Sonntagmorgen – Gottesdienstzeit. Doch die Kirchenbänke sind nur spärlich besetzt. Auf lange Sicht gesehen wird sich daran nichts ändern. Vor allem Jugendliche trifft man so gut wie gar nicht mehr in der Kirche an. Wo ist diese kirchenferne Jugend an Sonntagen? Dort, wo sie an allen anderen Tagen der Woche auch ist – im Internet. Im Internet aber scheint das zu gelingen, was traditionelle Gottesdienste nicht mehr erreichen. Junge Menschen zeigen Interesse an Spiritualität, Glaubensfragen und Sinnsuche aller Art.
Vor diesem Hintergrund ist es offenbar geboten, dass die Kirche auf den Zug der Digitalisierung aufspringt und nunmehr Klicks und Likes für den christlichen Glauben sammelt. In Zeiten, in denen Influencer zu wichtigen Vorbildern der Social-Web-Generation avanciert sind, zögert man in der evangelischen Kirche nicht, die Influencerin Jana Highholder ins Rennen zu schicken, während zuletzt auf katholischer Seite Priesteramtsanwärter des Erzbistums Köln zu Influencern ausgebildet wurden.
Besagte Jana Highholder erklärt am 17. Juli 2019 in einem Interview im BR-Programm „Puls“, was es mit ihrem Influencer-Dasein auf sich hat und wofür sie einsteht – für ein Evangelium, das nicht an „alte Gemäuer“ der Kirche „gebunden“ ist, und für einen Gott, den man „in der Bibel, aber genauso bei Google, Instagram und Facebook (findet)“. In einer digitalen Postmoderne ist das Medium also nicht nur Message (Marshall McLuhan), es verändert auch die Botschaft an sich.
Netzaktivisten wie René Pachmann sind überzeugt, dass man das „Influencer-Potenzial“ Jesu „heben“ müsse und Jesus selbst „irgendwann“ Influencer werden könne. Damit aber kommt etwas zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammengehört. Eine professionelle Influencerin wie Dagi Bee „beeinflusst“ Menschen mit ihrem authentischen, sachverständigen Handeln und ihrer erfolgreichen Selbstdarstellung in der digitalen Welt. Jesus will Menschen nicht beeinflussen, sondern sie zu ihrem Heil bei Gott führen. Es geht ihm nicht um Selbstdarstellung, sondern um Selbsthingabe und „Selbstverleugnung“ (Mt 16,24).
Influencer sind Lebensbegleiter und Ratgeber für das Verhalten im Alltag und demonstrieren den Nutzern, die ihnen nachfolgen – den Followern – wie man das Leben „schön“ gestalten und stylen kann. Influencer gelten damit auch als Trendsetter in Sachen Mode, Beauty und Sport nach dem Motto: Gut ist das, was attraktiv ist und gefällt. Influencer leben so einen urmenschlichen Wunsch vor, den Wunsch, anderen zu gefallen. Jesus dagegen lebt nicht vor, wie man seinen Alltag stylen kann, damit er anderen gefällt, sondern wie dieser Alltag vom Glauben her so geformt und geprägt wird, dass er gottgefällig ist.
Influencer sind unmittelbar in den Alltag der Follower integriert, so dass sie zu Medienfreunden werden. Diese Medienfreunde geben ihr Privatleben zum Teil bedingungslos preis, was zur Folge hat, dass die Follower immer häufiger den Web-Alltag von Influencern wie eine Daily Soap konsumieren. Jesus strebt keine Vertrautheit mit Followern an, die an seinem Privatleben interessiert sind. Er sucht vielmehr Nachfolger, die durch ihn zu einer Beziehung zu Gott kommen, der sich nicht nach Likes, sondern nach der Liebe seines Geschöpfes sehnt (Spr 23,26).
Mit reiner Imagewerbung gelangt man nicht zur Identität
Die überaus beliebte Influencerin Caro Daur, der man jedoch vorwirft, eine „Daur-Werbesendung“ zu produzieren, lebt nicht nur von Klicks und Likes, sondern auch von Unternehmen, die sie für ihren Netzauftritt und entsprechende Produktplatzierungen fürstlich entlohnen. Jesus sucht Nachfolger, die „nicht nur auf das eigene Wohl achten“, sondern vielmehr so handeln, „wie Gott es will; nicht aus Gewinnsucht, sondern mit Hingabe“ (Phil 2,4; 1 Petr 5,2).
