Dschihadismus in MosambikWellen der Gewalt

In Mosambik tobt ein dschihadistischer Aufstand. Ethnische, wirtschaftliche, politische und religiöse Faktoren verquicken sich. Was jetzt getan werden muss.

Mosambik
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Der Zeitpunkt des ersten Angriffs war genau geplant: Am Morgen des 5. Oktober 2017, also genau einen Tag nach dem 25. Jahrestag der Unterzeichnung des mosambikanischen Friedensabkommens, das von 1990 bis 1992 in Rom unter Vermittlung der Gemeinschaft Sant’Egidio ausgehandelt worden war und den seit 1976 herrschenden Bürgerkrieg beendete, griffen etwa 30 bewaffnete Islamisten Mocímboa da Praia an, eine kleine Hafenstadt in der nördlichen Provinz Cabo Delgado. Sie überfielen Polizeiwachen, erbeuteten Schusswaffen und erklärten, dass sie die staatlichen Institutionen ablehnten und einen islamischen Staat anstreben. Die meisten der Angreifer stammten aus Mocímboa da Praia. Erst nach zwei Tagen hatten die mosambikanischen Sicherheitskräfte die Stadt wieder unter Kontrolle gebracht. Mindestens 17 Menschen wurden getötet. Die Attacke gilt als Beginn einer neuen Gewaltwelle in Mosambik durch eine militant-islamistische Gruppe.

Nach wie vor sind die Hintergründe des Aufstands, die Strukturen und konkreten Motive der „gesichtslosen“ Islamisten relativ unklar. Insbesondere die Frage nach den Ursachen des Konflikts und dem Stellenwert der Religion werden derzeit debattiert.

Der Aufstand begann zu einem kritischen Zeitpunkt der jüngeren Geschichte Mosambiks. Zu den größten Herausforderungen des Landes gehören der Konflikt zwischen der Regierung der Partei FRELIMO und der größten Oppositionspartei RENAMO über die Dezentralisierung der politischen Macht der Regierung, die Eingliederung der bewaffneten Einheiten der RENAMO in die Sicherheitskräfte und die Zivilgesellschaft, und die Folgen der Zyklone Idai und Kenneth, die im März und April 2019 weite Gebiete in Zentral- und Nordmosambik verwüsteten. Zudem stürzten „illegale Schulden“ in Höhe von etwa zwei Milliarden Dollar, die die mosambikanische Regierung 2013 unter Umgehung des Parlaments aufgenommen hatte, das Land in eine wirtschaftliche und politische Krise, die bis heute andauert.

Das gesellschaftliche Klima in der Provinz Cabo Delgado ist von unterschiedlichen Faktoren geprägt, die den Nährboden für den Aufstand bilden: große Armut und gleichzeitig enormer Reichtum an Bodenschätzen, ethnische, interreligiöse und politische Konflikte, organisierte Kriminalität sowie jahrelange Vernachlässigung durch und Misstrauen gegen die politischen Eliten.

Die islamistische Guerilla-Bewegung wird von der Bevölkerung Al-Shabaab („die Jugend“) genannt, auch wenn keine Verbindungen zu der somalischen Terrorgruppe gleichen Namens bekannt sind. Die Aufständischen versuchten sich mit der Selbstbezeichnung Al-Sunnah Wal-Jamâa („Anhänger der prophetischen Tradition“) als legitime Inhaber der religiösen Orthodoxie zu präsentieren, doch diese wurde nicht von den muslimischen Autoritäten und der Bevölkerung übernommen.

Die Angreifer gehen mit großer Grausamkeit vor, verstümmeln, enthaupten und erschießen Dorfbewohner, plündern und brennen Dörfer nieder. Bisher verübten sie bis zu 600 Überfälle und Massaker, bei denen etwa 2.000 Menschen getötet wurden, darunter knapp 1.100 Zivilisten. Über 250.000 Menschen flohen in andere Landesteile.

