Die Astrophysik und die Frage nach dem Sinn des DaseinsGläubiges Staunen

Was die Astrophysik über die ersten Momente des Universums zu sagen hat, kann Ehrfurcht vor dem Wunder der Schöpfung wecken – und einen Sinn dafür, dass wir unsere Existenz nicht uns selbst verdanken.

Gläubiges staunen
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Dem christlichen Glauben Plausibilität zuerkennen zu können, speist sich nicht zuletzt aus einer den Menschen auszeichnenden Grundhaltung des Staunens gegenüber der Tatsache, dass etwas ist und nicht nichts. Was bereits für Aristoteles am Beginn allen philosophischen Nachdenkens stand, sollte auch in postmetaphysischen Zeiten wachgehalten werden: Der Modus des staunenden Daseins bildet den atmosphärischen Nährboden für die metaphysische Frage nach dem Ganzen, von der auch die Theologie im Letzten lebt.

Staunen kann als ästhetische Emotion verstanden werden, die die Fantasie beflügelt und Grenzüberschreitungen ermöglicht; das Staunen bewegt sich zwischen „Sensation und Kognition, Immersion und Distanzierung, Überwältigung und Neugier, Nicht-Wissen und Wissen“ (Nicola Gess, Staunen – Eine Poetik, Göttingen 2019, 15). Es kann insbesondere eine starke emotionale Reaktion auf die Erkenntnis implizieren, dass etwas möglich ist oder wurde, was eigentlich als unmöglich galt. Dies gilt insbesondere für den staunenden Blick auf das Leben als Gegensatz zum Nichts.

Dasein als Geschenk

Die Tatsache, dass Leben ist, kann mehr als alles andere Grund zum Staunen geben. Welche Konsequenzen das Staunen auch immer nach sich ziehen mag (als ästhetische Emotion bringt es Offenheit mit sich, die sich gedanklich nicht kontrollieren lässt) – die Theologie und auch die kirchliche Verkündigung sollte diese Emotion nicht unterschätzen, wenn sie einen Sensus dafür wachhalten will, dass unser Leben, so wie es geworden ist, plausibel als „Geschenk“ zu denken und zu glauben ist, das heißt wir Menschen Geschöpfe sind. Es gilt, diesem Sensus Raum zu geben.

Dies gelingt genauer dann, wenn man sich vor Augen führt, wie außerordentlich die Tatsache der menschlichen Existenz ist. In solchen Räumen faszinierenden Staunens kann die Gottesfrage entstehen und wachsen, die sich nach dem Diktum von Karl Rahner besonders im Zusammenhang der Frage nach dem Menschen stellt. Auch wenn das Staunen über die menschliche Existenz nicht notwendig zu Gott führt, erfüllt es zumindest eine wichtige Grundvoraussetzung, die einen Sensus dafür erzeugen kann: Das Staunen kann uns das Ganze unserer Existenz bewusst machen. Wir würden der Rahner’schen Dystopie eines findigen Termitenstaates (vgl. Grundkurs des Glaubens, 12. Auflage, Freiburg 1984, 52) erschreckend nahekommen, wenn wir nicht solche Orte etablierten, an denen das staunende Infragestellen der Existenz inkultiviert wird.

Einen solchen raumgebenden Sensus kann fraglos auch die moderne Physik erzeugen, näherhin geben aktuelle Einblicke in die moderne Astrophysik Anlass genug, über die mathematisch und physikalisch höchst unwahrscheinliche Tatsache unseres Daseins zu staunen. Nicht insofern sie Gott auf der Spur ist, ist sie faszinierend – das wäre eine unzulässige metabasis eis allo genos (griechisch: Übergriff in ein anderes Gebiet) –, sondern insofern sie den Blick auf mögliche Ursachen richtet, die dafür in Frage kommen, dass sich alles so zugetragen hat, wie es sich zugetragen hat.

Eine Frage, die die physikalische Community schon länger beschäftigt, ist die nach der Ursache des Materieüberschusses in unserem Universum. Dazu gibt es jetzt neue, bahnbrechende Erkenntnisse. Der gegenwärtigen Urknalltheorie zufolge entstanden Bruchteilsekunden „danach“ Materie und Antimaterie im gleichen Maß. Auf der Ebene der Elementartteilchen hat jedes Teilchen seinen negativ aufgeladenen Gegenpart. Treffen solche gegenteilig geladenen Teilchen aufeinander, entsteht Strahlung in Form von freiwerdender Energie. Zur Veranschaulichung: Würde ein Mensch auf seinen gegenteilig geladenen Part treffen, würde sich eine Energie von 50.000 Hiroshima-Bomben freisetzen.

