Theologische Antworten auf die Solidaritätsfrage in der PandemieGott in der Krise finden

Solidarität aus Furcht vor Ansteckung reicht nicht aus. Wenn die Angst vor dem Corona-Virus in weniger gefährdeten Gesellschaftsgruppen abnimmt, droht ein Ausverkauf des solidarischen Handelns. Doch gerade in der Katastrophe können Vorstellungen von einer gerechten Welt bahnbrechend sein.

Gott in der Krise finden
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Dieser Text wird ins Dunkel unserer Zukunft hineingeschrieben. Es bleibt nichts anderes übrig. Was wird mit dieser Welt, nicht allein Deutschland, nein, mit der ganzen Welt sein, wenn diese Zeilen veröffentlicht sind? Zumindest die Leserin und der Leser werden schon mehr als die Autorin wissen. Wie sich im Frühjahr 2020 innerhalb weniger Tage unser Alltag, unsere Begegnungsformen, unser Vertrauen in die Zukunft, unsere Träume und unser gesamtes gesellschaftliches, kulturelles, wirtschaftliches Leben verändert haben, ist grundstürzend.

Es steht uns vor Augen, dass wir uns, ausgelöst durch das Coronavirus, in einer dramatischen erdumspannenden hochdynamischen Krise befinden, die unermessliches Leid mit sich bringt. Diejenigen, die diese Pandemie überleben, werden als Gezeichnete aus ihr hervorgehen, manche mehr als andere – auch das lässt sich jetzt bereits absehen. Und diese Tatsache wird über die gegenwärtige Krise und die zu erwartenden wirtschaftlichen und ökologischen Folgekrisen hinaus die Welt vor Gerechtigkeitsfragen gigantischen Ausmaßes stellen.

Medial getaktet versuchen Virologen, Zukunftsforscher, Politiker und Wissenschaftsredakteure die ungewisse Zukunft zu erhellen. Manche Prognosen stimmen zuversichtlich, erhellen die Zukunft, wie zum Beispiel in dem viel in sozialen Netzwerken verlinkten Text von Matthias Horx. Der Trend- und Zukunftsforscher taucht die Nach-Corona-Welt in einen „Rausch des Positiven“. Er bedient sich dazu eines Kunstgriffs, blickt quasi zurück aus der Zukunft und schreibt: „Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.“ (Horx, Matthias: 48 - Die Welt nach Corona, www.horx.com/48-die-welt-nach-corona/)

Abgesehen von solchen optimistischen Prognosen, sehen die meisten Menschen der Zukunft jedoch äußerst sorgenvoll entgegen. Die Gegenwart gibt wenig Grund zur Hoffnung: Tragödien spielen sich in Krankenhäusern weltweit ab. Wie viele werden noch sterben? Wie viele von ihnen qualvoll, einsam und von allen verlassen? Wie viele Existenzen werden zerstört, in Armut und Abhängigkeit katapultiert oder gehen an der Erkenntnis zugrunde, dass nichts mehr zum Leben bleibt, dass alles umsonst gewesen ist, dass Träume zerplatzt sind. Wie viele trauern, wie viele verzweifeln daran, dass sie im Sterben nicht beistehen, nicht einmal am offenen Grab Abschied nehmen konnten?

