Die Würde des Menschen und die „Heiligkeit des Lebens“Über das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben

Das katholische Lehramt tradiert das generelle Verbot des Suizids mit dem Argument eines angenommenen Gotteswillens. Doch das verkennt den Menschen als Freiheitswesen, dem Autonomie auch über das Ende seines Lebens zukommen kann.

Über das Recht auf selbstbestimmtes Sterben
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Das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben schließt die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen“ und „umfasst auch die Freiheit, hierfür bei Dritten Hilfe zu suchen und Hilfe, soweit sie angeboten wird, in Anspruch zu nehmen.“ Auf diesem Leitsatz beruht das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020, nach dem die Vorschrift des § 217 StGB aus dem Jahr 2015 (Strafbarkeit der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung) mit dem Grundgesetz „unvereinbar und nichtig“ ist. Das grundgesetzlich geschützte allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 GG) umfasse im Sinne persönlicher Autonomie das Recht auf den (begleiteten) Suizid.

Seit geraumer Zeit wird in Urteilen europäischer Gerichte das Recht auf einen eigenen, selbstbestimmten Tod mit der menschenrechtlich garantierten Achtung der privaten Lebenssphäre begründet (vgl. Europäische Menschenrechtskonvention Art. 8). Das Bundesverfassungsgericht formuliert es so: „Von der Vorstellung ausgehend, dass der Mensch in Freiheit sich selbst bestimmt und entfaltet, umfasst die Garantie der Menschenwürde insbesondere die Wahrung personaler Individualität, Identität und Integrität“ (Pressemitteilung Nr. 12/2020 vom 26. Februar 2020). Welchen Sinn der und die Einzelne (noch) in seinem und ihrem Leben sieht, das unterliege „höchstpersönlichen Vorstellungen und Überzeugungen“ und sei demnach nicht absolut objektivierbar. Von diesem Recht auf Selbstbestimmung ausgehend sind in der Vergangenheit auch Urteile zum Recht auf sexuelle und geschlechtliche Selbstbestimmung beziehungsweise Identität gesprochen worden. Das Echo auf das weitreichende verfassungsgerichtliche Bekenntnis zur Freiheit der (assistierten) Selbsttötung war erwartungsgemäß sehr geteilt. Besonders aus dem kirchlichen Raum kam es zu vehementen, teils ungestümen Reaktionen. Besonnene Kommentatoren wiesen darauf hin, dass das Gericht zwar auf den Respekt vor dem selbstbestimmten Sterben abhebt, damit aber weder zu historischen „Perversionen der Sterbehilfe“ zurückkehrt noch dem Anliegen entgegensteht, durch barmherziges, etwa palliativmedizinisches Handeln „jene Freiheit zum Suizid (zu) sichern, die ihre Inanspruchnahme im besten Fall überflüssig macht“ (Gustav Seibt in der „Süddeutschen Zeitung“ vom 2. März 2020). Der auf Autonomie zielende Freiheitsbegriff des Gerichts sei auf achtbare Weise komplex und zugleich, was sich „nicht leugnen“ lasse, „tief unchristlich“.

Ob das Urteil der Unchristlichkeit zwingend und zu halten ist, daran sind Zweifel erlaubt. Aber dazu später. Dass die Selbsttötung unter der kulturellen Vorherrschaft des Christentums von der Spätantike – nicht zuletzt unter augustinischem Einfluss – bis zum Beginn der Neuzeit keine offene ethische Frage mehr war, ist ebenso wenig zu bestreiten wie ihre moralische Verurteilung in der katholischen Moraldoktrin bis heute. Die lehramtlichen Aussagen sind hier ganz eindeutig und entschieden: Ein Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben gibt es nicht. „Der Freitod oder Selbstmord ist daher ebenso wie der Mord nicht zu rechtfertigen; denn ein solches Tun des Menschen bedeutet die Zurückweisung der Oberherrschaft Gottes und seiner liebenden Vorsehung. Selbstmord ist ferner oft die Verweigerung der Selbstliebe, die Verleugnung des Naturinstinktes zum Leben, eine Flucht vor den Pflichten der Gerechtigkeit und der Liebe, die den Nächsten, den verschiedenen Gemeinschaften oder auch der ganzen menschlichen Gesellschaft geschuldet werden – wenn auch zuweilen, wie alle wissen, seelische Verfassungen zugrunde liegen, welche die Schuldhaftigkeit mindern oder auch ganz aufheben können“ (Erklärung „Iura et bona“ der Glaubenskongregation von 1980, I). Hier sind die klassischen Argumente versammelt, wie sie seit Thomas von Aquin tradiert werden: Die Selbsttötung verstößt gegen Pflichten, die man gegenüber sich selbst, der Gemeinschaft und gegenüber Gott hat, dem alleinigen Herrn über Leben und Tod (vgl. Dtn 32,39).