Die Angriffe konzentrierten sich auf ein etwa 150 Kilometer breites Küstenband von der Provinzhauptstadt Pemba hin zur tansanischen Grenze. Bis Ende 2018 hatten die Angriffe eine vergleichsweise geringe Intensität, kleine Zellen schlecht ausgerüsteter Extremisten überfielen vor allem nachts kleinere Dörfer. 2019 nahmen die Häufigkeit, Intensität und geographische Reichweite der Attacken zu, und in 2020 eskalierte der Konflikt weiter mit Vorstößen nach Süden in Richtung Pemba und der zweitweisen Besetzung und Plünderung der Distrikthauptstädte Mocímboa da Praia, Macomia und Quissanga. Auch christliche Einrichtungen wie im Mai 2020 ein zur Erzabtei Sankt Ottilien gehörendes Kloster wurden geplündert. Bei Attacken auf Dörfer wurden mehrere Mitglieder der lokalen Gemeinschaften von Sant’Egidio getötet.

Mitte 2019 schlossen sich die Islamisten formal der „Zentralafrikanischen Provinz des Islamischen Staats“ (ISCAP), einem afrikanischen Arm des IS, an. Seit Juni 2019 reklamiert der IS Attacken für sich. Wahrscheinlich bedeutet dies aber keinen wirklichen Einfluss des IS auf den Aufstand, sondern ist ein Versuch, den Konflikt für Propagandazwecke zu nutzen. Wie tief die Verbindungen zum IS sind, ist nicht abzusehen.

Die mosambikanischen Sicherheitskräfte, die wegen ihres oft harten Vorgehens gegen die Zivilbevölkerung kritisiert werden, können den Aufständischen nur wenig entgegensetzen. Daran ändert auch die Unterstützung durch russische und südafrikanische Söldner kaum etwas.

Cabo Delgado ist eine der ärmsten Provinzen Mosambiks, verfügt aber über einen großen Reichtum an Bodenschätzen. Die Graphit- und Rubinvorkommen sowie die 2010 und 2011 vor der Küste Cabo Delgados entdeckten Erdgasfelder gehören zu den weltweit größten und animieren internationale Großkonzerne zu Investitionen, die zu den höchsten im afrikanischen Rohstoffsektor zählen. Unternehmen wie Total, ENI, ExxonMobile, BP, Shell und die China National Petroleum Corporation investieren Milliarden in die Vorbereitung der Offshore-Gasförderung und in Erdgasverflüssigungsanlagen. Hinzu kommen enorme Kohlevorkommen in der Provinz Tete an der Grenze zu Malawi, die Mosambik zu einem der weltweit größten Kohlexporteure aufsteigen lassen könnten. Von den Investitionen und Gewinnen profitiert die arme Bevölkerung bisher wenig. Stattdessen werden hunderte Familien zwangsumgesiedelt, und die den Unternehmen gewährten Landkonzessionen gehen auf Kosten der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Die Berichte über Umweltschäden mehren sich.

Es bestehen ethnische Spannungen zwischen den Mwani und Makua an der Küste, die die muslimische Bevölkerungsmehrheit bilden und politisch der RENAMO nahestehen, und den christlichen Makonde im Hinterland, die wirtschaftlich und politisch vorherrschen und die FRELIMO unterstützen. Ein Auslöser ist die langjährige Vernachlässigung des peripheren Cabo Delgado durch den dominierenden Süden mit der Hauptstadt Maputo. Das Misstrauen gegen die politischen Eliten und die Sicherheitskräfte ist groß. Hinzu kommen Korruption und organisierte Kriminalität: Durch das östliche und südliche Afrika führt die sogenannte „Südroute“ des internationalen Heroinschmuggels von Afghanistan nach Europa, und gerade der Norden Mosambiks ist ein Dreh- und Angelpunkt der illegalen Ökonomie.

Die Ursprünge der dschihadistischen Gruppe reichen bis in die Zweitausenderjahre zurück: Um 2007 formierte sich in Cabo Delgado eine islamistische Sekte, die lokal als Al-Shabaab bekannt wurde und (bisher) nur in Cabo Delgado anwesend ist. Die Sekte zog sich aus der Gesellschaft zurück, agierte in großer Spannung zu den etablierten muslimischen Autoritäten und lehnte die staatlichen Institutionen strikt ab.

