Peter Handkes Erzählung „Das zweite Schwert“Der Weg der Murmeln

Peter Handke stellt seiner Erzählung „Das zweite Schwert. Eine Maigeschichte“ (Frankfurt 2020) ein Zitat aus dem Lukasevangelium voraus: „Und er sagte zu ihnen: wer jetzt einen Geldbeutel hat, nehme den, eben so einen Reiseranzen, und wer keins davon hat, verkaufe sein Gewand und kaufe ein Schwert! (…) Sie aber sagten: Herr, siehe, hier sind zwei Schwerter! Und er sagte zu ihnen: das genügt“ (Lukas 22,36–38).

Die Stelle ist in der Kommentierung unter den Exegeten umstritten. Wahrscheinlich nimmt sie Bezug auf die Aussendungsrede, in der Jesus dazu auffordert, keinen Geldbeutel mitzunehmen, keinen Reiseranzen und kein Gewand.

Nun wird das Gegenteil angeraten und dazu aufgerufen, das Gewand zu verkaufen und dafür ein Schwert zu kaufen. Die Perikope markiert also den Übergang vom galiläischen Frühling und dessen Sorglosigkeit zum Jerusalemer Ernst und zur Bedrohungssituation des bevorstehenden Verrats.

Handke deutet die Perikope mit den zwei Schwertern völlig anders und neu. Das ist der Charme seiner Erzählung: sie nimmt eine marginale und marginalisierte biblische Szene ganz überraschend in den Blick.

Nicht wenige hatten nach den Vorgängen um die Nobelpreisverleihung eine martialische Schwertgeschichte, einen Rachefeldzug erwartet. So hebt die Geschichte auch an: „Das also ist das Gesicht eines Rächers! Sagte ich zu mir, als ich mich an dem bewussten Morgen, bevor ich mich auf den Weg machte, im Spiegel ansah.“ Hier rüstet sich also einer für den Akt der Rache.

Was aber treibt den Erzähler zu diesem Rachefeldzug an? Er will seine Mutter rächen, weil man sie mit Worten beleidigt und ihr alle Ehre abgesprochen hat. Eine Journalistin machte ihr zum Vorwurf, dass sie dem Nationalsozialismus gehuldigt habe.

Der Erzähler landet auf seinem Weg im Kloster Port-Royal, in dem Blaise Pascal seine Schulzeit verbracht hatte. Dort schläft er ein und hat einen merkwürdigen Traum: Er klagt nun von sich aus seine Mutter an und stellt ihr die Frage, warum sie nicht dem Nationalsozialismus abgeschworen habe. Er schwingt sich also zum Richter über ihre Lebensgeschichte auf und merkt, dass er ihr Leben damit völlig verfehlt.

Diese Verwandlung in der Pascal’schen Abgeschiedenheit des Klosters Port-Royal bringt ihn zu einem anderen Blick. Jetzt verfolgt auch er nicht mehr die Journalistin, die so Ungeheuerliches über seine Mutter verbreitet hat, sondern wendet sich dem eigenen Leben zu. Seine Kindheit kommt ihm immer wieder vor Augen, in der er häufig mit Murmeln gespielt hat – und diese Murmeln haben einen anderen Weg genommen, als er häufig intendierte. Bei einem Fest am Ende der Erzählung, an dem alle Bewohner der Umgebung beteiligt sind, entdeckt er plötzlich auch die Täterin, die seiner Mutter die Vorwürfe gemacht hat.

Sie wurde über eine Diskussionsrunde im Fernsehen eingespielt. Besagte Journalistin hatte drei paar Brillen auf, eine oben auf dem Kopf, eine vor den Augen und eine an einer Schnur vor der Brust. „Plötzlich rollte die Kugel, rollten die Murmeln ganz woandershin als zu Beginn dieser Geschichte gedacht. Sie, die Übeltäterin, sie und ihresgleichen gehörte nicht in die Geschichte. (...) Es war darin kein Platz für sie. Und das war meine Rache. Und das genügte als Rache. Das war und ist Rache genug. Wird genug an Rache gewesen sein, amen. Nicht das Schwert aus Stahl, sondern das andere, das zweite.“ Das zweite Schwert ist das Erzählen, das zweite Schwert ist die Metapher, das zweite Schwert ist die Verwandlung der Welt durch Poesie.

Eine interessante Passage in dieser Erzählung stellt die Betrachtung einer aufgelassenen Kirche dar, die in einen Bridgesaal verwandelt worden war. Von der Kircheneinrichtung scheinen keine Reste mehr da zu sein und doch sind die Spuren unübersehbar. Das ewige Licht brennt noch und spiegelt sich in den Brillen der passionierten Bridgekartenspielerinnen. Im früheren Beichtstuhl spielen die Kinder Verstecken. Weiterhin sind die tausendjährigen Steinmetzzeichen zu sehen, Symbole für die Toten. Dort zündet der Erzähler seine Kerzen an. Das Kirchengebäude scheint verschwunden – und dennoch lebt es in starken Zeichen weiter: Es bietet Raum, der Platz hat für die Lebenden und die Toten und hält deren Gedenken wach. Erich Garhammer

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