Die Flechten geben ebensowenig wie die Viren auf“, bemerkt der Dichter Hans Magnus Enzensberger (geboren 1929) in seiner Sammlung „natürlicher Gedichte“ aus dem Jahr 2004. Dass die Viren nicht aufgeben, ist seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie weltweit und bis in alle Lebensbereiche hinein spürbar. Selbst hoch zivilisierte und technisierte Gesellschaften erleben Bedrohung und Verwundbarkeit. Ein neuartiger Virus kann auch im Anthropozän Börsenkurse zum Einsturz bringen, das gesamte öffentliche Leben lahmlegen und fordert seinen Tribut in Menschenleben.
Das Eigenleben und die Beharrungskräfte der Natur angesichts des Strebens des modernen Menschen nach umfassender Naturbeherrschung werden im Werk Hans Magnus Enzensbergers immer wieder thematisiert. Naturgedichte durchziehen das Œuvre des inzwischen 90-jährigen Dichters wie ein roter Faden.
Dass Naturlyrik keinen besonders guten Ruf hat, weiß der Dichter selbst, galt sie doch häufig als beschaulich, idyllisch und romantisierend. Wer dennoch in Zeiten ökologischer Krisen Naturlyrik verfasst, sollte nicht hinter „den kognitiven Möglichkeiten seines Jahrhunderts“ (Enzensberger) zurückbleiben. Und so verbinden sich im Werk Enzensbergers ein kontemplatives Staunen über Naturphänomene mit seinem ausgeprägten naturwissenschaftlichen und ökologischen Interesse. Vor allem aber sind seine naturlyrischen Variationen Meditationen über den Menschen und dessen Stellung in Welt und Universum.
Auch in der gegenwärtigen Theologie wird der Ruf nach einer neuen theologischen Anthropologie lauter, die nicht hinter dem Problemstand des 21. Jahrhunderts zurückbleibt. So fordern Theologinnen wie Julia Enxing, Katrin Bederna und Claudia Gärtner (vgl. HK März 2020) die Abkehr von einer christlichen Anthropozentrik sowie eine gründliche Revision der klassischen Ankerpunkte theologischer Anthropologie, insbesondere der Gottebenbildlichkeit. Die Verstrickungen theologischer Anthropologie in die ökologische Katastrophe der Gegenwart gelte es offenzulegen. Zudem wird gefordert, das Verhältnis vom Menschen und dessen nicht-menschlicher Mitwelt nicht wie bisher in Überlegenheits- oder Abgrenzungskategorien zu denken, sondern vielmehr die Relationalität und Verwobenheit allen Lebens theologisch zu konzeptualisieren. Gerade die öko-poetischen Interventionen Enzensbergers halten für diesen theologischen Paradigmenwechsel bemerkenswerte Anregungen bereit, nicht zuletzt deshalb, weil Enzensbergers Gedichte immer wieder auf die biblische und theologische Tradition Bezug nehmen.
Schon in Enzensbergers frühen Gedichtbänden der Fünfziger- und Sechzigerjahre erhält die Natur- und Ökologiethematik Raum – lange bevor sich in weiteren Teilen der Gesellschaft ein ökologisches Bewusstsein entwickelte.
Angesichts der atomaren Bedrohung im Kalten Krieg und der zunehmenden Naturzerstörung verleiht der junge Dichter denen eine Stimme, die selbst nicht sprechen können: „Ich spreche von dem was nicht spricht, / von den sprachlosen Zeugen, / von Ottern und Robben, / von den alten Eulen der Erde“, heißt es im Gedicht „Das Ende der Eulen“ (1962). Die Stummheit der vom Menschen bedrohten Tierwelt erscheint dabei als Resultat menschlichen Verhaltens: „die Schöpfung nimmt nicht mehr / von uns Notiz. Für immer / verstummt aus Ekel vor uns / Dronte, Zobel und Albatros.“ Dieser Perspektivwechsel von „der Schöpfung“, die hier mit ausgestorbenen oder bedrohten Arten näher bestimmt wird, auf das kollektive „wir“ zeigt: Der Bruch zwischen „uns“ und „der Schöpfung“ ist vom Menschen verursacht. Und der Dichter nährt keinerlei Illusionen darüber, dass dieser Riss gekittet werden könnte. Es fällt auf, dass der junge, äußerst religionskritische Enzensberger hier auf den theologischen Begriff der Schöpfung zurückgreift. Dieser Begriff evoziert eine Einheit von Mensch und Natur, wie sie prinzipiell möglich sein könnte. Gerade vor dem Hintergrund des Konzeptes der Schöpfung tritt das resignierte Abdanken der Natur umso stärker in den Blick.