Im noch nicht einmal eine Sekunde alten Universum hätte das eigentlich dazu führen müssen, dass alles sofort wieder zerstrahlt worden wäre; beide Materieformen hätten sich selbst nivelliert. Haben sie aber nicht. Galaxien, Nebel, Sterne, Kometen und Planeten sind Ergebnisse eines physikalischen Prozesses, der dazu geführt hat, dass ein Rest von Materie, der sogenannte Baryonenüberschuss, übrig blieb.

Antimaterie lässt sich so gut wie nicht beobachten. Naturwissenschaftlich betrachtet sind wir Resultat eines Überschusses (zehn zu einer Milliarde), dessen Existenz die Teilchenphysik vor große Fragen stellt. Weitgehend akzeptiert ist die These, dass eine Symmetrieverletzung mit dafür verantwortlich ist, das heißt die Eigenschaften von Teilchen und Antiteilchen nicht exakt miteinander übereinstimmen.

Auf der Suche nach einer gewichtigen Symmetrieverletzung, die tatsächlich für die Existenz von Überschussmaterie sorgte, gab es bereits zahlreiche Experimente. Zum Beispiel untersuchte man die Eigenschaften des Antiwasserstoffatoms, das im Übrigen sehr schwer herzustellen und gefangen zu halten ist. Wasserstoff ist das am häufigsten vorkommende Element im Kosmos (rund 70 Prozent). Doch das Ergebnis war ernüchternd: Die Eigenschaften der negativ geladenen Wasserstoffatome glichen den Eigenschaften der positiven Teilchen.

Den Neutrinos sei Dank

Erhellender sind demgegenüber die Beobachtungen, die man beim sogenannten Mesonenzerfall beobachtet. Mesonen entstehen beim Zusammenprall von Teilchen. Beim Zerfall, der sich in Sekundenbruchteilen ereignet, hat man festgestellt, dass ein Prozent mehr Materie als Antimaterie übrig bleibt. Doch auch hier reicht die zu messende Asymmetrie noch nicht aus, um sich das Überleben der Materie erklären zu können.

Seit April jedoch gibt es neue Erkenntnisse, die die Forschungswelt haben aufhorchen lassen. Japanischen Wissenschaftlern um den Physiker Koichiro Nishikawa ist es gelungen, mögliche Zeugen zu benennen, die entscheidenden Anteil daran haben könnten, dass wir hier sind. 2010 beschädigte das Erdbeben in Japan den Teilchenbeschleuniger schwer, dem die Wissenschaftler heute ihre Ergebnisse verdanken. Die Eigenschaft von Neutrino-Teilchen, während ihres schnellen Fluges ihre Identität oder Natur ändern zu können, könnte zu einer gewichtigen Symmetrieverletzung im jungen Universum geführt haben. Mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit von 99,7 Prozent konnten die Wissenschaftler zeigen, dass bei gleicher Menge beim Start der Beschleunigung am Ende die negativ geladenen Teilchen nicht mit derselben Anfangsmenge vertreten waren.

Genauer: Man jagte Neutrino-Teilchen durch einen 295 km langen Beschleuniger, die auf einen unterirdischen, mit 50.000 Tonnen Wasser gefüllten Detektor trafen. Dieser kann nachweisen, mit welcher Häufigkeit sich Neutrinos umgewandelt haben. Einige von ihnen haben ihre Ladung verändert. Negativ geladene Myon-Neutrinos verwandelten sich im Beschleuniger manchmal zu positiv geladenen Elektron-Neutrinos. Man will zwar auch in diesem Fall nicht von einer Entdeckung sprechen, aber immerhin wird der Befund von vielen Forschern als eindeutiges Indiz gewertet.

Pointiert formuliert verdanken wir unsere Existenz also unter anderem auch den seltsamen Identitätsschwankungen von Neutrino-Teilchen.

Nicht nur diese Erkenntnis führt mehr denn je vor Augen, wie sehr sich das Leben mikroelementaren Feinstabstimmungen verdankt, die sich im Lauf der Kosmogenese herausgebildet haben. „Die Anfangsbedingungen der kosmischen Evolution sind mit den materiellen Voraussetzungen der Entwicklung von Leben und der Existenz des Menschen (…) untrennbar verknüpft“ (Hans-Joachim Blome und Harald Zaun, Der Urknall. Anfang und Zukunft des Universums, 4. Auflage, München 2018, 38).

Zum Beispiel ist die Tatsache, dass der Raum drei Dimensionen hat, wesentliche Voraussetzung dafür, dass Planeten ihre Heimatsterne in festen Bahnen umrunden können. Ebenso ist heute bekannt, dass mindestens eine Generation von Sternen sich entwickeln musste, damit die Teilchen gebildet und in den Raum abgegeben werden konnten, aus denen sich später Planeten bildeten. Der Astronom Otto Heckmann resümierte deshalb, dass „ein ganzer Kosmos von unwahrscheinlichen Baubedingungen und von sehr spezifischen Unwahrscheinlichkeiten“ entstehen musste, „damit der Mensch ins Leben treten konnte“ (79).

