Es war eine Koinzidenz der Ereignisse: Nahezu zeitgleich zum Ausbruch der Corona-Pandemie erfolgte im flächenmäßig größten Staat der Erde eine Verfassungsrevision. Während sich weltweit mehr als 50 Staaten im Ausnahmezustand befanden, wurde die lex fundamentalis, das Grundgesetz Russlands geändert.
Der kritische Zeitpunkt und die Bedeutung Russlands legen es nahe, die Verfassungsänderung nicht nur unter rechtlichen, sondern auch unter historisch-politischen Gesichtspunkten zu betrachten. Neben Inhalt und Verfahren müssen Ziel und Zweck der Verfassungsänderung, das Vorverständnis der Moskauer Führung und mögliche Konsequenzen für die internationale Politik in eine Gesamtbewertung einbezogen werden. In welchem Umfang die Verfassungsrevision mit moralisch-kulturellen Wertedebatten und geopolitischen Großmachtkonzepten verbunden ist, lassen nicht zuletzt Werk und Wirkung von Vordenkern wie Alexander Solschenizyn oder Andrei Snesarew erkennen.
Nach Art. 80 Abs. 2 Satz 1 der russischen Verfassung von 1993 soll der Präsident ihr „Garant“ sein. Diese Bestimmung orientiert sich an Art. 5 Abs.1 Satz 1 der Präsidialverfassung der Fünften Französischen Republik. Auf ihrer Grundlage gelang es General Charles de Gaulle, die innere und äußere Krise der parlamentarisch verfassten Vierten Republik zu überwinden.
In seiner heutigen Stellung als Hüter der russischen Verfassung konzentriert sich Wladimir Putin nicht zuletzt auf die interessenorientierte und zweckgerichtete Anwendung von Verfahrensvorschriften. Das zeigte sich schon 2008, als er sich für vier Jahre auf die Position des Premierministers unter dem Interimspräsidenten Dmitri Medwedew zurückzog. So konnte Putin das verfassungsrechtliche Verbot einer dritten Präsidentschaft in ununterbrochener Folge umgehen, um 2012 formal korrekt erneut Präsident zu werden. Eine zwischenzeitlich durchgeführte Verfassungsänderung ermöglichte ihm dann zwei Amtszeiten von jeweils sechs Jahren.
In seiner zweiten sechsjährigen Amtszeit, sie dauert bis 2024, betrieb Präsident Putin die aktuelle Verfassungsänderung als uneingeschränkter Herr des Verfahrens. Es gelang ihm, zwischen Mitte Januar und Mitte März 2020 das entsprechende Gesetz zur „Vervollkommnung der Regelung bestimmter Fragen der Organisation öffentlicher Macht“ verabschieden zu lassen und zu unterschreiben. Damit eröffnet sich ihm die Möglichkeit, 2024 erneut für das Amt des Präsidenten zu kandidieren. 2030 kann er sich dann nochmals für eine Amtszeit bis 2036 wählen lassen.
Das Vorhaben war spätestens seit Mitte Dezember 2019 von der Präsidialverwaltung diskret vorbereitet worden. Präsident Putin überraschte dann am 15. Januar 2020 in seiner jährlichen Botschaft an die Nation die russische Öffentlichkeit mit dem Plan einer Verfassungsrevision.
Das Gesetz enthält eine Fülle von Einzelvorschriften, die Otto Luchterhandt, ein hervorragender Kenner der russischen Verfassung, als „Sammelsurium“ bezeichnet. So werden einzelne Kompetenzen des Präsidenten gestärkt, die Stellung des Premierministers etwas geschwächt, die Mitwirkungsrechte der Duma und des Föderationsrats etwas erweitert. Außerdem werden populäre sozialpolitische Maßnahmen wie die Einführung eines existenzsichernden Mindestlohns oder die Koppelung der Rentenerhöhung an die Inflationsrate in die Verfassung aufgenommen.
Die für den 22. April geplante Volksabstimmung über die Verfassungsänderung wurde indes wegen der Corona-Pandemie von Präsident Putin auf unbestimmte Zeit verschoben.
