Zum Tod von Hans KüngDie Anfrage steht noch immer im Raum

Vor 150 Jahren wurde die päpstliche Unfehlbarkeit dogmatisiert. Wie problematisch sie ist, hat niemand so nachdrücklich gezeigt wie Hans Küng. Sein spektakulärer Fall erinnert daran, dass die Kirche heute mehr denn je eine Revision der alten Doktrin braucht, wenn sie zukunftsfähig sein will.

Hans Küng
© Harald Oppitz/KNA

Seit seiner offiziellen Definition vor 150 Jahren, am 18. Juli 1870, kam das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit nie zur Ruhe. Damals hatten gut 60 Konzilsteilnehmer das Konzil vorzeitig verlassen; in Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden konstituierte sich die Altkatholische Kirche, und erst neun Monate später erklärte nach massivem römischen Druck Karl Joseph Hefele, der exzellente Kirchenhistoriker und Bischof von Rottenburg, seine Zustimmung zu dem denkwürdigen Beschluss des Ersten Vatikanischen Konzils.

In früheren Büchern mahnte Hans Küng mit gebotener Höflichkeit die Begründungsprobleme dieses „Metadogmas“ an, wurde aber nicht gehört. Erst als Paul VI. im Juli 1968 in seiner Enzyklika „Humanae Vitae“ jede künstliche Geburtenregelung untersagte, sich dabei auf die beständige Lehre des kirchlichen Lehramts (Nr. 6) und auf den 1965 erweiterten Unfehlbarkeitsanspruch berief (Nr. 28; vgl. die Kirchenkonstitution „Lumen gentium“, Nr. 25), ließ Küng, wie er es später nannte, „den Wecker rasseln“. Pünktlich zum 100. Jubiläum, im Juli 1970, erschien seine Streitschrift „Unfehlbar? Eine Anfrage“, der sofort ein ungewöhnlich breites, aber zwiespältiges Echo folgte (Küngs theologische Veröffentlichungen zur Frage der Unfehlbarkeit sind zusammengefasst in: Sämtliche Werke, Band 5: Unfehlbarkeit, Freiburg 2016).

Katholische Exegeten, Historiker, Systematiker, natürlich auch evangelische Theologen sprangen ihm zur Seite, traten aber in keinen Dauerstreit ein. Wenig zimperlich nahmen konservative Stimmen Küngs persönliche Streit- und Geltungssucht ins Visier. Erstaunlich war, wie früh sich Karl Lehmann zu seinem Kollegen Distanz verschaffte („Hans Küng auf Kollisionskurs?“) und zum Wortführer der Kritiker emporschwang.

Bis heute bestimmend für das Handeln des Papsttums

Was war ihr Problem? Sie fühlten sich auf ein Debattenniveau zurückgeworfen, über das sie sich erhaben fühlten, und beklagten Küngs neuscholastisch rationalistisches Argumentationsniveau. Küng jedoch ging auf ihr transzendental, linguistisch oder hermeneutisch erhöhtes Reflexionsniveau nicht ein, weil es für die römische Praxis irrelevant war. Denn geflissentlich übersahen sie Küngs zugespitzte Problemdiagnose.

Die umfassenderen Zusammenhänge hatte er in seinem Buch „Die Kirche“ (1967) schon breit analysiert. Er leugnete weder den Sinn von verbindlichen Glaubensaussagen, noch wollte er eine tiefsinnige Unfehlbarkeitstheorie ausarbeiten, sondern dekonstruierte schlicht die Argumentation und die kirchenpolitische Strategie des Konzilstextes von 1870, die bis heute das lehramtliche Handeln von Papsttum und Hierarchie bestimmen.

Wenn nämlich der Papst unter Einhaltung bestimmter Formalien ex cathedra spricht, so die Festlegung von 1870, dann „besitzt“ (!) er in Fragen des Glaubens und der Sitte die Gabe der Unfehlbarkeit. „Daher sind solche Definitionen des Römischen Bischofs aus sich, nicht aber aufgrund der Zustimmung der Kirche irreformabel.“ Nach gängiger Praxis unterliegt auch die Interpretation dogmatischer Definitionen dem päpstlichen (seit 1965 auch dem gesamtbischöflichen) Letzturteil. Damit ist die Vision von der geistgewirkten Unfehlbarkeit („Gott kann weder täuschen noch getäuscht werden“) zur Technik autoritärer Disziplinierung verkommen.

