Die bisher letzte Buchrezension in dieser Zeitschrift, die Jan Assmann galt, begann mit dem schönen Satz: „In den letzten Jahren ist Jan Assmann zu einem Monothemisten geworden“ (HK, August 2017, 41–44). Damals hatte der hochdekorierte Wissenschaftler Assmann gerade zum wiederholten Male ein Buch zur Entstehung des Monotheismus und dessen vermeintlicher Gefährlichkeit vorgelegt, in dem in gewohnter Weise der exklusive Bundesschluss Gottes am Sinai ziemlich schlecht wegkam. Heute nun könnte man meinen, Assmann habe sich die Frotzelei seinerzeit zu Herzen genommen, denn in seinem neuen Buch wendet sich der Ägyptologe auf einmal der Musik Ludwig van Beethovens zu, einem Gegenstand also, der von Assmanns eigentlichem Fachgebiet ungefähr so weit entfernt zu liegen scheint wie Bonn vom Sinai. Doch bei näherer Betrachtung zeigt sich schnell, dass es darin nicht nur um Noten geht. Mindestens ebenso sehr wie eine Einführung in Beethovens legendenumrankte „Missa solemnis“ (uraufgeführt 1824) will Assmanns Text eine Darstellung der Entstehung des christlichen Kultes sein, der mit seinem stetigen Nachvollzug des Letzten Paschamahls Jesu immer auch an die jüdische Überlieferung vom Auszug aus Ägypten rührt. Womit Assmanns Lieblingsthema also auch diesmal zumindest im Hintergrund weiter hörbar bleibt.
Bevor der Autor auf die dramatischen biographischen Umstände zu sprechen kommt, mit denen Beethovens Arbeit an der „Missa“ verbunden war, bevor er mit der Beflissenheit eines braven Musikwissenschaftlers Notenbeispiele bespricht und harmonische Prozesse oder auffällige Instrumentationen diskutiert, erzählt er, was das eigentlich noch einmal ist: die Messe. Er beschreibt die feinen Spurenelemente liturgischer Überlieferung im Neuen Testament, die nach und nach zur ausgewachsenen und verbindlichen Gottesdienstform weiterentwickelt wurden, und analysiert schließlich die bis zur Liturgiereform der Sechzigerjahre gültigen fünf Teile des „Ordinariums“, also des Textcorpus, der in jeder katholischen Messe vorkam. Dabei gelingen ihm wunderbar griffige, geradezu handstreichartige Definitionen und Merksätze, etwa wenn er die Bedeutung des Credo erklärt: „Das Credo ist Bekenntnis, Katechismus und Apologie in einem. Die Getauften sollen es sprechen, die Katechumenen sollen es hören und lernen, die Häretiker sollen sich ihres Irrtums bewusst werden.“ Sein ganzer liturgiegeschichtlicher Teil, der rund die Hälfte des Buchs ausmacht, ist so gelehrt und zugleich so gut verständlich geschrieben, dass man ihn ohne Weiteres in der Erwachsenenkatechese einsetzen könnte. Wenn liturgische Bildung dort nicht so verpönt wäre.
Assmann betreibt den historischen Aufwand allerdings nicht aus Gründen der Evangelisierung, sondern weil er etwas zeigen will: Dass Werke wie die „Missa solemnis“ entstehen konnten, höchste Tonkunst aus dem Geist der katholischen Liturgie, ist kein Zufall. Seit jeher war das Christentum im Bunde mit der Musik, mehr noch als mit allen anderen Künsten. In den Anfängen war die Musik so grundlegend für den christlichen Kult, dass Plinius der Jüngere sie für ein regelrechtes Erkennungsmerkmal der frühen Christen gehalten zu haben scheint: „Sie sind gewohnt, sich an einem bestimmten Tag vor der Dämmerung zu treffen und wechselweise miteinander Christus als einem Gott Lieder zu singen.“ Umgekehrt ist das Christentum, ist vor allem die Kirche nicht nur Förderin, sondern sogar die Erfinderin der Musik gewesen, der Musik als hohe Kunstgattung jedenfalls, wie sie der Antike noch fremd war. Die Vermutung liege nahe, so Assmann, „dass die Musik gerade im Dienst der Messvertonung zur Kunst geworden ist“. Beethovens „Missa solemnis“ ist der Höhepunkt dieser Entwicklung, und zugleich stellt sie einen Abschluss dar: als mutmaßlich erste Messe, die nicht mehr für den Gottesdienst, sondern für den Konzertsaal geschrieben wurde, womit die Abnabelung der Musik von ihrer Mutter Kirche ihren Lauf nahm.
Interessanterweise fasst Assmann diese Abnabelung nicht so auf, dass sich die Musik hier bereits vom Inhalt der vertonten Kirchentexte entfremden würde. Das kommt später. Beethovens Stück ist noch voll und ganz Kirchenmusik in dem Sinne, dass es den Hörern das Gesagte emotional beglaubigen will. Sie versucht, wie Beethoven einmal notiert, „sowohl bey den Singenden als bey den Zuhörenden Religiöse Gefühle zu erwecken und dauernd zu machen“. Sie führt nicht etwa weg vom Kult, sondern ist selber einer, ein „Gottesdienst im Kopf“, wie Assmann das nennt. Wenn das stimmt, dann ist diese Musik ein besonderer Glücksfall in diesem merkwürdigen Corona-Jahr 2020, mit all seinen abgesagten Gottesdiensten und zugleich mit all den gestrichenen Festkonzerten, die man zu Beethovens 250. Geburtstag eigentlich hätte spielen wollen: Wer das Beethovenjahr zumindest im Privaten noch einmal begehen und zugleich der Sonntagspflicht Genüge tun will, kann sich in den nächsten Wochen noch einmal feierlich die „Missa solemnis“ auflegen. Lucas Wiegelmann