Der Glaube an Gott und eine tausendjährige Geschichte
Besondere Aufmerksamkeit fand der neu gefasste Art. 67 im 3. Kapitel der Verfassung, das den föderativen Aufbau des Landes regelt. Der Art. 67 Abs. 2 lautet: „Die Russische Föderation, die geeint ist durch eine tausendjährige Geschichte und die die Erinnerung an die Vorfahren bewahrt, die uns die Ideale und den Glauben an Gott übermittelt haben sowie die Kontinuität in der Entwicklung des russischen Staates, bekennt sich zu dessen historisch begründeter Einheit“. Dieser wenn auch unspezifische Gottesbezug steht zumindest in einem diskussionswürdigen Spannungsverhältnis zu Art. 14 der Verfassung. Dort wird Russland in laizistischer Tradition ausdrücklich als weltlicher Staat beschrieben und die Trennung religiöser Vereinigungen vom Staat verlangt.
Der Gottesbezug in Art. 67 Abs. 2 steht nicht allein, sondern wird mit dem ausdrücklichen Bekenntnis zur historisch begründeten Einheit des russischen Staates und seiner tausendjährigen Geschichte verbunden.
Das konkrete Ereignis, das den Beginn der tausendjährigen Geschichte Russlands markiert, ist offensichtlich die Taufe des Großfürsten Wladimir von Kiew im Jahre 988 auf der Krim. Wladimir, der Namenspatron Präsident Putins, wird sowohl von der Russisch-Orthodoxen Kirche als auch von der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche als ein den Aposteln gleichzustellender Heiliger verehrt. Das Bekenntnis der russischen Verfassung zur historisch-politischen Kontinuität des Staates von der Kiewer Rus über das Großfürstentum Moskau, das Zarenreich und die Sowjetunion bis hin zur Russischen Föderation hält nicht nur den Anspruch imperialer Tradition aufrecht. Es verbindet ihn, wenn auch indirekt, mit einem sakralen Gründungsmythos, der angesichts des aktuellen russisch-ukrainischen Konflikts politische Sprengkraft besitzt.
Das Machtzentrum und sein Denken
Es besteht kein Zweifel: Präsident Putin nutzt die russische Verfassung als Instrument des Machterhalts. Doch Machterhalt zu welchem Zweck? Offensichtlich sieht er seine vordringliche Aufgabe nicht im Schutz der Rechte und Freiheiten der Menschen und Bürger. Er interpretiert seine Stellung als Garant der Verfassung anders, nämlich als historisch-geopolitischen Auftrag.
Aus diesem Vorverständnis macht Wladimir Putin kein Hehl. Im April 2005 bezeichnete er in seiner Botschaft zur Lage der Nation den Zerfall der Sowjetunion als „die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“. Zwei Jahre später, am 14. Februar 2007, beschrieb er vor der Münchner Sicherheitskonferenz Russland als einen Staat mit mehr als tausendjähriger Geschichte, der fast immer über das Privileg einer unabhängigen Außenpolitik verfügt habe. Während seiner Präsidentschaft werde sich an dieser Tradition nichts ändern.
Im Jahr seiner Münchner Rede besuchte Präsident Putin den Literaturnobelpreisträger Alexander Solschenizyn in dessen Moskauer Wohnung. Er zeichnete den ehemaligen Dissidenten mit dem russischen Staatspreis aus. Als Solschenizyn ein Jahr später starb, erwies ihm der Präsident öffentlich die letzte Ehre. Schließlich enthüllte Putin anlässlich des 100. Geburtstags Solschenizyns dessen Denkmal auf dem Moskauer Taganka-Platz.
Alexander Solschenizyn hatte während der Sowjetunion den Erinnerungen jener kultur- und geschichtsbewussten russisch-orthodoxen Intelligenzija Ausdruck verliehen, die trotz oder gerade wegen der schmerzhaften Zäsuren des 20. Jahrhunderts an Traditionen und Ideen des 19. Jahrhunderts festhielt. Eine Politik, die den Vorstellungen Solschenizyns folgt, kann in Russland mit größerer Zustimmung rechnen als die Denkschule des anderen großen Dissidenten Andrei Sacharow.