Unbestritten funktioniert dieser absolutistische Anspruch nach dem Muster eines obersten Berufungsgerichtshofs, der keine Berufung mehr zulassen kann. Da der Apostolische Stuhl zudem keine Trennung zwischen legislativer, exekutiver und judikativer Gewalt kennt, legitimiert der päpstliche Unfehlbarkeitsspruch zugleich eine monokratische und zentralistische Lehrpraxis, die Papst Johannes Paul II. und sein Nachfolger denn auch auf die Spitze trieben. Systemimmanent gesehen haben sie nicht unkirchlich gehandelt, sondern nur die Möglichkeiten ihrer Kompetenzen voll ausgeschöpft. Offensichtlich waren Küngs Kritiker blind für die gravierende Diskrepanz zwischen der offiziell gültigen Konzilsdefinition und ihren gut gemeinten Abmilderungen. Zu sehr hatten sie die katholische Identität mit diesem Papstprivileg verkoppelt.

Dies erklärt, warum sich Karl Rahner schon bald als kampfbereiter Bannerträger einer Gegenfront profilierte. Durch Küngs Anfrage, so seine Folgerung in toxischer Schärfe, fühle er sich in seinem katholischen Glauben „tödlich bedroht“, und mit ihm könne man nur noch reden und kooperieren wie mit einem „liberalen Protestanten“. Faktisch wirkt diese unnachgiebige Frontbildung auch unter Kirchenreformern bis heute nach und raubt ihnen einen erheblichen Teil ihrer Durchschlagskraft. Umso mehr bekam Rom freie Hand, im Laufe der Jahre seine eigenen Konsequenzen durchzusetzen.

Der damit angezettelte Streit mit seinen Vorträgen, Symposien, Seminaren und Sammelbänden lässt sich doppelt interpretieren. Auf den ersten Blick werden Küngs pragmatische, also auf die Sprachhandlung gerichtete Aspekte konsequent übersehen. Abgeblendet bleiben deshalb die katastrophalen pastoralen Folgen der römischen Lehrpraxis, die bis heute zu Tage liegen. Beispielhaft dafür ist Walter Kasper, der die romantischen Ideen der Katholischen Tübinger Schule (1819 ff.) übernimmt und höchst abstrakt und undifferenziert vom „Formalprinzip des Katholischen“ spricht, ohne sich von ideologiekritischen Überlegungen verunsichern zu lassen.

Dazu gehört auch die Ermahnung anderer, nicht Sätze, sondern nur Instanzen könnten unfehlbar sein, oder 1870 seien der Unfehlbarkeitskompetenz doch engste Grenzen gezogen worden. Diese hochspezifischen Diskussionen blieben auf die Fachwelt begrenzt, schufen aber einen eigenen Resonanzraum von Selbstbestätigern, die Jahre später ihre Kämpfe gegen Küngs Bücher „Christ sein“ (1974) und „Existiert Gott?“ (1978) fortsetzten. Unbestreitbar ist, dass diese Debatten nach außen viel Nachdenklichkeit und Zweifel an der offiziellen Doktrin auslösten.

Auf den zweiten Blick spiegelt die damalige, bis heute noch nicht entzerrte Debatte den tiefen Sachdissens wider, den das Zweite Vatikanum mit seinen vielen unausgegorenen Kompromissen hinterlassen hat. Max Seckler spricht einmal euphemistisch (oder ironisch?) von einem „kontradiktorischen Pluralismus“. Küngs Kritiker unterwerfen das epochale Kapitel über „Das Volk Gottes“ (LG, Kap. 2) dem ungezähmt hierarchischen Geist des Folgekapitels „Die hierarische Verfassung der Kirche“ und unterstellen sich der von Paul VI. aufgezwungenen „erläuternden Vorbemerkung“ mit Aussagen wie: „Der Papst als höchster Hirte der Kirche kann seine Vollmacht jederzeit nach Gutdünken ausüben, wie es von seinem Amt her gefordert wird.“

Angesichts dieses Widerspruchs blieb vielen Systematikern nur noch die Flucht in die zutiefst schrift- und geschichtsferne Transzendentaltheologie, die solche Widersprüche nicht bei den Hörnern packte, sondern sich darüber erhob. Damit wurden sie immun und wehrlos zugleich gegenüber der ausufernden Inquisitions-, Kontroll- und Sanktionspolitik gegen alle Opfer, in deren Ehrengalerie Küng dann 1979 unter heftiger Mitarbeit von deutschsprachiger Seite aufgenommen wurde. In dieser doppelten Frontstellung stieß Küng bei der Fachwelt ins Leere, doch in einer engagierten Öffentlichkeit auf ein hohes Maß an Zustimmung. Zum Missmut der Kirchenleitungen brachte ihm seine standhafte, immer weiter ausgebaute Lehramtskritik den Ruf höchster Glaubwürdigkeit ein. Dies machte die Kirchenleitungen nervöser denn je.