Das Argument der sozialen Verbundenheit ist das stärkste, denn es entfremdet das Subjekt nicht von sich selbst und verzichtet auf den Einsatz religiöser Autorität. Aber ist der Suizid den geliebten Anderen jemals zumutbar (vgl. Magnus Striet, Gottes Schweigen, Ostfildern 2015, 93–96)? In lehramtlichen Dokumenten ist hingegen etwas anderes zentral: Da wir „nur Verwalter, nicht Eigentümer“ (Katechismus der katholischen Kirche Nr. 2280) des uns von Gott anvertrauten Lebens seien, dürfen wir über unser eigenes Leben niemals verfügen – es sei denn, auf einen göttlichen Befehl hin, wie in Handbüchern hinzugefügt wird. Aber auch das wäre keine selbstbestimmte Verfügung. Autonomie und christlicher Glaube gelten als unvereinbar: Der Mensch könne sich nicht selbst das moralische Gesetz geben. Er darf sein Leben frei führen, solange er sich dabei in dem von der Wahrheit umzäunten Bereich bewegt, dessen Grenzen im Auftrag Gottes von der seinen Willen verbindlich auslegenden Kirche gezogen werden. Die Selbsttötung erscheint folglich als Rebellion gegen die gebotene Unterwerfung unter die Herrschaft Gottes – genauer: unter die von Menschen interpretierte Herrschaft Gottes.

Nur mühsam hat sich die Kirche von der Verdammung sogenannter Selbstmörder verabschiedet

Die neuzeitliche Abwendung von der mit der moralischen Verurteilung einhergehenden Verdammung und Kriminalisierung sogenannter Selbstmörder(innen) musste der katholischen Theologie und Kirche mühsam abgerungen werden. Erst mit erheblicher Verzögerung fand sie zaghaft Anschluss an die philosophische Debatte, die nun wieder offen über die moralische Position des Suizids geführt wurde und bis heute anhält, ohne dass sich in dieser Frage jenseits der geforderten Suizidprävention ein Konsens ausmachen lässt. Im Urteil des Bundesverfassungsgerichts drückt sich die historische Tendenz aus, das Recht auf eine Selbstverfügung über das eigene Lebensende als Konsequenz der Menschenwürde zu betrachten. Man hat von einer „Autosakralisierung der menschlichen Person“ (Alois Hahn und Matthias Hoffmann, Selbsttötung als Selbstsorge, in: Merkur 66 [2012] 550–557, 555) gesprochen, die hier zum Ausdruck komme und es als unzulässig erscheinen lässt, den (ärztlich) assistierten Suizid durch staatliche Regelungen faktisch zu verunmöglichen, worauf nach Meinung von Kritikerinnen und Kritikern der § 217 jedoch hinauslief.

Wird bei der moralischen Bewertung der Selbsttötung auf die Menschenwürde Bezug genommen, ist die Frage des Suizids nicht schon beantwortet, was man denken könnte, wenn man sich den moralischen Sonderstatus der Menschenwürde vor Augen führt. Ohne eine genauere Bestimmung, was unter dieser Würde zu verstehen ist, kommt man ethisch nicht weiter. Sprechen Dokumente des kirchlichen Lehramtes davon, die Würde der menschlichen Person verbiete eine Selbsttötung, ist gemeint, dass die Würde des nicht über sich selbst verfügenden Menschen dies verbiete. Das Argument ist offenkundig zirkulär. Denn faktisch kann der Mensch selbstverständlich über sich verfügen. Ethisch interessant ist die Frage, wie dieses Können moralisch reguliert werden soll. In theologischen Äußerungen über das menschenwürdige Sterben ist immer wieder zu beobachten, wie Vorstellungen über ein gutes Leben oder Sterben, die ihre Gründe haben mögen, deren allgemeine Geltung aber erst vernünftig auszuweisen wäre, als selbstverständlich gesetzt und dann mit emphatischen Begriffen (Wille Gottes, Naturrecht, Liebesgebot) als vermeintlich unbezweifelbar präsentiert werden. Und so wundert es nicht, wenn diese Art von Morallehre sich dem Vorwurf des Paternalismus einer „objektiven Vernunft“ ausgesetzt sieht, gegen den sich das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich wendet. Religiöse Deutungen des guten Sterbens können als solche keine allgemeine sittliche Verbindlichkeit begründen: Man darf aus ethischer Sicht nicht wollen, dass sich das staatliche Recht in einer Demokratie daran orientieren soll.