Für Sacharow waren Freiheit, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit Grundlagen einer jeden Verfassung. Aber die von ihm mit Autorität vertretenen, in die Kapitel 1 und 2 der Verfassung des Jahres 1993 aufgenommenen Prinzipien inspirieren in der russischen Wirklichkeit nur Teile der urbanen Bevölkerung vor allem in Moskau und Sankt Petersburg. Darüber hinaus jedoch wirken die Trikolore Peters des Großen, das Staatswappen mit dem Doppeladler oder die spätromantische Nationalhymne mit ihrer Erinnerung an den Großen Vaterländischen Krieg im Sinne Solschenizyns identitätsstiftend. Die nun auch verfassungsrechtlich verklärte tausendjährige Geschichte Russlands verdrängt die Niederlage im Ersten Weltkrieg, das Revolutionsjahr 1917, den blutigen Bürgerkrieg, die Konzentrationslager Stalins und den Zerfall des Sowjetimperiums.
In einer schwierigen Gegenwart wird die Hoffnung auf die Zukunft durch Symbole und Leitbilder einer imperialen Vergangenheit gestärkt. Die Verfassung Russlands wird in einem Land ohne ausgeprägte konstitutionelle Tradition nicht als fester normativer Rahmen wahrgenommen, sondern als Möglichkeit, auf der Grundlage von Geschichte und Tradition an eine vermeintlich bessere Vergangenheit anzuknüpfen. Im Werk Alexander Solschenizyns gewann dieser idealisierende Rückblick literarische Form, bevor er von Präsident Putin 2007 öffentlich zum geopolitischen Auftrag erklärt wurde. Nun gewann er mit dem Bekenntnis zur tausendjährigen Geschichte und den Vorfahren, die den Glauben an Gott und die Kontinuität des russischen Staates vermittelten, Verfassungsrang.
Die Frage nach dem Zweck des Machterhalts lenkt den Blick auf jenen konstitutionellen Bereich, der früher unter dem altertümlich wirkenden Begriff der Wehrverfassung betrachtet wurde. Damit waren verfassungsrechtlich geregelte Einrichtungen und Verfahren der Außen- und Sicherheitspolitik gemeint, wie sie etwa seit General de Gaulle zur präsidentiellen domaine réservé der Fünften Französischen Republik gehören und heute in Kapitel 4 der russischen Verfassung zu finden sind.
Sie legt die Außen- und Sicherheitspolitik in die Hände ihres Garanten, des Präsidenten. Zu seinen Aufgaben gehören der Schutz der Souveränität, der Unabhängigkeit und der staatlichen Integrität Russlands. Er leitet die Außenpolitik und gewährleistet das aufeinander abgestimmte Zusammenwirken der Organe der Staatsgewalt. Auch in Friedenszeiten ist er Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte, ernennt und entlässt ihr Oberkommando und bestätigt die Militärdoktrin, das strategische Leitdokument des Landes. Der Präsident bildet und leitet den Sicherheitsrat, das außen- und sicherheitspolitische Machtzentrum des russischen Staates.
Zu dessen maßgeblichen Mitgliedern gehört der Generalstabschef der russischen Streitkräfte. Dem Amt kommt im Vergleich zur Sowjetunion heute in Krisen- und Konfliktsituationen eine größere Bedeutung zu. Seit November 2012 ist Waleri Gerassimow Generalstabschef und 1. Stellvertretender Verteidigungsminister Russlands.
Von programmatischer Bedeutung war Gerassimows erste Grundsatzrede vor der Vollversammlung der Akademie der Militärwissenschaften im Januar 2013, die er kurz nach seiner Amtseinführung durch Präsident Putin hielt. Er umriss darin die Bedrohungslage, der sich Russland aus Sicht seiner politischen Führung gegenübersieht. Sie entspricht der unter Präsident George W. Bush in den USA entwickelten Doktrin des hybrid war. Danach werden im internationalen Wettbewerb des 21. Jahrhunderts konventionelle und unkonventionelle Mittel gemischt. Wirtschaftskriege, Sanktionen, Boykottaufrufe, Desinformation und Propaganda, cyber war und verdeckte militärische Gewalt werden lage- und interessengerecht genutzt, wirkungsvoll verbunden und verwischen die Grenze zwischen völkerrechtlichem Perfidieverbot und erlaubter List.
Vor diesem Hintergrund war das operative Vorgehen der russischen Streitkräfte während der Okkupation der Krim ein Jahr nach Gerassimows Grundsatzrede ein aufschlussreiches Beispiel hybrider Kriegsführung. Obwohl die eingesetzten Verbände auf den ersten Blick als russische Sonderkräfte, als Speznas, zu erkennen waren, trugen sie keine Hoheitsabzeichen. Dies gab der russischen Führung zumindest die Möglichkeit, ein direktes militärisches Eingreifen abzustreiten.
