Ein Gespräch mit der Unternehmerin und Politikerin Diana Kinnert„Die neue Einsamkeit gefährdet die Demokratie“

Diana Kinnert erklärt im Interview, warum Einsamkeit besonders auch junge Menschen betrifft, welche Gefahr sie für die Demokratie darstellt und warum sie sich ein Jesus-Tattoo stechen ließ. Die Fragen stellte Dana Kim Hansen-Strosche.

Diana Kinnert

Warum beschäftigt sich eine junge Frau wie Sie, die mitten im geschäftigen Berlin lebt, mit dem Thema Einsamkeit, Frau Kinnert?

Diana Kinnert: Ich habe auf den ersten Blick auch keine Verbindung gesehen. Aber gerade das Leben in Städten und das Leben von jungen und digitalen Menschen hat viel mit dem Thema Einsamkeit zu tun. Während meiner politischen Arbeit in England habe ich beobachtet, dass es dort eine breite Debatte über das Phänomen Einsamkeit gibt. Die Debatte betraf vor allem die Einsamkeit von alten Menschen, den demografischen Wandel. Viele Seniorinnen und Senioren sind nicht an die Digitalität angeschlossen, ihre Kinder und Enkelkinder wohnen weit weg, die Infrastruktur auf dem Land lässt sie im Stich. In der Politik braucht man Mehrheiten, und in einer demografisch alternden Gesellschaft muss man Angebote für Seniorinnen und Senioren machen, ansonsten bekommt man diese Mehrheiten nicht. Ich habe im Thema Einsamkeit ein Zukunftsthema auch für Deutschland gesehen.

Was hat Sie bei der Beschäftigung mit dem Thema am meisten überrascht?

Kinnert: Inzwischen bin ich der Meinung, dass es nicht mehr nur damit getan ist, für alte Menschen eine bessere Infrastruktur zu schaffen. Ihnen fehlt die Gewissheit, überhaupt sichtbar und erwünscht zu sein. Man denke etwa an die Debatten, ob sich bei über 80-Jährigen noch ein neues Hüftgelenk lohnt. So entsteht für diese Menschen das Bild, unerwünscht, eine Belastung und Zumutung zu sein. Das hat mit einem fehlenden Kultursinn zu tun. Seit der Industrialisierung kennen wir den Ruhestand, der suggeriert, man leiste nichts mehr, sondern nimmt nur noch. Das finde ich nicht mehr zeitgemäß. Und nicht zuletzt ist das Thema Einsamkeit etwas, das nicht nur alte Menschen betrifft.

Wieso sind Einsamkeit und Vereinzelung gerade für die junge Generation so wichtige Themen? Und wie äußert sich das?

Kinnert: Ich habe mein Buch zu diesem Thema ganz bewusst „Die neue Einsamkeit“ genannt. In ihm gehe ich der Frage nach, warum sich die erreichbarste und bestvernetzte Generation einsam fühlt. Dieses Phänomen hat viel mit unseren modernen Bedingungen zu tun. Wir arbeiten immer rationalisierter, haben weniger sozial geprägte Räume, alles ist technologisiert und metrifiziert. Durch die allgegenwärtige Messbarkeit soll alles effizienter werden. Ich höre von Kindern, dass in den Sozialen Medien das Leben ihrer Schulfreunde immer viel besser aussieht als das eigene. Das fördert eine Art von Minderwertigkeitsgefühl und man begreift sich selbst als Zumutung für andere. Wir lernen und arbeiten mit dem Smartphone, werden abgelenkt. Sicherlich ist Einsamkeit, wie zum Beispiel auch Liebeskummer, ein uraltes, natürliches Phänomen. Aber unsere gegenwärtgen Lebensbedingungen verändern unser Empfinden von Einsamkeit dramatisch.

Das Jugendwort war im vergangenen Jahr „lost“ – wie interpretieren Sie das?

Kinnert: Ich wusste, dass das Thema für junge Menschen einen Rolle spielt, aber es hat mich überrascht, wie sehr diese Generation dies selbst reflektiert. Viele Songtexte von jungen Musikern handeln von diesem Thema. Vieles, was früher selbstverständlich und verlässlich war, ist es heute nicht mehr. Linearitäten und Gewissheiten, dass ich etwa davon ausgehe, in zehn Jahren an dieser Stelle im Betrieb zu arbeiten und alle zwei Jahre befördert zu werden, gibt es nicht mehr. Donald Trump konnte Präsident der USA werden, der Klimawandel schreitet voran, die Ereignisse in Afghanistan: Es passieren wahnsinnig viele Dinge und gerade für junge Menschen ist es eine mentale Überforderung, nicht mehr zu wissen, wie die eigene Welt morgen aussieht. Sie haben das Gefühl, ihr Leben nicht mehr selbst in der Hand zu haben. Für mich sind das Gegenteil von Einsamkeit nicht nur gesunde Beziehungen, sondern auch das Gefühl von Ermächtigung.