Zu anderen Schlüssen bezüglich der (assistierten) Selbsttötung kommen Konzepte von Menschenwürde, die diese mit der Fähigkeit freier menschlicher Selbstbestimmung verknüpfen: „Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, so fern sie derselben fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat“ (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA 4, 435). Diese Autonomie-Würde definiert den absoluten Wert der Person nicht über eine Zielgestalt des menschlichen Lebens, nicht von einer objektiven, gleichsam natürlichen Vollkommenheit her, sondern mit der Bestimmung des Menschen zu einem Leben, das sich an Freiheitsprinzipien orientiert.

Bekanntlich argumentiert Kant, auf dem unser Verständnis von Autonomie-Würde im Wesentlichen beruht, zugleich gegen den Suizid, weil sich der Mensch dabei als sittliches Wesen zerstöre, was niemals erlaubt sein könne. Von der Annahme einer Autonomie-Würde ausgehend lässt sich indes auch der gegenteilige Schluss begründen: Der Mensch realisiert in der Selbsttötung in einem letzten Akt sein Freiheitsvermögen, sich zu sich selbst in seinem körperlichen Dasein zu verhalten. Vorausgesetzt, man kann hier eine Freiheit des Handelnden überhaupt unterstellen. Wer möchte bestreiten und nicht aus tiefstem Herzen beklagen, dass Menschen die Lebensfreude zerrinnen, ihr Leben auf abgründige Weise zermürbt werden kann. Wenig Schmerzhafteres ist vorstellbar, als solches zu erleben. Dem Menschen hier aber grundsätzlich die Freiheit abzusprechen, dürfte anthropologisch und theologisch in schwieriges Gelände führen.

Wie wir von der Würde des Menschen denken, wirkt sich also darauf aus, welche Freiheitsspielräume wir dem Einzelnen konkret zubilligen und welche nicht; bis dahin, ob wir überhaupt bereit sind, unsere ihn betreffenden moralischen Überzeugungen, die ja immer mit Restriktionen einhergehen, ihm gegenüber so zu rechtfertigen, dass seine vernünftige, also seine freie Zustimmung möglich ist. Moralische Positionen aus dem vorrangigen Interesse heraus zu verteidigen, um eine Kontinuität von kirchlichen Wahrheitsbehauptungen aufrechtzuerhalten, ist zum Scheitern verurteilt, solange es in sittlichen Fragen um Einsicht und nicht um Gehorsam geht. Kennt das Streben nach dem Schutz des autonomen Lebens und dem Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben Grenzen, wenn es sich auf die Menschenwürde beruft? Die Befürchtung einer uneingeschränkten moralischen Freigabe der (assistierten) Selbsttötung steht jedenfalls im Raum.

Wenn der Person das Recht zugesprochen wird, andere von ihrer Pflicht zu entbinden, nichts zu tun, was zu ihrem Tod führt, und diese anderen daher kein Recht dieser Person verletzten, wie philosophisch argumentiert wird, dann scheint es für die Frage des assistierten Suizids keine einschränkenden Kriterien mehr zu geben. Doch dieser Eindruck täuscht. Denn ob man eine Beihilfe zur Selbsttötung leisten soll, hängt nicht allein am Wollen der Person, die diesen Wunsch äußert. „Es sind die guten Gründe, die darüber entscheiden, ob Suizidbeihilfe geleistet werden soll oder nicht“ (Peter Schaber, Selbstbestimmter Wille und das Recht auf den assistierten Suizid, in: Ethik in der Medizin 29 [2017] 97–107, 106). Deshalb wird in der Ethik auch von sittlicher Autonomie gesprochen, um die Selbstbestimmung der Person nicht an ihr unreflektiert individuelles Wollen, sondern an vernünftige Sollensforderungen zu binden. Es ist also zu fragen, ob es gute Gründe für den assistierten Suizid geben kann. Solche Gründe, so wird in der ethischen Diskussion vorgeschlagen, könnten generiert werden, wenn man als intersubjektiv geteiltes normatives Kriterium die Menschenwürde zu Rate zieht. Freilich nicht in dem Sinn eines dem Menschen inhärenten, absoluten und unverlierbaren Wertes, sondern in dem weiteren Sinn einer kontingenten Verfassung, in der sich ein Mensch befindet.

