils auch schwierigen Kindern, dass für mich eine Transzendenz-Erfahrung hinzukommt, dass es etwas neben der rein logischen Welt gibt.
Können Sie eine Bibelstelle nennen, die man lesen sollte, um Sie besser kennenzulernen?
Von Notz: Die Bibel ist voller starker Stellen, die faszinierend sind. Es gibt die Gefahr, es zu trivialisieren, wenn man eine dann benennt. Das gilt besonders für die bekannten Stellen. Aber für mich ist nach wie vor die Weihnachtsgeschichte eine ganz zentrale Erzählung, die man keineswegs schon zu oft gehört haben kann. Ganz im Gegenteil, für mich ist sie immer wieder neu. Übrigens selbst bei meinen Eltern wurde Heiligabend die Weihnachtsgeschichte vorgelesen, vielleicht aus einer Art preußischem Pflichtgefühl heraus. Ja, und ich komme auch nicht ohne den „Verlorenen Sohn“ aus. Es ist keineswegs banal, es ist eine große Geschichte, ein ganz großes Bild für unser Miteinander und das Miteinander mit Gott.
Hat Ihr Engagement bei den Grünen etwas mit Ihrem Protestantismus zu tun?
Von Notz: Nun, es war nicht unbedingt gottgegeben, dass ich bei den Grünen gelandet bin. Es hätte auch anders kommen können. Während des Studiums habe ich überlegt, wo ich mich engagieren könnte. Dann habe ich mir das in Heidelberg bei den Grünen mal angeschaut und sympathische und offene Leute getroffen. Meine Motivation aber kam damals aus einer anderen Erfahrung.
Welche war das?
Von Notz: Es gab 1992 den Brandanschlag auf türkische Familien in Mölln. Obwohl ich da nie gelebt habe, habe ich einen starken Bezug zu meiner Geburtsstadt. Der Anschlag hat das Bild komplett gedreht. Dann kam 1993/1994 die Asylgesetzänderung. Man wollte damals Druck aus dem Kessel nehmen, um den rechten Brandstiftern etwas entgegenzusetzen. Das fand ich zutiefst empörend. Ich bin dann mit ein paar eher konservativen Juristen nach Bonn gefahren, um dagegen zu demonstrieren. Das war für mich persönlich eine Weichenstellung Richtung grüne Partei. Für mich hatten die die richtige Haltung. Auch wenn es schlicht klingt, habe ich es damals so empfunden: Man darf nicht das Grundgesetz ändern, weil Leute Häuser anzünden.
Hat denn für Ihren politischen Werdegang auch die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und vielleicht auch mit dem Wirken Ihres Ur-Großvaters Ferdinand von Notz eine Rolle gespielt?
Von Notz: Ich habe mich politisch immer definiert aus der Auseinandersetzung mit Deutschlands Versagen im Dritten Reich. Mein Vater wurde im Krieg Vollwaise, mein Großvater ist 1942 in Russland gefallen, auch meine Großmutter ist im Krieg gestorben. Mein Vater ist dann von meinem Ur-Großvater, nach dem Sie gefragt haben, großgezogen worden. Dieser Ferdinand von Notz wäre in diesem Jahr 150 Jahre alt geworden. Mein Vater ist also nicht bei seinem eher progressiven Vater, sondern seinem sehr konservativen Großvater, eben dem Urbild eines preußischen Soldaten, aufgewachsen. In der Tat bin ich dadurch auch an dieser Generation näher dran.
Welche Lehren ziehen Sie aus der deutschen und Ihrer Familiengeschichte?
Von Notz: Mein Engagement gegen Antisemitismus und Rassismus rührt auch daher. Wenn Antisemitismus sich in einer Gesellschaft wieder ausbreitet, zeigt das, dass es zwingend ist, endlich entschlossen zu handeln. Mich erschüttert, wie uralte Klischees und ressentimentgeladene Erzählungen sich derzeit wieder breitmachen, auch auf den „Corona-Demos“. Ich wünsche mir auch von den Kirchen, dass noch stärker auf diese lange tradierten antisemitischen Muster aufmerksam gemacht wird.
