„Anders als manche heute nahelegen, spielt der Topos der Sünde im christlichen Glauben und in der christlichen Theologie keine Nebenrolle, sondern eine Hauptrolle.“ Mit dieser These markiert der evangelische Systematiker Ingolf U. Dalferth Inhalt und Anliegen seines anspruchsvollen Buchs. Der erste Teil gilt der Hinführung zu einer angemessenen theologischen Rede von der Sünde im Spannungsfeld zwischen Gott und Mensch („Sünde ist Blindheit für Gottes Zuwendung.“); im zweiten Teil lässt Dalferth dann in einer sehr konzisen Weise wichtige Stationen des Sündenverständnisses in der theologischen Denkgeschichte von Augustinus und Thomas über Luther und Melanchthon bis zu Schleiermacher Revue passieren.
Spannend zu lesen ist das, was er unter der Überschrift „Transformationen der Sünde“ analysiert, etwa zur politischen Transformation der Sünde bei Thomas Hobbes, zu ihrer ethischen Transformation bei Immanuel Kant oder zur psychologischen Transformation der Sünde bei Sören Kierkegaard.
Ein weiterer Teil geht kritisch mit dem Gottes- und Sündenverständnis Friedrich Nietzsches genauso ins Gericht wie mit zeitgenössischen Verkürzungen des Sündenbegriffs in feministischem Denken, in der Debatte über den Kolonialismus, wo der Sündengedanke polemisch gegen die jeweils andere Seite gebraucht werde, und in der Trivialisierung der Sünde als der wohl verbreitetsten Form ihrer Dekonstruktion.
Dalferth formuliert als Quintessenz, es sei töricht der Theologie einreden zu wollen, auf das Diagnoseinstrument der Sündenlehre zu verzichten: „Nichts hilft besser, die existenziellen Verkürzungen und Verkrümmungen aufzudecken, die dazu führen, dass Menschen nicht so leben, wie sie als Gottes Geschöpfe leben könnten und sollten.“ Sein Buch hilft dazu, ein enggeführtes moralisches Verständnis von Sünde zu überwinden, verschweigt selbstkritisch nicht die diversen christlichen Verfehlungen beim Umgang mit dem Thema Sünde und ist gleichzeitig selbstbewusst genug, den heilsamen Kern der Sündenvorstellung präsent zu halten und in den heutigen ideologisch-weltanschaulichen Diskurs einzubringen. Hier hat es seine unbestreitbaren Meriten. Ulrich Ruh