Der Islam und die islamische WeltDrastische Analyse und gewagte Vision

Bereits im vergangenen Jahr hatte die Ethnologin Susanne Schröter den „politischen Islam“ im Untertitel ihres gleichnamigen Buches als „Stresstest für Deutschland“ apostrophiert. Es ist ein Indiz für die – angesichts der tatsächlichen Krisenphänomene verständlich – Brisanz dieses Themas im öffentlichen Diskurs, dass auch die Bücher seriöser Geisteswissenschaftler derart plastische Titel tragen. Hierin stehen Schröter auch die beiden in diesem Jahr erschienenen Bücher des islamischen Theologen Mouhanad Khorchide und des Soziologen Ruud Koopmans in nichts nach.

Indem Letzterer „Das verfallene Haus des Islam“ in den Blick nimmt, führt er „Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“ in islamisch geprägten Ländern auf primär „religiöse Ursachen“ zurück. Dabei argumentiert er maßgeblich mit Vergleichen soziologischer Daten für islamische und nicht-islamische Staaten und vermag durchaus plausibel aufzuzeigen, dass ganz offensichtlich autoritäre Regime, Gewalt, Unterdrückung von Frauen und Homosexuellen sowie wirtschaftliche Rückständigkeit mit der Variable „Religion“ beziehungsweise „Islam“ zusammenhängen.

Somit liefert Koopmans einen Tatsachenbericht für die islamische Welt (und große Teile islamischer Einwanderersmilieus in Europa). Nachdem nun einer der angesehensten Soziologen der Wissenschaftslandschaft solche Tatsachen ausbuchstabiert hat, wird man nur noch schwer von einer Tabuisierung der Fakten sprechen können.

Jedoch: Sein Versprechen, die „religiösen Ursachen“ für die untersuchten Phänomene aufzuzeigen, löst Koopmans nicht ein. Denn einer religionswissenschaftlichen Perspektive verschließt sich der Soziologe explizit. Dadurch bleiben „der Islam“ und der von ihm problematisierte „fundamentalistische Islam“ letztlich abstrakt – mit verheerenden Folgen: Zum einen zeigt er zulasten seiner eigenen Problemanalyse kaum auf, welche theologischen Setzungen hinter aktuellen Phänomenen des islamischen Fundamentalismus stehen. Zum anderen behindert er den Blick auf bestehende alternative Konzepte islamisch-politischen Denkens und Ansatzpunkte für eine reformistische Entwicklung innerhalb des konservativen Islam.

Am Ende steht dann auch im Wesentlichen die Forderung nach einer religionspolitischen Eindämmung und die Diagnose der Notwendigkeit einer Reform des Islam, die jedoch theologisch gleichfalls unterbestimmt bleibt. Freilich ist es auch nicht die Aufgabe eines nicht-islamischen Soziologen, Vorschläge für ein theologisches Reformprogramm zu geben.

Ein solches stellt – zumindest mit Blick auf die deutsche beziehungsweise europäische Religionspolitik – eine Bringschuld islamischer Gemeinschaften in Deutschland und Europa dar. Deshalb ist es Mouhanad Khorchide zu danken, dass er genau diese Herausforderung annimmt: Im zweiten Teil seiner analytisch präzisen Programmschrift wider „Gottes falsche Anwälte“ – also die große Mehrheit islamischer Machthaber und Theologen nach dem Tode Mohammeds, die den Islam politisch instrumentalisierten – formuliert und erörtert er zehn Thesen für eine derartige Reform. Ihr liegt der Gedanke zugrunde, zum „ursprünglichen“ Islam als einer Religion zurückzukehren, die das Ziel hatte, den Menschen zu einem selbstbestimmten Subjekt zu befreien – und ihn eben nicht politisch, kulturell und religiös zu objektivieren.

Wie jedoch genau dies über fast 1400 Jahre geschah, zeigt Khorchide im ersten Teil seines Buchs – wiederum ausgehend von zehn Thesen – auf und schließt damit genau die Lücke, die Koopmans offen lässt. Dabei gelingt es dem Theologen zu zeigen, wie sich seit dem Tod Mohammeds eine regelrechte „Kultur der Unterwerfung“ herausbildete: „Wieder wurde der Mensch zum Objekt der Unterwerfung, wieder zwang man ihn zum bedingungslosen Gehorsam gegenüber despotischen Machthabern. Und es blieb nicht allein bei der politischen Unterwerfung des Menschen, aus ihr erwuchs eine gesellschaftliche Mentalität, die tief in die verschiedenen gesellschaftlichen Dimensionen bis hinein in die Köpfe der Menschen und deren Denkstrukturen reichte.“

So authentisch, notwendig und begründet Khorchides engagiertes Plädoyer für eine innerislamische Reform ist, muss man zumindest konstatieren, dass es von einem starken Kontrast zwischen dem „ursprünglichen“ Islam Mohammeds und der vom Autor angestrebten Reform auf der einen Seiten und „reaktionären“ Auslegern auf der anderen Seite lebt. Dabei erscheinen letzte tendenziell als homogene Gruppe. Dies freilich vernachlässigt, dass prägende Strömungen des fundamentalistischen Islam im 19. und 20. Jahrhundert, wie die Muslimbrüder im Gefolge von Sayyid Qutb – auch dem Selbstverständnis nach –, Spielarten moderner politischer Theorie repräsentieren. Aber eben politischer Theorie, was sie von Khorchides Konzept eines modernen Islam unterscheidet, der gerade einer politischen Funktionalisierung von Religion entsagt. Tilman Asmus Fischer

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Mouhanad Khorchide

Gottes falsche AnwälteDer Verrat am Islam

Verlag Herder, Freiburg 2020. 256 S. 22,00 € (D)

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