Eine geistliche Reflexion zum Synodalen WegRückzug als Chance

Gottesferne ist eine Erfahrung von vielen Mystikerinnen und Mystikern des 20. Jahrhunderts. Doch das ist keineswegs ein Mangel der Moderne. Vielmehr ist die Säkularität unserer Zeit eben nicht die Großschadenslage der Religionsgeschichte, sondern der neue Weltraum, in dem es Gott neu zu suchen gilt.

Spiritualität
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Nicht nur persönliches, partnerschaftliches oder berufliches Leben kann reifer und erfahrener werden, sondern auch das geistliche. So wie sich Beziehungen zu sich selbst und zu anderen entwickeln; und so, wie man in diesen Wachstumsprozessen nur einen Teil davon kontrollieren kann, so ist das auch im Leben mit Gott. Ja: Ist dies eine echte Beziehung, wird man das schnell daran erkennen, dass sich Situationen und Konstellationen einstellen, die man weder verursacht noch erwünscht hat – und die aber trotzdem real sind.

Natürlich sind solche kleinen und großen Meilensteine in der Gottesbeziehung unsichtbarer als die in ‚normalen‘ immanenten Beziehungen. In letzteren, zum Beispiel in kollegialen Beziehungen, kann der Partner oder die Partnerin sich lautstark melden, Ansprüche einfordern, Veränderungen vorschlagen oder auch Schlussstriche setzen. Dem kann man sich dann kaum entziehen. Was auch bedeutet: Es ist in analogen Realbeziehungen zwischen Subjekten erheblich schwerer, sich etwas über den Zustand der Beziehung in die Tasche zu lügen als in geistlichen. Zwar wird spirituelle Literatur und geistliche Begleitung nicht müde darauf hinzuweisen, dass auch Gott sich beim Menschen meldet, dass auch er Veränderungen anmahnt oder Neuanfangs- oder Schlussstriche setzt. Aber natürlich setzt es eine ungleich ausgebautere innere Sensibilität voraus, diese Signale zu hören; und eine echte Willensbildung, ihnen auch zu folgen. Weil das so ist, braucht man Hilfen. Diese hat es in der Christentumsgeschichte immer gegeben. Man hat es hier, um im Bild zu bleiben, mit einer Art Gottesbeziehungsberatern zu tun. Gemeint sind Menschen aus dem Volk Gottes, die in unerhört klarer Weise diese inneren Stimmen der göttlichen Präsenz hören und ihnen in unerhört konsequenter Weise auch gehorchen. Viele dieser Leute sind deswegen selig- oder heiliggesprochen worden; und so konnten sie zum kollektiven Gedächtnis heranwachsen, zur Fundgrube für die Empfehlung, auch als nicht-heiliger Mensch in der Gottesbeziehung reifer zu werden.

Seismografen Gottes

Heilige sind sozusagen Seismografen für die Art und Weise, wie Gott sich die Beziehung zu Menschen wünscht. In dieser Seismografenfunktion ähneln sie anderen Persönlichkeiten – Künstlern etwa oder Unternehmerinnen oder Sportlern, Politikern. Manchmal sind es auch ganz „normale“ Alltagsmenschen. Es gibt solche „Vorposten des Morgen“ in jedem gesellschaftlichen Teilgebiet. Sie reagieren sensibler als die meisten auf verborgene Signale. Sie registrieren schon heute, wie und wohin sich unsere kulturelle Tektonik verschiebt. Sie spüren, dass etwas kommen wird, und vielleicht wird es ein Beben sein, ein Wechsel des Gewohnten. Und sie mahnen, sich dementsprechend zu wappnen.

Es sind Röntgenmenschen, die tiefer, weiter und zukünftiger zu schauen in der Lage sind (vgl. zum Folgenden: Matthias Sellmann, Die Welt ist Gottes so … leer, in: Bernd Aretz [Hg.], Chiara Lubich. Ein Leben für die Einheit. München 2019, 124–133). Wenn sie auch keine Diagramme aufzeichnen wie technische Seismografen, so sind ihre Berichte doch ebenso markant: Mit Texten, Liedern, Bildern, Choreografien, aber auch Protestmärschen, Manifesten oder neuen Produkten geben sie uns Anteil an dem, was sie heute schon als das Morgige, das Kommende erkennen. Sie können beliebt sein oder Querulanten, anerkannt oder erst nach Lebzeiten geschätzt: Oft jedenfalls bezahlen sie ihr Genie mit bitterer Münze. Denn ihre Tragik liegt in ihrem Vermögen, schon in einer Zukunft zu leben, die für die Vielen noch kommen wird und die daher jetzt weder dem Seher noch den Normalen eine Heimat bieten kann.