Was meinen Sie in diesem Zusammenhang mit Ermächtigung?

Kinnert: Einsamkeit hat mit Ohnmacht zu tun. Man fühlt sich unsichtbar, hat den Eindruck, nicht stattzufinden und nichts gestalten zu können, man fühlt sich übergangen und diskriminiert. Ermächtigung bedeutet, sein Leben in der Hand zu haben, zu wissen, wie es morgen aussieht. Das geht verloren, wenn ich immer nur befristet angestellt bin oder bis nachts im Homeoffice E-Mails checken muss, weil ich Angst habe, sonst gekündigt zu werden. Die Generation der Jungen wird ausgebeutet. Und sie sieht in ihrer Vereinzelung keine Möglichkeit, sich aufzulehnen oder sich emphatisch mit anderen darüber zu unterhalten, ob es ihnen ähnlich geht oder ob es nur an einem selbst liegt. Diese neue moderne Einsamkeit hat für mich nichts mit Anwesenheit oder Abwesenheit von Menschen zu tun, sondern damit, dass man überfordert ist und sich in sich selbst zurückzieht. So kann man keine geborgenen, intimen Beziehungen zu anderen aufbauen. Wenn ich in den Sozialen Medien 1000 Follower habe, aber keinen einzigen richtigen Freund, oder mich mein Job so einnimmt, dass ich abends keine Kraft mehr habe, mich mit anderen zu treffen und darüber zu sprechen, wie es mir geht, dann leiden Beziehungen, dann werden sie oberflächlich und ein Stück weit sinnentleert. Diese mindere soziale Qualität bei Beziehungen halte ich für den wichtigsten Aspekt der jungen, modernen Einsamkeit.

Dabei bieten uns das Internet und die neuen Kommunikationswege viele Möglichkeiten, um mit anderen in Kontakt zu treten …

Kinnert: Wir müssen darüber sprechen, was gesunde Beziehungen sind. Bedeutet Beziehung, im Digitalen 2000 Freunde zu haben, oder bedeutet es, dass ich vor drei Menschen ehrlich sagen kann, wie es mir geht. Beziehungen machen Ehrlichkeit aus und es bedeutet auch, sich in gewisser Weise nackt vor dem Anderen zu machen. Beziehungen sind heute keine gefühligen Verbindungen mehr, sondern ein Teil von Inszenierung und Ausstellung. Viele Jüngere sammeln sexuelle romantische Beziehungen wie Trophäen und zeigen, wie gutaussehend oder erfolgreich die letzte Eroberung war, um damit den eigenen sozialen Wert zu heben. Angela Merkel wurde vor ein paar Jahren für ihren Satz „Das Internet ist Neuland“ belächelt, aber ich glaube, dass das Internet immer noch Neuland für uns ist. Wir haben unzählige Tools an die Hand bekommen, aber wir verstehen nicht, was wir da wirklich handhaben.

Gerade diese Tools können doch auch der Vereinzelung entgegenwirken?

Kinnert: Es geht darum, wie wir diese Instrumente nutzen. Ein anonymes Internet-Forum, in das man sich begibt, weil man merkt, man ist transsexuell und kann darüber nicht mit seinen Eltern oder Freunden reden, kann ein Mittel gegen Einsamkeit sein. Man ist unter Gleichgesinnten, bekommt Unterstützung und ein Gefühl von Geborgenheit, auch wenn man den anderen nicht kennt. Nutzt man ein Forum aber, um den nächsten Partner für einen Seitensprung zu finden, muss man sich nicht wundern, dass einen die Beziehung zu Hause nicht erfüllt. Wir können uns unser Leben im Internet komplett designen. Wir selbst müssen achtsam sein, wie wir damit umgehen. Wenn ich die Leute stummschalte und blockiere und nur unter meinesgleichen bin, verwundert es nicht, wenn man Konfrontationen nicht mehr aushält und nur nach Bestätigung sucht. Und wenn es auf einer Plattform nicht mehr um Texte, sondern nur um Fotos geht, wird alles immer oberflächlicher, glatter und glänzender.

Sie wollen mit Ihrem Buch das Thema aus der Tabuzone herausholen. Warum befindet es sich immer noch dort?