Eine Philosophie des Krieges
So verbinden sich unter Präsident Putin strategisches und operatives Denken des 21. mit orthodox-imperialen Ideen des 19. Jahrhunderts. Die konzeptionellen Grundlagen dafür werden in Einrichtungen wie dem „Wissenschaftlich-methodischen Zentrum für vaterländische Militärstrategie A. E.Snesarew“ erarbeitet. Benannt ist dieser think tank des Generalstabs nach Andrei Snesarew (1865–1937), einem General des Zaren und der Roten Armee, dessen Schriften seit dem Beginn der Präsidentschaft Putins systematisch veröffentlicht werden.
Snesarew verband militärisches Können mit geopolitischer Analyse und konstitutionellen Überlegungen. 1865 im Gebiet der Donkosaken geboren, studierte der hochbegabte Sohn eines orthodoxen Landgeistlichen Mathematik an der Universität Moskau. Er beherrschte 14 Sprachen und war ein ausgezeichneter Sänger, der sogar Vertretungen am Moskauer Bolschoi-Theater übernahm. Als Mathematiker oder Orientalist hätte er eine erfolgreiche akademische Laufbahn einschlagen können. Aber er entschied sich für die militärische Karriere. Eine Dienstreise nach Britisch-Indien und ein Aufenthalt in London prägten seine Weltsicht. Als scharfer Kritiker der britischen Kolonial- und Weltpolitik kehrte er in den russischen Generalstab zurück.
Während des Ersten Weltkriegs war Snesarew an der russischen Westfront eingesetzt, zuletzt kommandierte er ein Armeekorps. Nach einigem Zögern und reiflicher Überlegung stellte er sich Anfang 1918 in den Dienst der bolschewistischen Regierung. Er war zur Überzeugung gelangt, dass sie von der Mehrheit des russischen Volkes unterstützt wurde und die Interessen Russlands gegen Interventionen von außen verteidigte.
Im Jahre 2003 erschien in Moskau Snesarews bis dahin unbekanntes Werk „Philosophie des Krieges“. Er hatte es als Vorlesungsmanuskript für die Hörer der Generalstabsakademie konzipiert. Die Kommentierung des Jahres 2003 betonte ausdrücklich, der Autor habe damit den staatlichen Interessen Russlands und nicht der bolschewistischen Partei gedient: „Das bedeutet, dass für ihn beim Studium des Krieges die Geopolitik die wichtigste Methode darstellt, da der Staat das Produkt und das wichtigste Subjekt geopolitischer Prozesse ist“.
Snesarews „Philosophie des Krieges“ entstand während des russischen Bürgerkriegs und zog aus der Zäsur des Jahres 1917 Folgerungen für die Zukunft. Sie orientierten sich nicht an den universalen Gedanken einer Ideologie, sondern an den konkreten Aufgaben des Staates, der im Innern für Frieden, nach außen aber für Schutz und wenn möglich für Machtentfaltung zu sorgen hat. Dieses Denken ist der heutigen russischen Führung nicht fremd. Es spiegelt sich im Misstrauen gegenüber gesellschaftlicher Selbstorganisation und politischer Mitwirkung der russischen Zivilgesellschaft.
Der heute allgegenwärtige Begriff der Zivilgesellschaft, so die deutsche Übersetzung von civil society, verdankt seine Popularität nicht zuletzt der Forderung nach einem Rückzug des Staates aus der Gesellschaft. Dessen Unterordnung unter die civil society wird sogar als Voraussetzung für Rechtsstaatlichkeit und politische Partizipation angesehen, denn ein meinungsbildender Diskurs setze, so etwa Jürgen Habermas, herrschaftsfreien Raum voraus. Schon Immanuel Kant hatte die Unterwerfung des Staates unter den Gerichtshof der Vernunft gefordert.
Auch um diesen Machtkampf geht es Snesarew in der „Philosophie des Krieges“. Für ihn war der Begriff civil society, der die liberale russische Intelligenzija beflügelte, ein Produkt der britischen Aufklärung des 18. Jahrhunderts. Ihre frühen Vordenker schätzte er, denn im ersten Jahrhundert nach der Verabschiedung der „Bill of Rights“ im Jahre 1689 konnten sich nach seiner Auffassung die Ideen vernünftiger, aufgeklärter Staatsbürger entfalten. Das gilt sowohl für Adam Smith, „den großen Schotten“, als auch für Adam Fergusson, der in seinem „Essay on the History of Civil Society“ erstmals den Unterschied zwischen kommerziell und kriegerisch ausgerichteten Gesellschaften, das Spannungsverhältnis zwischen Mars und Merkur, betonte.