Willst Du wissen, was morgen Zusammenleben prägt, Denken, Technik und Weltgestaltung, dann musst Du diese Seismografen fragen. Und willst Du wissen, was morgen unser Gottesverhältnis prägen wird, die Art und Weise, wie er sich uns zeigen wird und woraufhin – dann musst Du die Mystiker Deiner Zeit befragen. Denn sie sind die Seismografen, die heute schon die Veränderungen der spirituellen Tektonik erspüren; die heute schon mit Gott so leben, wie er es morgen mit den Vielen plant. Sie führen heute bereits eine Beziehung mit Gott in einer Weise, die erst noch kommen wird, und die daher niemandem bereits heute eine Heimat bieten kann. So gehören sie weder dem Gott, den sie ahnen, noch dem, der sich gerade den Vielen zeigt. Ihnen bleibt nur der Platz dazwischen. Und wenn sie zu uns sprechen, geben sie uns Anteil an ihrer Ahnung, ohne dass wir ihnen im Gegenzug dafür einen Platz in unserem Alltag zu geben vermöchten.

Mystische Röntgenmenschen haben weder Nester wie die Vögel noch Höhlen wie die Füchse (Mt 8,20). So, eingeklemmt zwischen dem Gott von morgen und den vielen Welten im Heute, gehen sie durch die Jahre, die ihnen bleiben. Schaut man nun genauer hin, was die Mystikerinnen und Mystiker der Gegenwart sehen, drängt sich ein bestimmter Befund auf: Gott zieht sich offenbar zurück. Er verändert den Modus seiner Anwesenheit so, dass er uns immer abwesender vorkommt. Jedenfalls mit den Augen von gestern und heute wird man ihn morgen nicht mehr erkennen. Oder anders: Ganz offenbar will er, dass wir ihn anders suchen und anderswo finden, als wir es bisher gewohnt sind.

Viele junge Selige und Heilige und viele der von ihnen gestifteten spirituellen Traditionen umkreisen diese neue, seltsame und auch verstörende seismografische Information. Und es sind die Großen, die Prominenten, die in ihrer Gottesbeziehung diese Abwesenheit verarbeiten mussten. Gotteserfahrung als geistliche Abwesenheitserfahrung ist also vielleicht das Paradigma, auf das wir als die Vielen zugehen. Einige Beispiele. Pater Alfred Delp schreibt im Gefängnis der Nationalsozialisten die bekannten Worte: „Innerlich habe ich viel mit dem Herrgott zu tun und zu fragen und dran zu geben. Das Eine ist mir so klar und spürbar wie selten: Die Welt ist Gottes so voll. Aus allen Poren der Dinge quillt er gleichsam uns entgegen, wir aber sind oft blind.“

Diese innere Unabhängigkeit von äußeren Bedrängnissen ist faszinierend. Und doch setzt Delp hier einen Akzent gegen die große Mehrheit namhafter anderer Akzente. Die gleichzeitigen Aufzeichnungen eines anderen Gefangenen, nur wenige Kilometer von Pater Delp entfernt, lesen sich anders. Nicht nur, dass Gott hier eben nicht als der erlebt wird, der „aus allen Poren der Welt entgegenquillt“, sondern vielmehr wird betont: dass es gar nicht sein möge, dass er es tut; dass es vielmehr die Welt in ihrer Eigenart stärker hervorhebt, wenn er in ihr gerade ab- und nicht anwesend ist.

Die Rede ist von Dietrich Bonhoeffer (1906–1945), dem evangelischen Pfarrer und Professor, wie Delp Verschwörer gegen Hitler. Bonhoeffer entwickelt eine Spiritualität der radikalen Immanenz. Eine seiner bekanntesten Formulierungen fasst die moderne Identität des Christseins so zusammen: „Vor und mit Gott leben wir ohne Gott“. Die Sprache der Verkündigung wird morgen eine unreligiöse sein, sagt er; und nicht an den Rändern, den Spektakeln und außerordentlichen Einbrüchen des Lebens sollen wir Gott vermuten, sondern mitten im Alltag, der Banalität, der Verwechselbarkeit. Als Christ, so könnte man mit Bonhoeffer sagen, verfehlt man Gott je mehr, desto mehr man in ihm etwas anderes will, als eben dieses Leben zu bieten hat. Eben weil die Zeit der Religion vorbei ist, die der Innerlichkeit, der Gewissenssicherheit, des großen überwölbenden Daches einer gemeinsamen Gotteserfahrung, eben darum beginnt erst die Zeit des Evangeliums. „Der Christ hat nicht wie die Gläubigen der Erlösungsmythen aus den irdischen Aufgaben und Schwierigkeiten immer noch eine letzte Ausflucht ins Ewige, sondern er muss das irdische Leben wie Christus („Mein Gott, warum hast Du mich verlassen?“) ganz auskosten und nur indem er das tut, ist der Gekreuzigte und Auferstandene bei ihm (…)“. Um den Unterschied zu Pater Delp zu pointieren: Die Welt ist nicht Gottes so voll, sondern der Welt. Aus allen Poren der Dinge quellen uns entgegen: eben die Dinge.