Apokalyptische Grundstimmung
Während die Anhängerinnen und Anhänger von Fridays for Future heute rufen „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“, sind die ökologischen Gedichte des jungen Enzensberger von einer noch drastischer empfundenen Zukunftslosigkeit geprägt. Das Ende des Menschen scheint für ihn besiegelt. Seine Verse über die „verbarrikadierte Zukunft“ verleihen einem Geschichtspessimismus Ausdruck, der in Enzensbergers Kriegserfahrung einerseits und in der fortschrittsbesessenen Naturzerstörung im Wirtschaftswunderdeutschland andererseits wurzelt. Mit apokalyptisch gefärbtem Blick konstatiert er nüchtern „wir sind schon vergessen“ und, in Anlehnung an Brecht, „keine Nachgeborenen / keine Nachsicht / nichts weiter“.
Die frühen öko-poetischen Gedichte Enzensbergers stellen provokante Appelle zu einem radikalen Perspektivwechsel dar, weg von einem Anthropozentrismus hin zur emphatischen Parteinahme für das Leben der nicht-menschlichen Mitwelt.
Inmitten der apokalyptischen Grundstimmung der frühen Ökolyrik Enzensbergers ist jedoch immer wieder eine Sehnsucht vernehmbar, „etwas zu loben mit starker Stimme auf Erden“. Worauf aber kann sich dieses Lob beziehen, wenn Gott und Mensch als Adressaten ausfallen? Wer oder was ist eine Ode wert? In „Ehre sei der Sellerie“ ergeht Enzensbergers Lobgesang an den Steinbrech, den Uhu, den Wal und den Blitz: „auf sie laßt uns bauen / sie sind eine Ode wert.“ Hingegen, das „Ebenbild“ wird immer wieder mit beißendem Sarkasmus bedacht: „wer wär es nicht leid, dieses Scheckgesicht“. Das „glasscherbenfressende Ebenbild“ des „lieben Gottes“ taugt gerade noch für die „Bundeswehr“. Die Sellerie hingegen ist „menschlicher als der Mensch, / frißt nicht seinesgleichen“. Der Lobgesang auf die Natur wird zum Abgesang auf den Menschen. Die Rede vom Menschen als göttlichem Ebenbild dient lediglich als Mittel zum Spott.
Die Entbehrlichkeit des Menschen
Aber selbst in Fragen der Apokalypse bleibt Enzensberger beweglich und entzieht sich jeglicher Fixierung. So verschiebt sich in seinen Naturgedichten der Fokus vom Untergang der Schöpfung auf die Beharrungs- und Selbstheilungskräfte der Natur. Das Gedicht „Flechtenkunde“ (1964) etwa beschäftigt sich mit der steinalten und oft übersehenen Flechte und redet darin vom Menschen: Die Flechte ist „unbewaffnet und kaum besieglich“, sie „strauchelt“ nicht, ihre Werke „misslingen nicht“, anders als der Mensch hat die tausendjährige Flechte Zeit, ihre Wahrheiten sind „haltbarer“ als unsere. Im Spiegel der Flechte reflektiert das Gedicht die conditio humana in all ihrer Hinfälligkeit und Flüchtigkeit. Am eindrucksvollsten werden die Beharrungskräfte der Natur in der post-apokalyptischen Szenerie des Gedichtes „Vom Leben nach dem Tode“ (1995) geschildert. Anders als der Titel erwarten lässt, geht es hier nicht um ein postmortales Leben des Individuums, sondern um eine irdische Szenerie nach dem Tode der Gattung Mensch, in welcher die Natur verlassene Industriebrachen zurückerobert – doch niemand ist dann mehr da, um dieses „erhaben[e] Schauspiel“ zu bewundern. Solcherart imaginierte ökologische Wiederherstellungsprozesse machen vor allem eines deutlich: Die Natur kommt sehr gut ohne den Menschen aus.