In der ersten Bedeutung geht es um die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, in der zweiten um die Realisierung dieser Fähigkeit. Deshalb sprechen wir etwa auch in der katholischen Kirche von menschenunwürdigen Lebensverhältnissen, ohne damit denen, die unter solchen Verhältnissen leiden, die Menschenwürde abzusprechen. Kann es nun Situationen geben, die in der zweiten Bedeutung von Menschenwürde als so unwürdig betrachtet werden, dass sie einen guten Grund für einen assistierten Suizid liefern? Es spricht viel für die Annahme, dass die Ängste vor dem Sterben sich heute vor allem auf Situationen beziehen, die man als „unerträglich entwürdigend“ (Hahn/Hoffmann, 554) empfindet. Es ist die „Angst davor, auf eine bestimmte Art leben zu müssen“ (551) – ohne sterben zu dürfen. Die individuellen, kulturellen und allgemein-menschlichen „Standards“ menschenwürdigen Lebens schlagen sich in unterschiedlichen Bewertungen des Sterbewunsches von Menschen nieder (vgl. Eva Weber-Guskar, Deciding with Dignity: The Attitude-Account of Human Dignity and its Implications for Assisted Suicide, in: Bioethics 34 [2020] 135–141). Verständigen können wird man sich am ehesten auf Minimalansprüche, beispielsweise ein Mindestmaß an Bewusstsein und Selbstachtung oder eine Vermeidung unerträglicher Schmerzen. Der Gesetzgeber darf bei zukünftigen Regelungen zum assistierten Suizid aus guten Gründen die Beachtung von Kriterien und Prozeduren verlangen.

Das Freiheitsverständnis des Verfassungsgerichts muss nicht unchristlich genannt werden

In ihrem Beharren auf der ausnahmslosen moralischen Verurteilung jeglicher Beihilfe zur Selbsttötung bleibt die katholische Tradition äußerst empfindsam für Gefährdungen des menschenwürdigen Zusammenlebens. Die Zurückweisung jeglichen Verfügungsrechts des Menschen über sein Sterben hat jedoch dazu beigetragen, dass selbst der ärztlich assistierte Suizid unter strengen Kriterien als moralisch unzulässig verurteilt wurde. Hier nicht den geringsten Spielraum für reflektierte Gewissensentscheidungen eingeräumt zu haben, darf als mitverantwortlich für die Überzeugung des Bundesverfassungsgerichtes gelten, das individuelle Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben gegen die „Sabotage von Autonomie“ (Christian Geyer in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 27. Februar 2020) verteidigen zu müssen.

Die katholische Kirche erfährt in dieser Frage nicht zum ersten Mal, dass rigorose Zurückweisungen von begründeten Autonomieansprüchen auf dem Boden schwacher Argumente keine Glaubwürdigkeit mehr entfalten. Die lehramtlich verteidigte Heiligkeit des Lebens (vgl. dazu Stephanie Höllinger, „Heiligkeit des Lebens“. Untersuchungen zu einer bioethischen Argumentationsfigur, in: ThPQ 167 [2019] 396-406) ist offenkundig vitalistisch überspitzt und verkennt das christliche Ethos, das hinter der modernen Wertschätzung von Freiheit und Verantwortung steht. Ich bin von daher skeptisch, ob das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im Kern seines Freiheitsverständnisses wirklich so unchristlich ist. Zum einen sollte einen die diachrone und synchrone Diversität christlicher Theologie zurückhaltend gegenüber dem Rückgriff auf das christliche Menschenbild machen (vgl. Stephan Ernst, Das christliche Menschenbild – Norm oder Fiktion?, in: BilderStreit. Theologie auf Augenhöhe, Hg. Erich Garhammer, Würzburg 2007, 141–168), zum anderen ist die Debatte um die Gebote christlicher Ethik keine abgeschlossene – jedenfalls dann nicht, wenn man den Menschen als geschichtliches Freiheitswesen ernst nimmt. Wofür es gute theologische Gründe gibt.

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