Kompromisse tun weh. Sie stellen nie alle Beteiligten zufrieden. Kompromisse sind notwendig, im alltäglichen Leben wie in der Politik. Sie erfordern es, Maximalpositionen zu verlassen und einen gemeinsamen Nenner auszuloten. Häufig sind sie der einzige Weg, zwar nicht den Konflikt, aber doch eine Blockade zu lösen. In einem Themenfeld, von dem Abgeordnete sagen, es sei toxisch, ist die Fähigkeit zum Kompromiss mehr denn je eine ethisch gebotene politische Tugend. So war es 1995, als der Deutsche Bundestag im zweiten Anlauf den Umgang mit Schwangerschaftsabbrüchen im vereinten Deutschland neu regelte.
Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht einen Beschluss des Bundestages aufgehoben, durch den eine Abtreibung in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen legalisiert werden sollte.
In der Regelung von 1995 gilt der Schwangerschaftsabbruch ohne medizinische oder kriminologische Indikation als rechtswidrig. Prinzipiell ist die schwangere Frau also zum Austragen des Kindes verpflichtet. Sie kann aber nach einer psychosozialen Schwangerschaftskonfliktberatung bei einer anerkannten Beratungsstelle sowie einer dreitägigen Bedenkzeit in der Zwölfwochenfrist eine straffreie Abtreibung vornehmen lassen. Dahinter steht die Einsicht, dass der Staat das Leben des ungeborenen Kindes effektiv nicht gegen die, sondern nur mit der Mutter schützen kann. Der Staat kommt seiner Schutzpflicht durch die Beratung nach, in der gemeinsam mit der Frau nach einer Lösung für den Schwangerschaftskonflikt gesucht wird. So stellt sich der Staat hinter das Kind, aber auch hinter die Frau. Er respektiert ihre Entscheidung auch aus der historischen Erfahrung, dass Schwangerschaftsabbrüche durch ein striktes Verbot nicht verhindert werden, aber die zum Abbruch entschiedenen Frauen in die Illegalität und häufig in eine gesundheitlich riskante Situation gedrängt würden.
Der so konstruierte Kompromiss „rechtswidrig, aber straffrei“ hat den verhärteten politischen Lagern viel abverlangt. Wer – wie die katholische Kirche – überzeugt ist, dass die Würde des menschlichen Lebens und folglich die Schutzwürdigkeit in vollem Umfang auch für den Embryo im Mutterleib gilt, kann kaum akzeptieren, dass ein Schwangerschaftsabbruch ohne zwingende Indikation geduldet wird. Wer überzeugt ist, dass eine Austragungspflicht als Eingriff gegen die gleichfalls schutzwürdige körperliche Unversehrtheit und damit gegen ein elementares Recht der Frau verstößt, kann kaum akzeptieren, dass der Staat hier eine prinzipielle Strafandrohung aufrechterhält. Der Kompromiss hat das beiderseits kaum zu Akzeptierende in eine seit 25 Jahren tragfähige Praxis überführt, die niemals unumstritten war, die aber doch von einer großen gesellschaftlichen Mehrheit als die beste aller prinzipiell unbefriedigenden Lösungen für einen unabweisbaren Konflikt bewertet wird.
Es ist sogar gelungen, dass ein katholisches Element in der Beratungslandschaft erhalten blieb. In einem beispiellosen (oder sollte man besser sagen: beispielhaften?) Akt des selbstbewussten Ungehorsams gegenüber ihren Bischöfen haben katholische Laien den Verein „donum vitae“ gegründet, der Konfliktberatung innerhalb des gesetzlichen Systems anbietet und – hier tatsächlich kompromisslos – an der Seite hilfesuchender Frauen steht. Das zog Phasen der Ausgrenzung und der Zerrüttung im Verhältnis zwischen Bischöfen und hoch angesehenen Katholikinnen und Katholiken nach sich. In den letzten Jahren kam es wieder zu einer spürbaren Annäherung und wachsenden Akzeptanz. Die Tugend der Kompromissfähigkeit setzt sich auch in der katholischen Kirche mitunter gegen die verbissene Polarisierung durch.
Parallel nimmt die Polarisierung in der politischen Debatte wieder zu. Die AfD beklagt in ihrem Wahlprogramm, die Konfliktberatung sei „zu einem formalen Verwaltungsakt verkümmert“, was eine Beleidigung der empathischen, lebensbejahenden und die Frauen stärkenden Schwangerschaftsberaterinnen von „donum vitae“ ist. Die Parteien auf der linken Seite des politischen Spektrums wollen den Schwangerschaftsabbruch aus dem Strafgesetzbuch entfernen und bewerten die Beratungspflicht als Kriminalisierung und Entmündigung von Frauen. Sie blenden die staatliche Verpflichtung zum Schutz der Schwangeren und ihres Kindes aus, die nicht ohne eine solche Zumutung zu erfüllen ist – eine Zumutung, aus der auch eine Ermutigung und neues Zutrauen ins Leben wachsen kann.
Den Kompromiss aufzukündigen heißt, eine gesellschaftliche Wunde aufzureißen und den Konflikt erneut von unversöhnlichen Standpunkten auszutragen, statt ihn in der politischen Mitte zu entgiften.