Ein zweites Beispiel: Madeleine Delbrêl (1904–1964). Die französische hochbegabte junge Sozialarbeiterin war zeitlebens vom Atheismus inspiriert und kulturell geprägt – so sehr, dass sie nach ihrer für sie alles umreißenden Gottesentdeckung in die kommunistischen Vororte der verelendeten Fabrikarbeiter zieht, um deren Gotteslosigkeit zu teilen. Philosophisch kommt sie von Nietzsche her, Montaigne und Pascal; und ihr Glaube wird zeitlebens von der Basiseinsicht geprägt sein, dass es um Gott als Ganzen geht, nicht um einzelne spirituelle Aspekte. „Aufgrund dieser Erfahrung bezeichnet Madeleine Delbrêl Gott als ,das schwarze Licht‘ (…) Ihre Schriften sprechen vom ,Mysterium‘, von der ‚unergründlichen Finsternis Gottes‘ und der ‚undurchdringbaren Welt des Insichseins Gottes‘“, schreibt ihre Biografin Annette Schleinzer.

Abgründig ist Delbrêls Spiritualität der Wüste, wenn sie etwa notiert: „Wahre Einsamkeit [liegt, MS] nicht in der Abwesenheit der Menschen, sondern in der Anwesenheit Gottes.“ Ihr Lebenszeugnis wird das eines solidarischen Lebens mit Menschen, die keinen Fluchtpunkt in irgendeiner Heilsidee haben. Dabei wird man zum Gottesknecht, ähnlich wie die Synoptiker Jesus am Kreuz mit dieser jesaijanischen Figur zu deuten vorschlagen. Wer mit Marxisten in Freundschaft zusammenlebt, und das als Christin, für den heißt es „auf unterster Stufe, aber in letzter Härte an der Bedrohtheit der Kirche, an der Ursache all ihrer Entzweiungen teilzuhaben.“

Nehmen wir ein drittes Beispiel hinzu, vielleicht das überraschendste: Mutter Teresa (Agnes Gonxhe Bojaxhiu; 1910–1997). Diese weltbekannte Ordensfrau gründete bekanntlich den Orden der „Missionairies of Charity“. Die Friedensnobelpreisträgerin von 1979, seliggesprochen 2003, gilt im globalen Bildgedächtnis als das kleine Kraftpaket von Frau, stets milde lächelnd, tief fromm und wohltätig. Als 2007 ihre persönlichen Aufzeichnungen, Tagebuchnotizen und Briefe veröffentlicht werden, erlebt die Welt ihrer Anhängerinnen und Anhänger einen Schock.

Sichtbar wird, dass Mutter Teresa in den Jahrzehnten nach der Anerkennung ihres Ordens in einer völligen geistlichen Dunkelheit gelebt und gebetet hat. Es beginnt in den Jahren um 1950, dass sie nicht nur keinen Kontakt mehr zu ihrem göttlichen Partner verspürt, sondern sogar seine Abneigung. Viele Zitate können diese innere Verlassenheit belegen, und ohne Übertreibung wird man sagen können, dass die Lektüre dieses Buches verstören kann. Denn was sich eventuell leicht und mit gewissem theologisch-feuilletonistischen Esprit behaupten lässt – dass nämlich die Gotteserfahrung unserer Zeit eventuell die seiner Abwesenheit sein kann –, das wird auf diesen Seiten geradezu brutale Realität.