Vieles erinnert an Worst-Case-Szenarien, die in der Risikoforschung seit langem als gedankliche Experimente angewandt werden. Die denkbar schlimmste Gefährdung, die Katastrophe, wird imaginiert, um auf alles, was passieren könnte, vorbereitet zu sein. Um sich zu wappnen, operiert nicht nur die Risikoforschung mit Worst-Case-Szenarien. Auch literarische und filmische Katastrophenimaginationen werden quasi als Experimentalanordnungen von Leserinnen oder Zuschauern genutzt, so Eva Horn (Zukunft als Katastrophe, Frankfurt 2014). Untergangsszenarien werden auf dem Sofa sitzend durchlebt. Den Imaginationen der Katastrophen wird eine epistemische Kraft zugesprochen, um besser mit den jeweils aktuellen Krisen umgehen zu können. Wie wirkmächtig diese Experimentalanordnung zumindest zu Beginn der gegenwärtigen Krise noch war, ließ sich daran ablesen, dass Filme über tödliche Virenepidemien wie „Contagion“ (Steven Soderbergh) und „Outbreak“ (Wolfgang Petersen) sich weit oben in den Film-Streaming-Charts platzierten, obwohl man für apokalyptische Bilder menschenleerer Straßen nur aus dem Fenster zu sehen brauchte.

Worst-Case-Szenarien sind offenbar hilfreich – aber nicht nur.

Wie ambivalent sie sind, wird erst sichtbar, wenn man für einen Moment lang von der Bedrohung durch das Coronavirus absieht und strategisch denkende Gegner, etwa Terroristen, in den Blick nimmt. Die gedankliche Vorwegnahme der schlimmsten Folgen eines möglichen Terroranschlags führt vor Augen, was alles getan werden müsste, um einen verheerenden Anschlag zu verhindern.

Das Worst-Case-Szenario rüstet also gegen den Gegner, aber: Es spielt ihm auch in die Hände. Denn der Terrorist nutzt gerade die Kraft der Imagination und die Einsicht, dass es trotz aller Anstrengungen immer Sicherheitslücken geben wird, strategisch aus und verwandelt diese Kraft in eine destruktive Macht. Die katastrophisch gestimmte Furcht soll zum handlungsleitenden Impuls werden. Dadurch sollen sich die angegriffenen Gesellschaften in ihren Freiheitsrechten so stark selbst beschränken, dass ihr demokratisches Antlitz unkenntlich wird.

In der Coronavirus-Pandemie scheint dies zunächst ganz anders zu sein. Denn gerade die Furcht schützt die bedrohten Gesellschaften. Sie ist zur Verbündeten im Kampf gegen das Virus geworden, weil sie das Gedächtnis konditioniert – Hände waschen, nicht schütteln! – und damit die Ausbreitung des Virus verlangsamt. Aber so notwendig und lebensrettend Furcht ist, ihre katastrophische Variante wirkt sich letztlich auch in der Pandemie destruktiv aus – und es könnte sein, dass dieser Aspekt in der gegenwärtigen Krise heillos unterschätzt wird.

Denn auch die Furcht ist zu exponentiellem Wachstum in der Lage – mit verheerenden Folgen. Sie kann psychisch und physisch krankmachen. Die düstere Lage und die bedrohlichen Prognosen können Panik verbreiten, auch unter denen, die sich sicher wähnten, nicht erst in der Not das Beten lernen zu müssen. Furcht verzerrt den Blick für das richtige Maß in individuellen Belangen und für die Verhältnismäßigkeit in politischer Hinsicht. Diese Furcht vor dem Virus als ein die gesamte Gesellschaft beherrschendes Gefühl stellt Demokratien auf eine harte Probe. Für die Exekutive eröffnen sich weite Spielräume. Noch nie zuvor wurden in der Bundesrepublik innerhalb kurzer Zeit so restriktive Beschränkungen unseres Alltags durchgesetzt.

Dieses Gefühl, der Pandemie ausgeliefert zu sein, steht in vielen Ländern weltweit in der Gefahr, machtpolitisch instrumentalisiert zu werden und eine Abschaffung des Rechtsstaats zu forcieren.