Sie verfolgt nicht nur radikalere religiöse Prinzipien, sondern strebt im Sinne des Islamismus als politischer Ideologie eine auf islamischem Recht (Scharia) basierende Gegengesellschaft an. Wahrscheinlich hatte sie von Anfang an Beziehungen zum muslimischen Extremismus in Tansania. In den folgenden zehn Jahren etablierte sich die Sekte vor allem in den mehrheitlich muslimischen Distrikten an der Küste der Provinz.

Die radikalen Forderungen der Sekte führten zu Streitigkeiten mit den muslimischen Autoritäten und besonders ab 2015 zu immer heftigeren Zusammenstößen mit der Bevölkerung und den staatlichen Behörden, vor allem als Al-Shabaab an mehreren Orten den Konsum von Alkohol verbieten wollte und verlangte, dass Kinder anstelle der staatlichen Schulen Madrassas besuchen sollten. Der Staat verkannte, wie tief der Konflikt in die Gesellschaft wirkte, bezeichnete die Jugendlichen als Kriminelle, die nur Religiosität vortäuschten, und ging rein repressiv und teilweise brutal vor. Den Islamisten gelang es, immer mehr unzufriedene junge Männer mit der Botschaft zu rekrutieren, dass der fundamentalistische Islam sie im Kampf gegen die reichen Eliten unterstützen werde.

Um 2016 kam es zu einem Wendepunkt: Die Sekte vollzog wegen des zunehmenden Widerstands der muslimischen Autoritäten und des Staates den Schritt vom islamistischen Sektierertum zum bewaffneten Dschihadismus. Im Oktober 2017 verübte sie schließlich den ersten Angriff.

Nur wenn man die kausalen Zusammenhänge und Mechanismen des Konflikts versteht, kann man differenzierte Strategien zu seiner Lösung finden. Die meisten Beobachter sehen einen aus lokalen, „internen“ Kontexten heraus entstandenen Konflikt, der durch „externe“ Faktoren wie islamische Einflüsse aus dem Ausland (radikale Prediger aus Ostafrika, aus arabischen Universitäten zurückkehrende mosambikanische Studenten und seit kurzem der IS) oder die neu entdeckten Bodenschätze beeinflusst wird. Zur Erklärung des Aufstands sind die kombinierte Betrachtung und eine an Fakten orientierte Gewichtung der verschiedenen Faktoren entscheidend.

Es handelt sich nicht um einen religiösen Konflikt, sondern um ein Ineinander von politischen, wirtschaftlichen, ethnischen und religiösen Komponenten. Die Entstehung und das Wirken der Al-Shabaab-Sekte sind gut belegt. Sie verbindet religiöse und politische Ideen, doch die Eskalationsdynamik der dschihadistischen Gewalt hing von spezifischen innerstaatlichen Kontexten ab. In einem mehrjährigen Prozess und bedingt durch erfahrene Ausgrenzung und Repression sowie wachsende Unzufriedenheit durchliefen die Islamisten mehrere Schritte von der Selbstisolierung als Sekte über den gewaltbereiten Dschihadismus hin zur Militarisierung und tatsächlichen Anwendung von Gewalt ab Oktober 2017. Auch der Aufstand entwickelte sich in mehreren Phasen.

Ähnlich wie bei der Entwicklung von Boko Haram in Nigeria und anderen islamistischen Milizen in Afrika sind auch in Cabo Delgado die verbreitete Armut und Perspektivlosigkeit der Jugend, Korruption sowie die regional/ethnisch ungleiche Verteilung von Macht und Ressourcen bekannte Determinanten für die Anfälligkeit für extremistische Ideologien. Die Vernachlässigung des Staatsaufbaus und Fehler bei der Integration und strukturellen Regulierung des Islam stehen in kausalem Zusammenhang mit der Entwicklung dschihadistischer Gewalt.

Die Entdeckung der Erdgasfelder und die finanziellen Interessen der Großkonzerne werden oft als Treiber des Aufstands genannt. Einige Beobachter vermuten, dass es den Aufständischen auch um die Kontrolle strategisch wichtiger Punkte der Region gehen könnte. Tatsächlich befinden sich die Aufständischen in einer strategisch starken Position, um nicht nur die Entwicklung Cabo Delgados, sondern ganz Mosambiks zu behindern.

