Das Buch ist eine Frucht aus nahezu sechs Jahrzehnten der Befassung mit Thomas von Aquin und aus vielen Jahren, in denen der Autor sich mit Themen der Fundamentalmoral in Lehre und Forschung beschäftigt hat. Die heftigen Auseinandersetzungen, in die jene gerieten, die sich nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil anschickten, an einer erneuerten Fundamentalmoral zu arbeiten, werden wieder lebendig. So hart wie damals wird heute nicht mehr diskutiert. Die dahinter stehende Schlüsselfrage bleibt dennoch zeitlos bedeutsam: Welcher „Beitrag des Christlichen zum allgemeinen, umfassenden menschlichen Wohl“ (53) erwartet werden kann? Mit großer Klarheit wird beschrieben, dass die Autonomie nicht Störfaktor für eine theologische Ethik ist, vielmehr den Auftrag bedeutet, das Potenzial der Zivilisierung und Humanisierung zu entfalten, das in der Freiheit des Menschen steckt. „Moral und Ethik sind somit in ihrem Kern, ihrem Genotyp nach, als Werk der Freiheit, als Freiheitsordnung und genau das heißt, als Autonomie zu verstehen“ (59). Erst dann kann es der theologischen Ethik gelingen, ihrerseits ihr Potenzial im Haus der Wissenschaften einzusetzen und Impulsgeber bei den anspruchsvollen ethischen Fragen in allen Fakultäten zu sein.
Wie kann angesichts einer zunehmenden Pluralisierung und Individualisierung als den Ergebnissen von Freiheitserfahrungen ein gemeinsames Ethos entstehen? Wie können ethische Entscheidungen, die alle betreffen, auch von allen nachvollzogen werden? Das sind Fragen, die uns aus den letzten Wochen im Umgang mit der Pandemie bestens bekannt sind. Sie gehören im öffentlichen Leben zu den anspruchsvollsten Aufgaben der Kunst des Politischen. Der Autor zeigt die Fragilität von erreichten Übereinkünften angesichts neuer Erkenntnisse und Erfahrungen und erläutert das Moralmodell des Thomas als einen „großen Gesamtentwurf, insbesondere in einer fundamentalmoralischen Systematik von großer struktureller Offenheit“ (321). Eine christliche wie eine säkulare Ethik brauchen eine gleiche Fundamentalethik, die von praktischer Vernunft und Erfahrung geprägt ist. Wer immer in öffentlichen Entscheidungsprozessen steckt, findet hier eine fundierte und auch tröstliche Grundlage, weil nichts einfacher gemacht wird, als es ist.
Annette Schavan