Dagegen sieht Snesarew die vom britischen Liberalismus des 19. Jahrhunderts propagierte civil society nur noch als populäre Ideologie und als politisches Instrument einer weltweit angestrebten angelsächsisch-protestantischen Kulturhegemonie. Als Beispiel nennt er Henry Thomas Buckles fünfbändige „History of Civilization in England“, die in liberalen Kreisen Russlands ein großes Echo fand. Der erste Band erschien 1857 kurz nach dem Ende des Krimkrieges und wurde als moralisch begründete Rechtfertigung des Krieges gegen die Autokratie des Zaren verstanden.
Vorwurf: Liberale Heuchelei
Für Snesarew war diese Kritik nichts anderes als moralische Heuchelei und Propaganda. Das Zarenreich hatte seine Schutzrechte für die orthodoxen Christen des Osmanischen Reiches geltend gemacht, während sich das liberale britische Empire mit dem Sultan in Konstantinopel und Napoleon III. verbündete, dem französischen Usurpator, der durch einen Staatsstreich an die Macht gelangt war. London und seiner civil society ging es nicht um bürgerliche Freiheiten, sondern darum, den Zugang der russischen Flotte von der Krim durch die Meerengen zum östlichen Mittelmeer zu sperren.
Die liberale civil society war für Snesarew kein gesellschaftliches Vorbild, sondern ein wesentliches gesellschaftliches Element des britischen Kolonial- und Finanzimperiums, das eine gut ausgebildete, von materiellen Interessen getriebene Elite regierte.
Die Alternative zum Verfassungs- und Gesellschaftsverständnis der angelsächsischen civil society sah Snesarew in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, die er im sechsten Kapitel seiner „Philosophie des Krieges“ rezipierte. Hier stellte er im Anschluss an die Drei-Elemente-Lehre von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt des Staatsrechtlers Georg Jellinek den universalistischen Leitideen einer Ideologie die territoriale Gebundenheit einer jeden Verfassung und die Notwendigkeit einer wirksamen Staatsgewalt gegenüber. Nur sie sei in der Lage, den Staat und die Gesellschaft durch Gesetze zu verbinden und als neutrale Macht zu befrieden. Nur sie könne nach der Formulierung Jellineks „die normative Kraft des Faktischen“ entfalten.
Vermutlich trug Snesarew das Manuskript der „Philosophie des Krieges“ nicht einmal seinen Hörern in der Akademie des Generalstabs vor. Im revolutionären Russland war die „Philosophie des Krieges“ unzeitgemäß. Erst unter Präsident Putin wurde sie zehn Jahre nach Verabschiedung der russischen Verfassung von 1993 veröffentlicht. Diese bestimmt als Reaktion auf die geistige Hegemonie des Marxismus-Leninismus in ihrem Art. 13: „In Russland ist die ideologische Vielfalt anerkannt“ und fährt fort: „Keine Ideologie darf als staatliche oder verbindliche anerkannt werden“. Wäre Snesarew noch am Leben, würde er den Liberalismus der civil society unter den Begriff der Ideologie subsumieren.
Der Krieg ist ein Chamäleon
Mit der jüngsten Verfassungsänderung wurde in Russland eine Entwicklung fortgesetzt und festgeschrieben, die sich bereits seit längerer Zeit beobachten ließ. Obwohl die Verfassung des Jahres 1993 die Bürger- und Menschenrechte als Verfassungskern postulierte, entfaltete sich die Verfassungswirklichkeit eines autoritären Staates. Seine Führung interpretiert die Garantie der Verfassung als historisch-geopolitischen Auftrag, den sie, falls erforderlich, mit Mitteln der Staatsgewalt auch gegenüber Parlament, Justiz, den Exekutivorganen aller föderalen Ebenen und der russischen Zivilgesellschaft durchzusetzen gedenkt.