Andere Ursachen spielen sicher ebenfalls eine Rolle. Eine islamistisch inspirierte Rebellion der Mwani gegen die Makonde-Dominanz, die Verflechtung der organisierten Kriminalität mit der Politik oder FRELIMO-interne Machtkämpfe sind jedoch schwer nachweisbar und spekulativ.

Es konkurrieren die Rufe nach einer repressiven, militärischen Lösung mit Appellen zur Befriedung der Provinz durch Integration und Dialog, Armutsbekämpfung und Entwicklung. Die Regierung vertritt den Standpunkt, dass es sich um eine von außen geführte Aggression handelt, gesteuert von einem internationalen terroristischen Netzwerk, das muslimische Jugendliche instrumentalisiert. Deshalb sei Mosambik auf internationale militärische Hilfe angewiesen, einschließlich des Einsatzes von Söldnern. Eine primär militärische Option und Internationalisierung des Konflikts wird von Portugal, Frankreich, den USA und zunehmend auch von Südafrika unterstützt. Auch die Konzerne drängen auf den Einsatz weiterer Truppen und privater Sicherheitsdienste zum Schutz ihrer Einrichtungen. Der Islamische Rat Mosambiks (CISLAMO) und andere muslimische Organisationen distanzierten sich früh von den Extremisten und forderten die Regierung wiederholt zum Eingreifen auf. Sie geben vor allem Akteuren außerhalb des Landes die Verantwortung.

Eine respektierte Stimme ist Luiz Fernando Lisboa, der Bischof der Provinzhauptstadt Pemba, der kontinuierlich für eine nicht-militärische Lösung und eine gerechte Verteilung der Einkünfte aus den Bodenschätzen eintritt. Die mosambikanische Bischofskonferenz stellte sich im Juni 2020 hinter den von der Regierung kritisierten Bischof und forderte, die „Linderung dieses großen Leidens durch die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und Unterkünften (…) und vor allem mit Entwicklungsprojekten, durch die lokale Verwendung der Ressourcen der Provinz für Infrastruktur, Arbeit und die Bereitstellung notwendiger Gesundheits- und Bildungsdienste“ zu verfolgen.

Die Erfahrungen aus anderen dschihadistischen Konflikten in Afrika lehren, dass militärische Interventionen nicht zwangsläufig zum Erfolg, sondern im Gegenteil zu mehr Gewalt der Gegenseite führen und andere, auf Verhandlung und Entwicklung abzielende Lösungen behindern. Gewalt wird nicht mit mehr Gewalt beendet. Es wird keinen Frieden geben, wenn die zugrunde liegende Armut nicht durch umfangreiche Investitionen angegangen wird. Die im März 2020 geschaffene staatliche Entwicklungsagentur für den Norden (ADIN) könnte eine Basis hierfür werden.

Integration der muslimischen Gemeinschaften, die Teilhabe der Menschen an der Entwicklung, die Konzentration auf soziale, religiöse und politische Dynamiken sind Strategien, um den Aufstand nachhaltig zu kontrollieren. Die radikalisierten Jugendlichen können nur durch echte Lebensperspektiven wieder in die Gesellschaft zurückgeholt werden. Geduldige diplomatische Verhandlungen sowie inter- und intrareligiöse und gesellschaftliche Dialogprozesse müssen begonnen werden (wie die von mosambikanischen Intellektuellen angeregten „Distrikt-Versammlungen“ oder lokalen Komitees, um Lösungen von unten nach oben zu entwerfen).

Im Grunde geht es darum, eine tief fragmentierte Gesellschaft zu einen, bevor sich die Spaltungen in immer mehr Gewalt manifestieren. Nach dem Grundsatz, der zu Beginn der Friedensgespräche für Mosambik 1990 einen ersten Durchbruch brachte: „Das, was verbindet, ist nicht wenig, sondern viel (…) mosambikanische Geschwister zu sein, Teil derselben großen Familie.“

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