Das Spannungsverhältnis von Grünen und Kirchen gehört zum Gründungsrepertoire der Partei. Viele Themen sind innerhalb der Grünen strittig. Beispiel Ablösung der Staatsleistungen. Sie sind da nachsichtig mit den Kirchen?
Von Notz: Keineswegs bin ich nachsichtig. Aber ich achte das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen. Ich wünsche mir, dass das Thema Staatsleistungen im nächsten Jahr etwa in einem schwarz-grünen Koalitionsvertrag seinen Platz findet. Diese Abhängigkeitsverhältnisse tun beiden Seiten nicht gut und müssen beendet werden.
Es gibt aber auch den Vorschlag, die Staatsleistungen einfach zu beenden und keine Ausgleichszahlungen mehr zu leisten.
Von Notz: Das wäre schlicht verfassungs- und vertragswidrig. FDP, Linke und Grüne haben einen Vorschlag gemacht, die Kirchen und die Große Koalition waren noch vorsichtig. Aber das liegt jetzt auf dem Tisch. Das ist nichts, wofür sie Applaus bekommen, weder von den Kirchen noch von der Öffentlichkeit. Aber es wäre zur Klärung des Staat-Kirche-Verhältnisses ein wichtiger Schritt. Mir ist zudem noch etwas ganz wichtig: Die Kirchen leisten eine wichtige Arbeit auch im ländlichen Raum. Wir reden immer darüber, dass wir den ländlichen Raum stärken wollen, dann dürfen wir den Kirchen nicht die Möglichkeiten nehmen, auch etwas in der Fläche zu tun.
Was meinen Sie zur Kirchensteuer? Es gibt Leute, die sagen, ohne dieses Geld würden sie sich wieder besser dem Kern zuwenden können.
Von Notz: Das sehe ich nicht so. Ich halte die Kirchensteuer in Deutschland für ein Erfolgsmodell. Ich habe ein Jahr in den USA gelebt. Dort habe ich mitbekommen, wie sich Glaubensgemeinschaften entwickeln, die sich zur Finanzierung komplett der Logik von Angebot und Nachfrage unterwerfen müssen. Das führt mitunter zu Entertainment und nicht zu einer religiösen und unabhängigen Entwicklung. Das Ziel ist dann allein, dass die Leute am Sonntag kommen, mit einem guten Gefühl wieder gehen und vor allem viel spenden und in einer Woche wiederkommen. Aus der Unabhängigkeit, die die Kirchen durch die Kirchensteuer bei uns haben, erwächst auch eine eigene Stärke und Kraft.
Ist es denn so falsch, dass die Leute sich in der Kirche wohl fühlen?
Von Notz: Neulich war ich mit Freunden sonntags in einer Freikirche. Da gibt es Tee und Kaffee während des Gottesdienstes, alles ist total nett, super Musik und ein großartiges Programm. Aber es fühlt sich eher an wie Kino. Die Botschaft ist: Wir stärken Dich, damit Du wieder voll motiviert und super erfolgreich in die neue Woche starten kannst. Für alles andere ist kein Platz. Ich halte das für keine gute Entwicklung.
Zum Themenkomplex Religion in Deutschland gehört der Islam. Durch die problematische Rolle der Ditib wird eine Einbeziehung des Islam in unser Religionsverfassungsrecht schwierig. Wie kann eine Lösung aussehen?
Von Notz: Die Verbindung von Religion und Staat in der Türkei hat Auswirkungen bis zu uns, das ist richtig. Wir dürfen aber auch nicht die Vielfalt des Islam verkennen. Die Ditib ist eben nur ein Fenster auf das islamische Leben, das deutlich bunter ist, als wir oft meinen. Wir müssen unser Prinzip der Kooperation bei gleichzeitiger Distanz, das wir mit den Kirchen pflegen, auch auf andere Religionsgemeinschaften übertragen. Die Islamkonferenz kommt da derzeit nicht weiter, sie wird vom Bundesinnenminister eher lieblos als engagiert betreut. Das Thema wird vernachlässigt, das ist schlecht für die Integration. Das Verdrängen des Problems und das auf Zeit spielen führt zu nichts.