Die von Enzensberger variantenreich durchgespielte Entbehrlichkeit des Menschen für das Leben auf der Erde setzt einen starken Gegenakzent zur klassischen theologischen Anthropologie. Eine vermeintliche Genialität und Überlegenheit des Menschen wird insbesondere in seinen späteren Gedichten vielfach ironisiert bzw. dekonstruiert. So überbringt im Gedicht „Die Visite“ (1995) paradoxerweise ein Engel dem Gedichtsprecher die radikale Botschaft von dessen Entbehrlichkeit: „Sie können sich gar nicht vorstellen, / sagte er, wie entbehrlich Sie sind.“ Und dann wird aufgezählt, was wirklich „ins Gewicht der Welt“ fällt: die fünfzehntausend Schattierungen der Farbe Blau, der Feldspat, die Große Magellansche Wolke und der gemeine Froschlöffel.
Wieder sind es Phänomene der belebten und unbelebten Natur, die, dem Menschen gegenübergestellt, dessen Marginalität zum Ausdruck bringen. Das Spiel mit derlei Kontrastierungen umfasst ebenfalls menschliche Errungenschaften aus Wissenschaft und Technik, die angeblich dessen Genialität verbürgen. Mit ironischem Gestus werden „Mikroprozessor“ und „Jupitersonde“ dem „Löwenzahn“ und dem „Gehirn einer Fliege“ gegenübergestellt, um schließlich festzustellen: „Nie im Leben, liebe Nobelpreisträger, gebt es nur zu, hättet ihr sowas erfunden.“
Worin aber liegt in Enzensbergers Lyrik die Überlegenheit, ja Vollkommenheit des Natürlichen gegenüber den menschlichen Errungenschaften beziehungsweise gegenüber dem Menschen selbst begründet? Drei immer wieder begegnende Motivlinien seien hier genannt. Das in Enzensbergers Gedichten begegnende Naturverständnis ist ein temporales, dynamisches, evolutiv-offenes: Natur als Geschichte. In dieser Entwicklungsgeschichte macht der Mensch nur einen kleinen, vorübergehenden Teil aus. Der Hase hingegen ist „fünfzig Millionen Jahre / älter als wir!“ „Dem Blutdurst der Jäger, / (...) dem Virus entkommen, / schlägt er ungerührt seine Haken.“ „Aus dem Eozän hoppelt er / an uns vorbei in eine Zukunft“. Im Angesicht des evolutionären Alters und der Widerstandsfähigkeit des Hasen erscheint der Mensch zwar als „Novität, nur leider / nicht sehr haltbar“. So stellt es zumindest der Gedichttext „Wissenschaftliche Theologie“ (1999) fest, in welchem aus der Perspektive eines göttlichen Naturwissenschaftlers auf seine Versuchsreihen geblickt wird. In einer davon befindet sich unser Universum. Gerade das Zeitalter des Menschen aber verschläft dieser Gott – schade!
Auch wird in vielen Texten Enzensbergers die unendliche Variationsfreudigkeit der Natur, ihre Fülle und Komplexität gewürdigt. So wird im Gedicht „Äolische Formen“ (1999) der Sand zu einem poetischen Gegenstand, dessen Variations- und Formenreichtum vorgeführt wird. Aber auch die unendlichen Verästelungen, Verzweigungen und Bifurkationen (eine Lieblingsvokabel Enzensbergers) der natürlichen Netzwerke und deren Ordnungen übersteigen das menschliche Fassungsvermögen und münden in die Einsicht der eigenen, begrenzten Fähigkeiten.
Transzendente Natur, überlegene Elstern
Schließlich, und wesentlich, meditieren viele Gedichte Enzensbergers Naturphänomene bzw. -prozesse als das dem Menschen Vor-Gegebene, Transzendentale. Paradigmatisch steht dafür das Wasser, das als Transzendentalphänomen schlechthin erscheint. Im Gedicht „H₂O“ (2009) heißt es: „Auf diese Verbindung / wäre keiner von uns gekommen. / Schon deshalb nicht, / weil unser Gehirn, / gäbe es kein Wasser, / nicht dächte.“ Neben dem Wasser wird auch die Luft als Grundbedingung menschlichen Lebens genannt, die der Mensch gedankenlos „verbraucht“. Brandaktuell angesichts gegenwärtiger Debatten über ökologische Fußabdrücke sind Verse Enzensbergers aus dem Gedicht „Zu der Frage, was seliger ist“ (2003). Hier wird angezeigt, was die Welt einem Menschen alles gegeben hat – „jede Menge Luft, Spielsachen, / Leitungswasser und Obst, / (...), Benzin tonnenweise, / (...) und noch und noch Extras – / das geht ja ins Uferlose, / über die Hutschnur. / Das geht zu weit, alter Freund.“ Schließlich kommt die Sprechinstanz zu folgendem Schluss: „So viel, wie die Welt / Ihnen gegeben hat, / kann ein Penner wie Sie / ihr nie wiedergeben, / oder?“ Auf ironisch-humorvolle Art bringt dieses Gedicht die grundlegende Abhängigkeit des Menschen von der ihn umgebenden Mitwelt zum Ausdruck – eine Verwiesenheit, die grundsätzlich den Menschen begünstigt.