Die Kritik der Zivilgesellschaft am autoritären Staat sieht sich dem Verdacht zersetzender ideologischer Propaganda ausgesetzt. Das gilt auch für die Diskussion um den neu in die Verfassung aufgenommenen Gottesbezug. Hier allerdings übersieht die in der europäischen civil society vorherrschende, laizistische Binnenperspektive, dass weltweit die Zahl der Menschen, die Heilserwartung und spirituelle Bindung suchen, ebenso zunimmt wie religiöser Fanatismus.
Die Moskauer Führung nimmt diese postsäkulare Entwicklung ernst und berücksichtigt sie aus strategischer Perspektive. Trotz des verfassungsrechtlichen Privilegierungsverbots und der geforderten Trennung von Religion und Staat ist es aus ihrer Sicht klug, der orthodoxen Kirche als traditioneller Stütze des russischen Staates im gesellschaftlichen und politischen Leben eine prominente Rolle zuzugestehen, obwohl das kollektive, wertkonservative Bewusstsein der Bevölkerung seine Grundlagen weniger in hierarchischen Institutionen als im noch lebendigen Volksglauben findet.
Künftig gilt Russland jedenfalls als gottgläubig. Der unspezifische Gottesbezug der Verfassung kann als soft power in der islamischen Welt, in den weltweit erstarkenden evangelikalen Bewegungen oder auch gegenüber den traditionellen christlichen Konfessionen öffentlichkeitswirksam eingesetzt werden. Die positiven Reaktionen von Vertretern der katholischen Kirche, des islamischen Klerus, jüdischer Verbände und anderer Glaubensgemeinschaften sprechen für sich selbst.
Nicht die säkulare, an universalen Werten orientierte westliche Verfassungsvorstellung des späten 20. Jahrhunderts bestimmt heute die russische Politik. Sie wird geleitet vom Leitbild einer territorial definierten, politisch durchorganisierten, postsäkularen Großmacht des 21. Jahrhunderts. Aus einer gestärkten Defensivposition heraus will Moskaus Führung im Wettbewerb mit anderen Mächten Russlands internationalen Einfluss bewahren und erweitern.
Schon Clausewitz wusste, dass der Krieg ein Chamäleon ist. Das Moskauer Machtzentrum stellt sich auf Konflikte ein, die dieser Metapher entsprechen. Sie nutzt im Großmachtwettbewerb hybride Mittel und konsolidiert dazu die zentrale Stellung des Präsidenten. Zu Recht hat Wolfgang Ischinger, der Vorsitzende der Münchner Sicherheitskonferenz, im Februar 2020 vor dem Hintergrund der russischen Verfassungsdiskussion mahnend auf die Effizienz der russischen Außen- und Sicherheitspolitik hingewiesen. Er beschrieb sie als Ergebnis einer Staatsgewalt, die ihre begrenzten diplomatischen, ökonomischen und militärischen Mittel gut informiert und klug koordiniert einzusetzen versteht.
Voraussetzung dafür ist eine Konzentration der Macht, wie sie Kapitel 4 der russischen Verfassung vorsieht. Der Verteidigungshaushalt Russlands wird zwar von den zusammengefassten Aufwendungen der Staaten der Europäischen Union um ein Mehrfaches übertroffen. Doch geht es nicht allein um Zahlen auf dem Papier, sondern um die wirkungsorientierte Nutzung der vorhandenen Mittel. Zwar kündigte die neue EU-Kommissionspräsidentin an, sie werde eine „geostrategische Kommission“ leiten, aber es erscheint zweifelhaft, ob es die Europäische Union in ihrer jetzigen Verfassung vermag, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik zu entwickeln, die in ihrer Wirksamkeit auch nur annähernd der russischen unter Präsident Putin entspricht.
Dennoch bleibt es eine offene Frage, ob die jüngste Änderung der Verfassung die Position Russlands im Wettbewerb mit China, den USA und der Europäischen Union dauerhaft sichern oder gar verbessern kann. Längerfristig stellen der Rückgang der russischen Bevölkerung, die Abhängigkeit von Rohstoffexporten und die außerhalb des Rüstungssektors stagnierende wissenschaftliche Innovationskraft die russische Führung vor außerordentliche Herausforderungen. Doch die Staaten der Europäischen Union und Nordamerikas sehen sich, das führt die Corona-Pandemie eindringlich vor Augen, Problemen vergleichbarer Dimension gegenüber. In dieser Lage führt der Wettbewerb der Mächte im nächsten Jahrzehnt zur verschärften Konkurrenz ihrer Verfassungsordnungen und Gesellschaften.