Erschöpfung und Erweiterung der Thematik

Doch verwundert es nicht, dass einem ersten Schub schäumender Wellenberge bald ein Tal der Ermüdung folgte. Engagierte Gläubige hatten die Autonomie ihres Gewissens entdeckt. Die Hierarchie und ihre Gefolgsleute tabuisierten allmählich die Fragen nach verbindlicher Wahrheit und römischem Machtanspruch, deshalb auch Küngs Namen. In dieser opaken Situation hoffte Rom auf neue Triumphe. Auch die einschlägige Erklärung der Glaubenskongregation „Mysterium Ecclesiae“ (24. Juni 1973) nannte Küngs Namen gerade nicht. Einerseits herrschte zwischen Rom und Küng eine Art Stillhalteabkommen, andererseits hatten die Unfehlbarkeitszweifel, wie man in Rom wusste, schon zu viele infiziert.

Auch Küng konnte die formale Debatte hinter sich lassen, nachdem er mit seinen Vorgaben die massiven Defizite der Kritiker analysiert hatte (Fehlbar? Eine Bilanz, 1973). Doch für sich und sein theologisches Gewissen hatte er neue Freiheiten gewonnen. In ökumenischer Zusammenarbeit trieb er – wiederum zum Missfallen der Hierarchen – die Reform und Anerkennung kirchlicher Ämter (1973) voran. In intensiven und zeitraubenden Studien entwickelte er ein christologisches Konzept (Christ sein, 1974). Dabei leugnete er kein Dogma, bezog aber die klassischen Lehraussagen auf die wissenschaftlich reflektierten Schriftzeugnisse und vertraute sich der narrativen Dynamik der neutestamentlichen Jesuserzählungen an, was erneut zu massiven hierarchischen Missverständnissen führte.

In seiner Auseinandersetzung mit der neuzeitlichen Gottesfrage (Existiert Gott?, 1978) entwickelte er eine geschichtlich verstehende und zugleich rational erklärende Doppelstrategie, die den ideologiekritischen und kontextuellen Problemhorizont der Gegenwart aufnahm.

Vergeblich hatte Küng gehofft, die Diskussionswelle um die Unfehlbarkeit sei jetzt abgeebbt; denn jetzt waren inhaltliche Glaubensfragen ins Zentrum gerückt und Konturen eines neuen theologischen Paradigmas schälten sich heraus. Doch damit begann für Küng die zweite große Enttäuschung. Statt sich mit Küngs neuen Grundentscheidungen auseinanderzusetzen, entfaltete sich (zugespitzt ausgedrückt) ein Spiel von theologischen Buchhaltern, die bestimmte verbindliche Glaubensformeln suchten. Kardinal Joseph Höffner sah zum Beispiel „das ganze Buch“ durch (gemeint war Küngs „Christ sein“) und fragte sich: „Wo ist denn hier das ‚genitum non factum‘?“ (22. Januar 1977, Kolloquium in Stuttgart).

Auch jetzt wurden keine neuen (schriftgemäßen) Diskussionsräume zugelassen, und wiederum begann eine quälende Abfolge von belehrenden Briefwechseln, halbamtlichen Kolloquien und der Suche nach Glaubensformeln. Im Dezember 1979 schließlich schaltete sich Johannes Paul II. ein, nachdem er zuvor die niederländische Kirche zur Ordnung gerufen hatte, und trieb den Entzug der kirchlichen Lehrerlaubnis Küngs voran, dies unter kräftiger Mithilfe einiger deutscher Bischöfe, von Lehmann und einiger Mitglieder der Tübinger Theologischen Fakultät.

Das entscheidende Dekret ließ offen, weshalb genau Küng zu verurteilen sei. Für Rom gab die Unfehlbarkeit den Ausschlag, für die deutsche Öffentlichkeit wurde „Christ sein“ vorgeschoben. Erneut hatte man Küng unterschätzt, denn ab dem Jahr 1980 dehnte er den weiten Bogen seiner Forschungsarbeit aus bis hin zu den Weltreligionen sowie zum Projekt Weltethos und fasste die vielschichtigen Neuansätze im Stichwort eines neuen theologischen Paradigmas zusammen.