Mutter Teresa schreibt 1962: „Wenn ich jemals eine Heilige werde – dann gewiss eine ‚Heilige der Dunkelheit‘. Ich werde fortwährend im Himmel fehlen – um für jene ein Licht zu entzünden, die auf Erden in Dunkelheit leben.“ „… denn in mir ist eine solche Dunkelheit, als ob alles tot wäre. Dieser Zustand besteht mehr oder weniger seit dem Zeitpunkt, als ich mit dem ‚Werk‘ anfing.“ „Beten Sie für mich – denn in meinem Innern ist es eiskalt.“ „ … und doch ist da diese Trennung – diese furchtbare Leere, dieses Gefühl der Abwesenheit Gottes.“ „… manchmal ist die Agonie der Trostlosigkeit groß und gleichzeitig das Verlangen nach dem Abwesenden Einen so tief …“ „In meiner Seele herrscht ein so großer Widerspruch. Ein so tiefes Verlangen nach Gott (…) und trotzdem nicht gewollt von Gott – abgewiesen – leer – kein Glaube – keine Liebe – kein Eifer. Die Seelen ziehen mich nicht mehr an – der Himmel bedeutet nichts mehr – für mich schaut er wie ein leerer Platz aus – der Gedanke an ihn bedeutet mir nichts und gleichzeitig diese folternde Sehnsucht nach Gott.“ So geht es Seite um Seite. Die Lektüre wird ein schmerzhaftes, fast voyeuristisches Mitgehen mit einem alleingelassenen Menschen, der sich dennoch nie beschwert und sogar diese Dunkelheit in seine Gottesliebe integriert.

Zuletzt: Chiara Lubich (1920–2008), die Gründerin der weltweiten Fokolarbewegung. Vielen ist die agile Italienerin bekannt als äußerst einnehmende charismatische Persönlichkeit. Ein Witz kursiert: Chiara braucht nur eine Speisekarte vorlesen, schon erkennen wir eine Theologie des Essens. Sie war Beraterin der jüngsten Päpste; rastlose Schriftstellerin; Leaderin einer sehr dynamisch wachsenden Bewegung; Entdeckerin des ökumenischen ‚Ideals der Einheit‘. Einheit – das ist Frieden, Solidarität, Handlungsfähigkeit, Stimmigkeit.

Was man nicht so weiß: Dieses Ideal der Einheit basiert auf der Grundbeziehung Lubichs zum Gekreuzigten. Den „Verlassenen“, so nennt sie ihren Bräutigam in einer sehr eindringlichen Meditation. Ihm und keinem anderen hat sie sich geweiht. Dort, in der äußersten Uneinheit, ereignet sich die Bedingung der Möglichkeit für Einheit. Es heißt dort: „Ich habe nur einen Bräutigam auf Erden: Jesus, den Verlassenen. Ich habe keinen Gott außer ihm. In ihm ist das ganze Paradies mit der Trinität und die ganze Erde mit der Menschheit. (…) Ich werde durch die Welt gehen und ihn suchen, in jedem Augenblick meines Lebens. Was mir weh tut, ist mein. Mein ist das Leid, das mich im Augenblick berührt. Mein ist das Leid der Menschen neben mir. Mein ist alles, was nicht Friede oder Glück, was nicht schön, liebenswert, ist … kurz: all das, was nicht Paradies ist. Denn auch ich habe mein Paradies, doch es ist das Paradies im Herzen meines Bräutigams. Ein anderes kenne ich nicht.“

Der Rückzug Gottes – und der Synodale Weg

Bonhoeffer, Delbrêl, Mutter Teresa, Chiara Lubich: Man muss ihre Texte vor vielen Missverständnissen sichern. Das kann man auch. Und doch wird man unredlich, wenn man sich die Härten und teilweise äußersten Fremdheiten dieser Spiritualitäten weginterpretiert. Nimmt man die genannten Persönlichkeiten als geistliche Seismografen des 21. Jahrhunderts ernst, steht ein ernster Befund im Raum: Gott macht sich fremder; er verändert von sich her die Beziehung; er mutet zu, die geistlichen und kirchlichen Üblichkeiten zu verändern.

Dass er das kann und immer wieder mal macht, ist reich bezeugt. Schon biblisch ist es ja bestürzend, dass der Auferstandene von seinen engsten Freunden erst überhaupt nicht erkannt wird (Joh 20,15 u.ö.). Auch der eschatologische Christus kommt anonym, „wie ein Dieb in der Nacht“ (1 Thess 5,2 u.ö.). Und manche werden dann verwundert sagen: „Herr, wann haben wir dich nackt gesehen, durstig, verfolgt – und haben dir geholfen?“ (Mt 25). Mit Sicherheit waren die großen Brüche der Christentumsgeschichte wie Völkerwanderung, Reformation, Säkularisation, die Weltkriege und andere Ereignisse mehr immer auch Brüche der geistlichen Zugangswege. Trotzdem ist es doch mindestens bemerkenswert, dass die Wechsel der Erfahrbarkeitsmodi bisher eher graduell waren; nun wird es, mindestens scheint es so, paradigmatischer. Gott wechselt (vielleicht) nicht von einer Gestalt in eine andere, sondern von Anwesenheit in Vermissung; von Position in Leerstelle; von Sagbarkeit ins Wort an sich.