Was muss passieren?
Von Notz: Es braucht einen Neustart in der Integrationspolitik. Wir brauchen Regelungen, die Rechte und Pflichten auch der islamischen Gemeinschaften klar benennen und festschreiben. Es fehlt an so einem klaren Signal. Im Übrigen ist unsere religionsverfassungsrechtliche Ordnung, die Autonomie und Kooperation abwägt, für viele weltweit ja geradezu vorbildhaft.
Integration macht sich auch immer an konkreten Themen fest. Wie bewerten Sie die Frage des Kopftuches etwa im Gerichtssaal?
Von Notz: Ich habe kein Problem mit einer Frau, die im Gerichtssaal ein Kopftuch trägt. Jeder kann Artikel 4 des Grundgesetzes, die Glaubensfreiheit, für sich in Anspruch nehmen. Nur die Wand in Bayern kann es nicht. Deswegen kritisiere ich die CSU-Politik deutlich. Für mich hat das Kruzifix an der Wand im Gerichtssaal nichts zu suchen. Man darf auch an den Bundesadler kein Kreuz dranschrauben.
Warum lehnen Sie das Kreuz an der Wand ab, aber eine Richterin mit Kopftuch nicht?
Von Notz: Der Staat ist neutral. Die Menschen, die diesen Staat ausmachen, sind es aber nicht, sie sind fromm oder säkular, sie können auch eine Nonne sein oder ein Kopftuch tragen. Das alles erträgt die Gesellschaft nicht nur, sondern das macht sie aus. Sie müssen sich nur an die Gesetze halten. Deswegen kann meiner Ansicht nach auch eine Richterin ein Kopftuch tragen, als Ausdruck ihrer individuellen Religionsfreiheit. Ein Richter kann auch im Gerichtssaal eine Kippa auf dem Kopf haben und gute Urteile schreiben. Die Neutralität unseres Staates erweist sich durch Toleranz und nicht durch eine Religionsferne seiner Bürgerinnen und Bürger.
Aber Justitia ist doch blind.
Von Notz: Eben, deswegen sieht Justitia auch das Kopftuch nicht. Dass ein Richter eine neutrale Person wäre, die nicht auch ein individuelles Wertegerüst mit sich trägt, das ist eine Fiktion. Es ist Augenwischerei, diese Fiktion aufrechtzuerhalten, indem man religiöse Symbole verbannt. Aber ich höre mir auch gegenteilige Positionen an und akzeptiere, dass einige das Kopftuch einer Richterin als einen Grenzbereich der Religionsfreiheit ansehen. Aber ich bleibe dabei: Der weltanschaulich neutrale Staat muss die Religiosität seiner Bürgerinnen und Bürger nicht nur ertragen, sondern sie achten.
Der weltanschaulich neutrale Staat kommt bei Fragen von Lebensanfang und Lebensende an seine Grenzen. Wie bewerten Sie das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Sterbehilfe?
Von Notz: Die jüngste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts habe ich nicht mit Freude aufgenommen. Sie wird uns in der Gesetzgebung große Probleme machen. Ich bin in der Sache da keineswegs fundamentalistisch, aber es wird schwierig, in dem Bereich Regelungen zu formulieren, die dem Urteil gerecht werden.
Um es etwas verkürzt zu fragen: Gibt es Ihrer Meinung nach ein einklagbares Recht auf Selbsttötung?
Von Notz: In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts wird „das Selbst“ betont. Dabei ist die Autonomie ja eigentlich gar nicht strittig. Doch sobald zur Verwirklichung der individuellen Autonomie eine wie auch immer geartete Fremdtötung gefordert wird, verliert man ethisch den Boden unter den Füßen. Das ist eine ganz dünne Linie. Wenn Ärzte Gift verabreichen, stellt das alle unsere Grundsätze auf den Kopf. Das merken wir doch auch in der Corona-Pandemie, wie schnell wir unseren Wertekonsens verlieren können. Da gibt es Leute, die sagen: Wir dürfen keine Partys mehr feiern, nur damit ein paar alte Leute nicht ein paar Monate früher sterben. Ich bin da teilweise fassungslos, welche Leute in der Sterbehilfe-Debatte sich da alles zusammenfinden.