Aber hat die Furcht vor dem Virus nicht auch dafür gesorgt, dass der Lockdown von der Gesamtheit der Bevölkerung solidarisch mitgetragen wurde? War und ist nicht gerade die Furcht, selbst krank zu werden oder nahestehende, besonders gefährdete Menschen zu verlieren, eine großzügige Mäzenin der Solidarität? Sind sie nicht ein perfektes Paar: die Furcht und die Solidarität? Nein, das sind sie nicht. Oder sie sind es zumindest nur auf den ersten Blick. Denn ihre Beziehung gründet auf Abhängigkeit. Die Jugendlichen, die trotz der Devise ‚Fürsorge durch Abstand‘ Partys feierten, verkörperten das Scheitern dieser Abhängigkeitsbeziehung. Sie sahen aufgrund ihrer vermuteten Nicht-Zugehörigkeit zur Gruppe der vom Virus Bedrohten offenbar keinen Grund, sich solidarisch zu verhalten. Die Empörung darüber war laut. Im Stillen beschlich manch einen aber die Sorge, dass die Solidarität der Empörten nur aufgrund ihrer Furcht so groß sein könnte. Nicht aus dem Blick geraten darf außerdem, dass die Angst vor dem Virus nicht nur eine bestimmte Form von Solidarität fördert, sondern diese auch zu einem starken Katalysator für Entsolidarisierung werden kann, was sich in den wochenlangen Hamsterkäufen zeigte.

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen besteht begründeter Anlass zu der Sorge, dass es zu einem weiteren, aber zentralen Mangel in und nach der Corona-Krise erst noch kommen könnte: zu einem Ausverkauf der Solidarität. Noch ist das ein Worst-Case-Szenario. Aber die Zeichen, dass auch hier die Realität den schlimmsten denkbaren Fall einholt, mehren sich. Noch ist nichts entschieden. Aber umso entschiedener muss gehandelt werden, vor allem mit Blick auf die künftige Kluft zwischen Menschen, die aufgrund ihrer besonderen Vulnerabilität noch lange Zeit auf Schutz und Rücksicht angewiesen sein werden, und jenen, denen das Virus nicht (mehr) wirklich gefährlich werden kann und die auf eine Rückkehr zur Normalität, wie immer diese aussehen mag, pochen. Der mögliche Ausverkauf der Solidarität hätte katastrophale Folgen für eine von der Pandemie gezeichnete Welt. So lautet die drängende Frage: Wer kann, wenn die Großlieferantin Furcht aus dem Handel aussteigt, die leeren Regale der Solidarität wieder auffüllen?

Was hoffen lässt: Es gibt nicht nur die Solidarität aus Furcht. Es gibt in dieser Krise auch viele Zeichen einer von aller Angst befreiten Solidarität: In den Kliniken wird gearbeitet bis zur Schmerzgrenze, freiwillige Hilfsbereite melden sich zu Tausenden, Jugendliche kaufen für alte und kranke Menschen ein, Essenspakete werden verschenkt, telefonisch und online wird beraten, Solidaritäts-Gutscheine werden gekauft, Spenden gesammelt. Diese kreative Hilfsbereitschaft, die mitten aus der Zivilgesellschaft entspringt, kündet womöglich von einer Solidarität, die das Potential hätte, eine gerechtere Gesellschaft in der Post-Corona-Welt zu befördern.

Dabei wird jedoch eines entscheidend sein: Was diese Krise in den Generationen, die noch keinen Krieg erleben mussten, jetzt in einer noch nie erlebten Wucht hervorbrechen lässt, ist die Frage danach, wofür es sich wirklich zu leben lohnt. Mitten in der Katastrophe können nun Imaginationen von einem erfüllten Leben ihre epistemische Kraft entfalten, denn aus ihnen entspringt Solidarität, die wirkliche Gerechtigkeit schaffen könnte.

So bekommt im Angesicht der grundstürzenden Krise die vermutlich für viele Ohren unerträglich weichgespült klingende Frage nach dem erfüllten Leben einen scharfen Klang.