Wer daraus allerdings folgert, dass Kirche sich in digitaler Enthaltsamkeit üben sollte, befördert sie noch weiter ins Aus. Wenn es tatsächlich die Influencer sind, an denen sich insbesondere junge Nutzer orientieren, muss die Kirche sich auf diese neuen Vorbilder einlassen. Was bedeutet es aber letztlich, wenn Kirche sich den Influencer-Hype zunutze machen will, der zunehmend von kalkulierter Produktvermarktung, unlauterer Werbung und „gefakter“ Authentizität bestimmt ist? Kirche im Gewand des Digitalen funktioniert dann nicht, wenn das Wie über das Was dominiert und Kirche einfach nur gut „rüberkommen“ möchte, indem man alles mediengerecht verpackt.
Dass christliche Influencer der Kirche ein positives Image verleihen können, mag man als Chance sehen, bei kirchenfernen Nutzern besser dazustehen. Aber mit reiner Imagewerbung gelangt man gerade nicht zu der eigentlichen Identität der Kirche und ihrer Sendung.
Die Verkündigung der christlichen Heilsbotschaft erhält durch Influencer eine persönliche Stimme mit eigenen Bildern und Präsentationen. Der evangelisch-lutherische Pastor Gunnar Engel, der trendig und locker auftritt – mit Tattoos und legerem Outfit –, gibt Einblicke in sein Privatleben, outet sich als Serienjunkie und nutzt vielfältige digitale Wege, um seine „Schäfchen“ zu erreichen – vom eigenen Blog über Podcasts bis zum YouTube-Account. Die reichlich bebilderten Präsentationen sind unterlegt mit Hashtags wie #jesuslovesyou und ein weiterer Grund, warum dieser christliche Influencer als attraktive Persönlichkeit wahrgenommen wird. Kommt man so aber auch vom Wie zum Was? Kommt man wirklich von der Person zu gelebten Glaubensinhalten? Vor allem durch die Personalisierung der Kirche im Netz wird dies erschwert. Der Fokus liegt dabei so sehr auf der Person, dass sie am Ende wichtiger ist als die Botschaft, die Botschaft Gottes zum Heil des Menschen.
Der prominente Musiker und Blogger John Cooper hat diese Entwicklung in einem viel beachteten Post scharf kritisiert. „Wir müssen aufhören“, so Cooper, „Influencer, ‚coole‘ oder ‚relevante‘ Menschen zu den einflussreichsten Persönlichkeiten in der Christenheit zu machen.“ Cooper hält es für überaus „gefährlich“, wenn die Kirche auf Influencer oder „auf 20-jährige Anbetungsjünger als unsere Quelle der Wahrheit schaut“. Quelle der Wahrheit ist vielmehr Jesus selbst. Er ist „der Weg und die Wahrheit und das Leben“ (Joh 14,6). Wer berufen ist, die Wahrheit zu verkündigen, dem darf es nicht um die Selbstdarstellung der eigenen Person gehen. Es gilt, als Person ganz zurückzutreten, um etwas Größeres offenbar werden zu lassen.
Das, was eine Influencerin wie Jana Highholder verkündigt, sind zumeist „Basics“ des Glaubens, aber auch ganz praktische Hinweise und Hilfestellungen bei Problemen wie Prüfungsangst oder Mobbing. Damit aber offeriert Jana Highholder ihren Followern lebensdienliche Angebote, die so oder ähnlich massenhaft im Netz zu finden sind. Um sich zu behaupten, müssen christliche Influencer ihre Botschaft erkennbarer positionieren. Der Spielraum hierfür ist jedoch nicht groß, denn das Netz zwingt den Influencern seine marktförmigen Gesetze auf. Wenn Kirche sich Strategien aneignet, die bei professionellen Influencern erfolgreich sind, sollte klar sein, dass es sich dabei um unternehmerische Strategien handelt. Die oft verächtlich gemachten, streng konservativen „Christfluencer“ agieren im Netz wie Franchise-Unternehmen und erzielen nicht zuletzt aus diesem Grund höhere Klickzahlen als die in dieser Hinsicht bieder wirkenden Influencer wie Jana Highholder. So offenbart die Christfluencerin LiMarie in einem Deutschlandfunk-Interview vom 26. März 2019, dass sie sich für eine Gemeindegründung an Coca Cola und Audi orientiere.