Und was muss der Bundestag jetzt tun?
Von Notz: Wir werden eine breite Debatte führen. Die Fraktionsdisziplin wird sicher aufgehoben werden. Ich wünsche mir, dass der Gesetzgeber gerade an der Schwelle von Leben und Tod sich einem hohen ethischen Maßstab unterwirft und jede Form von Kommerz und Normalisierung ausschließt. Meiner Meinung nach darf der Staat nie den Tod auf dem Silbertablett präsentieren. Schutz des Lebens ist immer seine ureigenste Aufgabe. Das führt sonst auch in unserem gesellschaftlichen Miteinander gerade in Bezug auf kranke und alte Menschen zu einem völlig falschen Perspektivenwechsel.
Zum Thema Lebensschutz: Haben Sie sich über das Engagement ihrer Kirche in der Seenotrettung von Flüchtlingen gefreut? Oder überschreitet sie da ihren Kompetenzbereich?
Von Notz:Es ist völlig falsch, dass Staaten den NGOs und den Kirchen etwas überlassen, was eben auch ihre ureigenste Aufgabe ist. Wir können da in der Tat an das vorherige Thema anknüpfen. Leben schützen und retten, das muss der Staat gewährleisten. Dass Menschen nicht ersaufen, nicht erfrieren, nicht verhungern, dafür gerade gibt es staatliche Organisation. Das ist der Konsens, ganz egal, ob ich ultraliberal bin oder rechts-konservativ. Alles, was danach kommt, kann man diskutieren, ob man die Flüchtlinge zurückbringt oder nicht. Ich finde es richtig, dass sich die Kirche hier engagiert, angesichts des Versagens der Europäischen Union. Ich warne allerdings auch vor einfachen Antworten. Wir können den weltweiten Migrationsdruck nicht allein über das deutsche Asylrecht auffangen.
Zum Schluss: Sie beschäftigen sich mit Datenschutz und den Auswirkungen der Digitalisierung. Was ist so wichtig daran?
Von Notz: Es geht am Ende gar nicht um Datenschutz, das ist ein total irreführender Begriff. Es geht tatsächlich um etwas Großes, um unser Bild vom Menschen und vom Menschsein im digitalen Zeitalter. Denn der Datenschutz schützt ja keine Daten, sondern den Menschen in seiner Würde, Privatsphäre, in seiner Selbstbestimmung. Alle reden von Künstlicher Intelligenz, die Algorithmen bestimmen schon heute weite Teile unseres Leben. Doch das wäre eine grausame und furchtbare Welt, wenn es so käme: ein neues digitales Kastenwesen und die Absage an staatliche Solidarsysteme. Deswegen geht es nicht um Datenschutz, sondern darum, kommerzielle und andere Interessen zu bändigen, um unsere Freiheit zu schützen.
Wieso gefährden technische Entwicklungen unsere Freiheit?
Von Notz: Unser Freiheitsversprechen ist ein anderes als das der digitalen Welt. Wir müssen es verteidigen. Nicht Wahrscheinlichkeiten und Berechenbarkeit sind die wichtigsten Parameter unserer Weltanschauung. Lionel Messi ist einer der erfolgreichsten Fußballspieler der Welt, obwohl er krumme Beine hat und etwas klein ist. Und um zu meiner Lieblingsgeschichte zurück zu kommen: So ein Zimmermannssohn aus so einem Nest Nazareth wird die wichtigste Person der Menschheitsgeschichte. Das ist der Kern unseres Menschenbildes. Welcher Algorithmus würde das berechnen? Wenn unsere Entscheidungen in Folge der Digitalisierung immer stärker Formeln und Algorithmen gehorchen, dann ist das die Sabotage unseres Freiheitsversprechens und letztlich unseres Menschseins. Denn wir sind Menschen gegen alle Wahrscheinlichkeiten.