So aufrüttelnd die Erkenntnis der maximalen Unwahrscheinlichkeit der Entstehung menschlichen Lebens ist, so erschreckend kann die Feststellung sein, dass alles Leben – auch in kosmologischen Dimensionen – befristet ist. Die Physik weiß: Leben ist ein Durchgangsphänomen, ein relativ kurzer Zeitraum innerhalb der sich stetig fortsetzenden Expansion des Universums. Unsere Sonne wird bald (in etwa fünf Milliarden Jahren) zu einem roten Riesen heranwachsen und das Leben auf der Erde vernichten. Selbst wenn es dem Menschen einst gelingen sollte, andere Lebensorte zu erreichen, wird er um die Tatsache nicht herumkommen, dass einmal alle Sterne ihre Energie verloren haben werden.

Der Mensch bewegt sich hier an den Grenzen des noch Fassbaren. Wie kann es sein, dass einmal dies alles nicht mehr sein wird? Wo wird es sein? Was wird sein? So wenig, wie er das Ende fassen kann, kann er fassen, was kurz vor der sogenannten Planck-Zeit (10¯⁴3 Sekunden „nach“ dem Urknall) des Universums war. Denn Raum und Zeit, ohne die wir nicht denken können, gab es „im Anfang“ noch gar nicht. Sich dieses Etwas, aus dem alles geworden ist, vorzustellen, ist unmöglich. Deshalb beginnt die physikalische Modellierung der Anfangszeit erst in der Planck-Zeit. „Für Zeiten vor t = 10¯⁴3 Sekunden, also die Plank-Zeit, ist derzeit keine physikalisch zweifelsfreie Aussage über den Kosmos möglich.“ (85) Man stellt sich heute den Anfang vor als extrem klein, extrem heiß, extrem dicht und extrem unerklärlich. Carl Friedrich von Weizsäcker betont deshalb die Sinnlosigkeit der Frage nach diesem Anfänglichen, weil erst die Welt einen sinnvollen Gebrauch solchen Rückfragens ermöglicht (88).

So richtig dies sein mag: Das Rück- und Vorfragen, die Überlegungen über die Undenkbarkeit des Anfangs oder die glücklichen Umstände der Symmetrieverletzung können ex negativo eine Atmosphäre evozieren, in der menschliches Denken staunen lernen kann. Nicht umsonst war der Neurologe und Journalist Hoimar von Ditfurth davon überzeugt, dass die moderne physikalische Kosmologie die Fortsetzung der Metaphysik ist. Was bedeutet dies für die christlichen Kirchen?

Welche Antworten Menschen auf die Frage nach Sinn und Zweck des Ganzen auch immer geben werden, die Kirche sollte ein Interesse daran haben – jenseits durchaus wichtiger kirchenpolitischer Streitereien –, die metaphysische Grundfrage in aller Schärfe und Dringlichkeit immer wieder zu stellen beziehungsweise wach zu halten. Warum ist etwas und nicht vielmehr nichts?

Diese Frage sollte nicht nur in einer sprachlich angemessenen Form gestellt werden, ihre schöpfungstheologische Antwort sollte durchaus selbst im Modus des Fragens bleiben, will man ernsthaft nachmetaphysische Zeitgenossenschaft leben, in der eine eindeutige Antwort auf die Frage nach dem Ganzen nicht mehr möglich scheint, beziehungsweise bereits die Frage danach verdächtig erscheint. Selbst auf die Gefahr hin, dass die Kirche zugeben müsste, keinen Beweis oder zureichenden Grund für die Annahme ihrer eigenen Antwort auf das Staunen in Gestalt des Schöpfungsglaubens zu haben.

Das Staunen über die Existenz im Ganzen führt nicht automatisch zum Glauben, aber es kann sensibel machen für die Grundanliegen der christlichen Theologie. Mit dem Gedanken eines transzendenten Gottes tritt der Mensch und die Welt als Ganzes (meist in Form einer Frage) vor das menschliche Bewusstsein. Die christliche Theologie führt die Frage einer Antwortmöglichkeit zu, der man folgen kann oder nicht: Der Mensch verdankt seine Existenz einem guten Willen, der ihn und alles um ihn herum letztlich bejaht.

Um es noch einmal zu betonen: Physikalische Befunde begründen nicht den christlichen Schöpfungsglauben. Jedoch können auch sie dem Gedanken Raum geben, dass christliche Schöpfungstheologie letztlich Ausdruck eines sich geschenkt wissenden Bewusstseins ist. Bedenkt man, wie unwahrscheinlich es war, dass ein Materieüberschuss übrig blieb, dann kann das Staunen darüber, dass es trotzdem so gekommen ist, ein Wert sein, den Theologie und Kirche für förderungswürdig halten sollten.

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