Was im Netz ist, bleibt im Netz
Die marktförmige Verpackung reicht jedoch nicht aus, um sich mit einem religiösen Angebot im Netz zu behaupten. In dem Maße, in dem die Angebotspalette förmlich explodiert, entsteht eine Aufmerksamkeitsspirale, in der alles immer ausgefallener und provokativer sein muss, um überhaupt noch wahrgenommen zu werden. So erzeugen denn auch die Glaubensbekenntnisse der evangelischen Pfarrerin Theresa Brückner, die den YouTube-Kanal „theresaliebt“ betreibt, deutlich weniger Aufmerksamkeit als die von LiMarie provokativ vorgetragenen Aussagen über Abtreibung als „Massenmord“. Auch der katholische Pfarrer Christian Olding muss hinnehmen, dass seine Glaubensangebote im Internet im Vergleich zum aggressiven Kampf gegen Homosexualität, wie ihn etwa die Christfluencerin Juju Ploch im Namen Gottes führt, klickmäßig chancenlos sind.
Für die Netzgemeinde ist das Aggressive und Provokative, verpackt in Werbestrategien, per se nichts Verwerfliches. Dazu fügt sich die Forderung, dass auch christliche Influencer ihre Botschaft im Netz besser vermarkten und bewerben müssen. Dadurch aber entsteht der Eindruck, dass diese Botschaft an sich nicht ausreicht. Es wird zudem grundsätzlich vorausgesetzt, dass man die Hoffnungsbotschaft von Erlösung und Auferstehung zum Gegenstand von Werbung machen kann. In der Botschaft Jesu aber geht es nicht um Aufmerksamkeitswerte auf einem Markt der Sinnanbieter. Die Botschaft Jesu will nicht Bedürfnisse befriedigen oder sie künstlich kreieren. Die Botschaft Jesu ist kein Produkt, kein Angebot, für das etwas zu zahlen ist. Das, was angeboten wird, das Heil, ist unbezahlbar und unverfügbar. Es ist ein Gnadengeschenk, das den Mensch auf einen Gott verweist, der sich ihm unverdient hingibt.
Ein christlicher Influencer, der im digitalen Raum für Anliegen der Kirche eintritt, muss die Tatsache konfrontieren, dass sich in diesem Raum das Kirchenverständnis und die Gestalt der Kirche grundlegend verändern. Der digitale Raum ist unabhängig von Zeit und Ort und vor allem kommunikationsorientiert. Man teilt Informationen, kommentiert Erlebnisse und Ereignisse und ist dabei Rezipient und Produzent zugleich. Jeder kann sich eine eigene Plattform zulegen, jeder kann selbst Meinungsführer werden. Diese individuell-pluralistische Organisation des Netzes, die mit offenen, ungezwungenen Kommunikationsstrukturen einhergeht, schwächt die „Institution“ Kirche an sich. Die Gemeinde, die über den christlichen Influencer im Netz entsteht, ist nicht mehr erkennbar kirchlich-institutionell verfasst – gilt doch ohnehin alles, was in Sachen Kirche und Glaube institutionell gebunden ist, als starr, autoritär und weltfremd.
Damit aber stellt sich die Frage, was christliche Influencer überhaupt für die Kirche bewirken können. An dieser Stelle gilt es, den Ball flach zu halten und niedrigschwellig vorzugehen – will heißen, kirchenferne Menschen zunächst einmal mit den Angeboten der Kirche vertraut zu machen. Ob man von hier aus zum Glaubensbekenntnis gelangen und die verloren gegangene Bindekraft des Glaubens wiederherstellen kann, bleibt jedoch ungewiss.
Dem entspricht, dass dem Bedeutungszuwachs von Religion im digitalen Raum der Bedeutungsschwund von Religion und Glaube in der individuellen Lebensführung entgegensteht. Das, was ein christlicher Influencer glaubensmäßig verkündigt, bleibt „im“ Netz und erfasst die analoge religiöse Alltagspraxis des Einzelnen nicht unbedingt. Christliche Influencer mögen bei jungen Sinnsuchern beliebt sein, in Jugendkreisen von Gemeinden dagegen sucht man vergeblich nach Teilnehmern. Christliche Influencer erzählen in den Sozialen Medien erfolgreich von „ihrem“ Glauben, amtliche Vertreter der Kirche dagegen finden mit der Glaubensbotschaft Jesu in der Gesellschaft kaum noch Gehör.