Doch woher kommen Antworten, die tragen? Eine Antwortende – unter anderen – könnte die christliche Theologie sein. Dieser Satz klingt harmloser als gemeint, denn er konfrontiert die Theologie mit einer für sie selbst seit langem existentiell gewordenen Frage. Stimmt man mit Miroslav Volf und Matthew Croasmun überein (Für das Leben der Welt. Ein Manifest der Erneuerung der Theologie, Münster 2019), dann hängt von einer überzeugenden Antwort der Theologie sehr viel ab: Denn solange sie nicht in der Lage ist, die Frage nach dem erfüllten Leben in ihr Zentrum zu stellen und zu artikulieren, welche gesellschaftsverändernde Kraft diese Frage entfalten kann, wird sie keine Zukunft haben.

Diesen kritischen Zustand, in dem sich die Theologie befindet, beleuchtet die Corona-Krise nun wie durch ein Brennglas. Aber ließe sich nicht einwenden, dass die Theologie für diese Frage doch bestens präpariert ist. Gibt es im Christentum nicht eine Vielzahl unterschiedlichster Visionen vom erfüllten Leben, also Rohstoffe genug für rettende Solidarität? Wären diese Imaginationen nicht lediglich hervorzuholen, vielleicht ein wenig abzustauben, dann läge bereit, was so dringend benötigt wird? Wer meint, so weiterhin Theologie treiben zu können, wird scheitern, weil er das Verlangen nach einem Halt, das viele Menschen in der Katastrophe spüren, nicht ernst nimmt und weil er damit die Frage nach Gott in dieser Zeit und was dieser mit dem eigenen Denken und Handeln im Hier und Heute zu tun hat, nicht wenigstens ein Stück weit zu beantworten versucht.

Die Theologie und die Frage nach dem gelingenden Leben

Denn tragen werden die Antwortversuche nicht, solange sie sich nicht dem Risiko aussetzen, mehr zu sein als eine vor allem gut konservierte christliche Botschaft, die glaubt, sie sei über jedes Haltbarkeitsdatum erhaben. Vielmehr wird um jedes Wort zu ringen sein, das – akkurat jetzt im Angesicht der vielen menschlichen Tragödien – die Welt als Wohnung Gottes begreifbar, erfahrbar machen möchte. Was für ein ungeheures notwendiges Wagnis!

Eine Imagination – unter vielen anderen möglichen – sei abschließend skizziert. Es ist eine Imagination weit entfernt vom „Rausch des Positiven“, wie Horx ihn sich und seiner Leserschaft ausmalte. Im Gegenteil: Imaginiert wird in Vergegenwärtigung dessen, was das Christentum von seinem allerersten Anfang, der Berufung der Jüngerinnen und Jünger, her ist: die radikale Entscheidung, Sicherheit nicht als erlösende Macht zu begreifen und dem Glauben an Unverwundbarkeit zu entsagen. In dieser Entsagung liegt eines der großen Versprechen eines erfüllten Lebens, die das Christentum anbietet.

Dieses Versprechen löst sich jedoch erst durch das diesem Versprechen entspringende Tun ein: Erst der Verzicht, Sicherheit mit allen Mitteln herstellen zu wollen, ermöglicht die schmerzliche Wahrnehmung der Not der Anderen, ihrer abgründigen Angst, ihrer lähmenden Ohnmacht, ihrer ausweglosen Einsamkeit, ihrer trostlosen Trauer, aber auch der zum Himmel schreienden ungerechten globalen Strukturen, deren lebenszerstörerische Folgen sich jetzt in aller Brutalität zeigen.

So wird diese schmerzvolle Wahrnehmung zu einer der Wohnungen Gottes mitten in der Corona-Welt, denn sie führt unausweichlich vor Augen, wofür es sich zu leben lohnt und was in und außerhalb der Hotspots der Pandemie zu tun ist: das Leid von Menschen zu lindern und solidarisch zu handeln und zu leben. Diese Imagination von einem lebenswerten und erfüllten Leben mitten in der Katastrophe wird zur Quelle der Solidarität. Auferstehung lässt dann nicht mehr nur auf sich warten.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

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