Das Apriori der Natur spielt schließlich noch in einer weiteren Hinsicht eine Rolle. Enzensbergers Gedichte demontieren die Überlegenheit des menschlichen Geistes, indem sie ausleuchten, was sich alles unter der Oberfläche des menschlichen Bewusstseins tut. So verhandelt das Gedicht „Unter der Haut“ (1995) „dieses dunklere Universum / unter der Haut, / in dem es nicht denkt, / nur pumpt, brodelt, knetet, arbeitet, / während du schläfst“. Dieser „innere Dschungel“ arbeitet ohne Einflussnahme des menschlichen Geistes. Vielmehr sind die dunklen, natürlichen Prozesse Bedingung für die kognitiven Fähigkeiten des Menschen. Aber auch diesen wird attestiert, dass der Mensch „statt zu denken / gedacht wird.“ Ist der Mensch also aufgrund seines Bewusstseins und seiner kognitiven Begabungen seiner nicht-menschlichen Mitwelt überlegen? Enzensbergers Verse behaupten das Gegenteil.
Vielmehr ruft er den Elstern zu: „Wie seid ihr mir überlegen.“ Und auch die Ameise imponiert ihm, „wie sie tastet und tastet / nach einem Spalt in der Mauer, / denn ich bin faul.“ Unentbehrlich sind „Essig und Öl, Pfeffer und Salz“ – nicht aber der Sprecher des Gedichtes.
Aber, wollen alle diese Gesten der Selbstrelativierung und Selbstbescheidung nicht eigentlich Widerspruch erregen? Wollen sie nicht dementiert werden? Zieht es den Menschen nicht doch in das Zentrum des Universums, aus dem die Verse Enzensbergers ihn eigentlich ausbürgern wollen? Enzensbergers Gedichte irritieren das gewohnte Denken vom Menschen als „Maß aller Dinge“. Schon früh dankt bei ihm der biblische Topos der Gottebenbildlichkeit ab. An andere biblische Traditionen hingegen, welche die Flüchtigkeit und Vergänglichkeit des Menschen betonen, kann er gut anschließen, zum Beispiel an das Buch Kohelet im Gedicht „Salomonisch“ (2009): „Wie schon gesagt, / Prediger 1,2 / alles ganz eitel“ und „Gebenedeit / sei die Nichtigkeit“.
Die theologisch beziehungsweise anthropologisch inspirierende Kraft der Gedichte Enzensbergers besteht in den immer neuen Perspektivwechseln, welche dazu anregen, ein anthropozentrisches Selbstbild kritisch zu reflektieren. Dazu versuchen seine Verse immer wieder das Unmögliche, nämlich die „Grenzen der Vorstellungskraft“ (1999) zu sprengen und sich vorzustellen, „wie die Katze dich sieht / oder irgendein Gott.“
Und sie laden dazu ein, sich all des Vor-Gegebenen gewahr zu werden, mit dem der Mensch als „Erdling“ immer schon verbunden ist beziehungsweise das ihm zugrunde liegt. Dem „ewigen Inländer“ Mensch allerdings, der verbannt ist „ins eigene Nest“, mag dieser Perspektivwechsel kaum gelingen. Und genau darum könnte neben den Naturwissenschaften auch die Dichtung der Theologie eine gute Gesprächspartnerin sein: um begrenzte anthropologische Perspektiven aufzubrechen und neue Sichtweisen auf den Menschen und dessen Stellung im Kosmos durchzuspielen, die nicht hinter den kognitiven Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts zurückbleiben.