Man muss dies alles sehr vorsichtig formulieren; denn die Vollerfahrung der glaubenden vielen steht noch aus. Die Erfahrung der nichtglaubenden vielen weist aber schon darauf hin, dass kulturelle Parameter sich verändern. Es wird post-christlich, mehr und mehr. Diese Millionen von Menschen, die selbst beim besten biografischen Willen auf keinen Gott stoßen, können ja keine neutrale Zone für eine inkarnatorische Theologie sein. Die vielen so redlichen, aber offenbar (jedenfalls ihrer Intention nach) unerfüllten Bittgebete, etwa um mehr geistliche Berufungen, ebenso nicht. Und auch, dass sich die Kirche weltweit als eine machtmissbrauchende Organisation erweist, die nicht am Rand, sondern an ihrer sakramentalen Wurzel, dem Weiheamt, also nicht trotz, sondern infolge ihrer dogmatisch abgesicherten Strukturen Unheil und Ausschließung produziert – auch das muss im Zuge des hier vorgestellten Gedankens mindestens daraufhin geprüft werden, ob es als geistlich-seismografische Information gelesen werden muss.

Es ist doch nicht egal, wenn wir in so großer Zahl erleben, dass für viele Christinnen und Christen in gewissenhaft geführten Liebes-, Gemeinde- und Eucharistiebeziehungen ausgerechnet die kirchenamtliche Realität zum Glaubensärgernis und sogar -hindernis wird. Was bedeutet es, wenn sich so viele auf einem mit hohem biografischem Risiko geführten Nachfolgeweg befinden und gerade in diesem Lebensvollzug feststellen, dass die Lehre nicht mehr ihr Leben unterstützt und ausdrückt? Wie anders bitte soll sich die Offenbarungsqualität des versammelten Glaubenssinns denn zeigen als darin, dass sie den Gehorsam der Lehre auf das Leben fordert? Einfache Deutungen verbieten sich. Gemeint ist hier nicht, dass Gott die Welt mit Liebesentzug bestraft – etwa, weil sie ungläubig sei, machtmissbrauchend, kapitalistisch. Gemeint ist auch nicht, dass die Corona-Pandemie ein solches geistliches seismografisches Zeichen sei. Bleiben wir bitte erwachsen!

Die Spur geht eher dahin, dass Gott klarer zeigt, wie wenig er sich eindeutig verrechnen lässt – weder skeptizistisch noch theologisch oder lehramtlich. Wie ernst er damit macht, dass viele Wege zu ihm führen. Dass er sich eine Christenheit als Beziehungspartnerin wünscht, die ihn nicht vorrangig wegen der Spendung metaphysischer Sicherheit sucht. Dass er von einer Kirche neu aufgefunden werden will, die nicht zum Himmel schaut (Apg 1,10), sondern die ihr Himmelswissen mit all denen erst erarbeiten will, welche ihre Lebensleistung zur Ressource horizontaler Weltbewährung einbringen wollen. Dass er geistliche Menschen in die Reife bringen will, erst dann Trost von ihrem Gott zu finden, wenn sie riskieren, anderen notfalls auch ohne Gott Trost zu geben.

An dieser geistlichen Stelle steht der Synodale Weg, wenn er nach dem Zukunftskurs der Kirche fragt. Er wird Erfolg haben, wenn er eine Kirche denkt, die sich nicht auf Gott verlässt, sondern nüchtern ihre Hausaufgaben macht – wie alle anderen Institutionen und Organisationen des bürgerlichen Zusammenlebens das auch machen müssen. Wenn es seismografisch stimmt, dass Gott dabei ist, sich zu verfremden, sich unerkennbarer macht, in die Abwesenheit geht, dann ist Säkularität keine Großschadenslage der Religionsgeschichte, sondern der neue Weltraum, in dem es Gott neu zu suchen gilt. Dann muss Kirche sich vor allem angesichts säkularer Errungenschaften bewähren. Dann lässt man Gott nur dann los, wenn man ihn loslässt.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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