Auch von hier aus ist es mehr als fraglich, ob es gelingt, durch christliche Influencer Menschen wieder zur Teilnahme am analogen Gottesdienst zu motivieren. Wenn Seelsorge und Gottesdienst zunehmend online dargeboten werden, wird man erst recht nicht in die Kirche vor Ort gehen. Die Journalistin Nele Antonia Höfler beschreibt in einem FAZ-Artikel vom 28. August 2019, wie dadurch letztlich der Verkündigungsauftrag Jesu verkehrt wird. Er lautet nicht länger: „Geht hinaus in die Welt und verkündet das Evangelium!“, sondern: „Geht hin und bleibt zu Hause!“ (Mk 16,15).
Der Glaube der vielen Einzelnen
Offensichtlich passen Kirche und digitale Medien doch nicht so gut zusammen wie angenommen. Die Gnade des Glaubens und das Geheimnis der Gottesgegenwart sind in den digitalen Medien etwas Vordergründiges, das nicht genügt, weil das Medium das Eigentliche nicht vermitteln kann. Kirchenferne Nutzer mögen im Netz durch christliche Influencer wieder an Glaubensinhalte herangeführt werden, aber das Entscheidende – die Spiritualität unmittelbar gelebter Religion, das leibhaftige Gemeindewerden im Gebet – fällt dabei aus.
Die Tatsache, dass die Gemeinde des Influencers sich nicht mehr über die persönlich-leibliche Nähe und Gemeinschaft konstituiert, verrät auch etwas über den Glauben im Netz an sich. „Der Glaube der vielen Einzelnen“, so beobachtete der Theologe Horst Albrecht bereits 1993, wird „in einem noch ungeahnten Maß von den Massenmedien geprägt“ (Die Religion der Massenmedien. Stuttgart 1993, 142). Das, was man heute glaubt, folgt zunehmend den Bedingungen der digitalen Medien und ihrer Mediatisierung des Glaubens. Unter diesen Bedingungen geht nicht nur das Leibhaftige des Glaubens verloren, er unterliegt auch dem digital beförderten Sofortismus und Pragmatismus. Ein christlicher Influencer, dessen Glaubensangebot nicht sofort verfügbar und überdies zu anstrengend und zeitraubend ist, wird nur wenige Klicks und Likes erhalten. Ein Influencer jedoch, der peppig daherkommt, erzielt bereits durch den „coolen“ Auftritt hohe Followerzahlen.
Das Problem dabei ist, dass dem coolen Auftritt nunmehr auch eine coole Botschaft entspricht. Cool wirkt die Botschaft vor allem dann, wenn sie trendig und lebensrelevant ist. Damit dominiert eine funktional-pragmatische Sicht auf Religion und Glaube. Man klopft sie darauf ab, welchen Nutzen sie haben und was sie an Lebenshilfeleistung erbringen. Dazu fügt sich, dass kirchlich gebundener Glaube an die Erlösung und Heiligung des Menschen bei Nutzern häufig nicht gut ankommt. Influencer dagegen wie die O’Bros, die mit ihrer Musik „Worshiphop“ betreiben und den Glauben als „Lifestyle“ beschreiben, „den jeder für sich ausleben kann“, gewinnen die Gunst ihrer Follower.
Dass Glaube im Netz als Lifestyle und Lebenshilfe sofort, überall und jederzeit verfügbar sein muss, deutet auf eine Entwicklung hin, deren Folgen noch gar nicht absehbar sind. Die Digitalisierung bemächtigt sich des analogen religiösen Raums und überformt ihn. Gottesdienste finden mittlerweile auch mit Smartphones und Tablets statt und verheißen den Gottesdienstbesuchern digitales Feedback und digitale Teilhabe.
Dort aber, wo die Dominanz des Technisch-Digitalen unaufhaltsam wächst und durch seine Allgegenwart und Allmacht selbst religiöse, quasi-göttliche Züge annimmt, gerät jener wahre „geistige Gottesdienst“ in Vergessenheit, der sich in einem (analogen) Leben verwirklicht, in dem man „dem lebendigen Gott dient“ (Röm 12,1; Hebr 9,14).