Dass Küng trotz schärfster Widerstände im öffentlichen Bewusstsein sein weltweites theologisches Ansehen bewahren und ausbauen konnte, hatte nach wie vor mit seiner Fundamentalkritik am römischen Lehrabsolutismus zu tun. Was sich zu Beginn als hoch abstrakter wissenschaftstheoretischer Streit über die mögliche Qualität kirchlicher Sprachhandlungen darbot, entfaltete sich zur hochmodernen Frage nach einem universal wirklich überzeugenden und nachvollziehbaren Reden von Gott und unabänderlichen Werten.

Fünfzig Jahre danach

Seit wenigen Jahren taucht die Unfehlbarkeitsthematik erneut auf. Einerseits erklärten zwei Päpste das Verbot der Frauenordination für unfehlbar und untersagten dessen Diskussion, was sofort zu biblisch, historisch und anthropologisch motivierten Diskussionen führte. Die vorgebrachten Argumente sind überzeugend, doch der Gesamtkomplex der als unfehlbar tabuisierten Doktrinen wird kaum in den Blick genommen.

Andererseits kommen hermeneutisch reflektierte und postmodern angereicherte Diskurse zur Geltung, die allerdings eine Frontalkritik des Metadogmas vermeiden. Vielmehr ordnen sie die Ereignisse von 1870 und 1970 in eine dialektische Gesamtbewegung ein und überspielen so das Kernproblem, dass Unfehlbarkeitsbestimmungen nach wie vor konstitutiver und höchst aktueller Teil der offiziellen Glaubenslehre sind. Soll man den Eheleuten sagen: „Ihr habt im Rahmen einer dialektischen Gesamtbewegung gesündigt“? Zum Schaden der ökumenischen Glaubwürdigkeit herrscht noch immer die Furcht vor einer offenen Debatte um die römisch-katholische Identität. Zu schnell wird übersehen, dass sich auch Papst Franziskus in Sachen Homosexualität streng zurückhält, jede Kritik an „Humanae Vitae“ vermeidet, die Tür zur Frauenordination geschlossen lässt und es nicht wagt, unhaltbare eherechtliche Bestimmungen aufzuheben, so unbarmherzig sie auch sind. Auch weigert er sich, einige Opfer der nachkonziliaren Lehrsanktionen zu rehabilitieren. Daran zeigt sich ein innerer Widerspruch, der das päpstliche Reformprogramm nachhaltig schwächt.

Letztlich bleibt Papst Franziskus gegenüber den reaktionären, arroganten und höchst aktiven Vorkämpfern eines magischen Satz- und Buchstabenglaubens wehrlos, solange er sich gegenüber der Unfehlbarkeitsdoktrin nicht eindeutig positioniert. Denn diese Doktrin ist unlösbar mit der römisch-katholischen Überzeugung verkoppelt, Nichtchristen befänden sich „objektiv in einer schwer defizitären Situation im Vergleich zu jenen, die in der Kirche die Fülle der Heilsmittel besitzen“ (Dominus Iesus, Nr. 22); nur die römisch-katholische Kirche sei in der Wahrheit gehalten.

Aus diesen Gründen ist Hans Küng mehr denn je davon überzeugt, dass sich die aktuellen Reformfragen ohne Revision der Unfehlbarkeitsthese, das heißt ohne einen konsequenten Rückgriff auf die ursprünglichen Glaubenszeugnisse und ohne einen offenen Weltdialog, nicht lösen lassen (vgl. Sieben Päpste, München 2015, 349–357).

Die Unfehlbarkeitsdebatte ist also wichtiger denn je, denn genau an dieser Frage könnte die Zukunft der römisch-katholischen Kirche zu einem Zeitpunkt scheitern, an dem ihre Reform an Struktur und Institutionen zu einer Überlebensfrage geworden ist. In seinen Erinnerungen an die damalige Unfehlbarkeitsdebatte, die sich in der Rückschau wie ein Kriminalroman lesen, schreibt Küng: „Für mich hat sich inzwischen wie für den Großteil der Katholiken zumindest der Nordhalbkugel – anders als für das kirchliche Lehramt – die Unfehlbarkeitsproblematik im Grund erledigt. Eine intellektuelle Herausforderung stellt sie für mich jedenfalls nicht mehr dar. Eine kirchenpolitische sehr wohl. Deshalb werde ich mich auch weiterhin der Diskussion stellen“ (Umstrittene Wahrheit, München 2007, 239). Vor allem hat sich das innerste Motiv durchgehalten, das ihm zum Standhalten überhaupt die Energie gab: „Die christliche Botschaft, dieser Jesus selbst und der Gott, für den er steht, wäre für die Menschen der heutigen Zeit wieder glaubwürdiger geworden. Und nur dafür lohnt es sich überhaupt, in der Mühsal dieser Zeit Theologie zu treiben.“

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