Kinnert: Einsamkeit ist wahnsinnig schambehaftet. Wenn Menschen von sich sagen, sie fühlen sich einsam, suggeriert das, mit ihnen stimmt etwas nicht. Einsamkeit geht mit dem Gefühl von Minderwertigkeit einher. Wenn ich zugebe, dass ich einsam bin, versage ich im Menschsein, dann bin ich nicht sozial. Wirtschaftlich und politisch wird das nicht thematisiert, weil Einsamkeit als gefühlsbetont angesehen und daher geringgeschätzt wird. Das Problem ist wissenschaftlich nicht klar greifbar. Soziale Isolation können wir beschreiben und seit der Coronapandemie wird darüber vermehrt gesprochen. Aber einsam kann sich auch eine Person fühlen, die ständig unter Leuten ist, oder eine, die es nicht aushält, einen Tag alleine zu sein. Hier gibt es viele fließende Grenzen und Einsamkeit wird oft sentimental aufgeladen. Ich werde zu diesem Thema oft kurz vor Ostern und Weihnachten angefragt. Dabei geht es zum Beispiel um die Obdachlosen, die die Feiertage alleine verbringen. Aber Einsamkeit ist ein Grundphänomen, das sich durch alle gesellschaftlichen Schichten und Altersgruppen zieht. Zudem ist es ein Erbe der Industrialisierung, dass mentale Gesundheit allgemein in Deutschland noch enorm unterschätzt wird. In Skandinavien, Lettland oder auch England, die eine andere Wirtschaftsgeschichte haben, hat Mental Health einen ganz anderen Stellenwert. Viele halten Einsamkeit hierzulande nicht für ein gesellschaftliches Thema. Wenn du einsam bist, ist das dein Privatproblem. Ich begegne vielen Leuten, die sagen, das Thema hat in Politik, Kultur und Gesellschaft nichts verloren, weil es unter die private Verantwortung fällt. Das ist eine falsche Annahme.

Warum sollte sich Politik mit Einsamkeit beschäftigen?

Kinnert: Weil es immer mehr Menschen betrifft. 14 Millionen waren es vor Corona. Rund 60 Prozent der Jugendlichen geben aktuell an, sich einsam zu fühlen. Dazu gibt es eine hohe Dunkelziffer. Einsamkeit hat medizinische Konsequenzen. Sie kann zu Demenz und zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen. Es ist wissenschaftlich belegt, dass das Sterberisiko bei Menschen, die sich einsam fühlen, um 30 Prozent erhöht ist. Das darf keine Regierung der Welt ignorieren. Natürlich hat es am Ende auch etwas mit Geld zu tun, wenn es dadurch mehr Pflegefälle im Alter gibt und so Kosten in Milliardenhöhe entstehen. Einsamkeit ist eine Gesundheitsherausforderung, die kein Staat ignorieren kann.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Vereinsamung führe zu einer politischen Radikalisierung und zum Erodieren der Demokratie. Wie kann Einsamkeit die Demokratie gefährden?

Kinnert: Politik gibt es nur, wenn es ein Gemeinwesen gibt, das sich als solches versteht. In einer Gesellschaft von Egoisten versteht keiner, warum er Steuern zahlen und solidarisch sein soll. Dann zerfällt das Gemeinwesen in Ego-Gesellschaften. Damit ist auch kein Staat zu machen. Solidarität und Zusammenhalt machen die Gesellschaft und die Demokratie aus. Wenn jeder nur auf individualistischen Bahnen unterwegs ist und es keine kollektiven Erfahrungen mehr gibt, etwa weil einem die Lebenssituation des Anderen fremd ist oder man sich gar nicht mehr, zum Beispiel im Supermarkt, begegnet, weil alles nur online bestellt wird, dann interessiere ich mich irgendwann auch nicht mehr dafür, wie es anderen Menschen geht, und kann keine Solidarität mehr empfinden. Das ist nicht der Sinn von Politik. Das Gefühl von Einsamkeit, das soziologisch mit Vereinzelung und Zersplitterung zu tun hat, hat politikwissenschaftliche Konsequenzen, die zu Radikalismus und zur Durchlöcherung der Demokratie führen können.

Braucht Deutschland also auch einen Einsamkeitsminister wie Großbritannien?

Kinnert: Wir brauchen vielleicht kein Ministerium, aber eine institutionalisierte Stelle mit einem Beauftragten, einem Gesicht, das für dieses Thema steht. Es braucht sie vor allem deshalb, weil es im Haushaltsplan auch ein Budget braucht. Es braucht ein gezieltes Vorgehen und das geht nicht ohne Zuständigkeit.

Wie würde eine gute Anti-Einsamkeits-Politik in Deutschland aussehen?

Kinnert: Es braucht eine nationale, eigentlich europaweite, Entstigmatisierungskampagne. Wir müssen viel mehr in die medizinische Forschung investieren und mentale Gesundheit mehr in den Vordergrund rücken. Ich könnte mir auch einen Runden Tisch vorstellen, an dem alle Projekte gesammelt werden, die es schon seit vielen Jahren gibt. Die Gemeindearbeit der Kirchen ist hier schon seit Jahrzehnten aktiv, es gibt die Telefonseelsorge oder Angebote des Deutschen Roten Kreuzes. Diese vielfältigen Initiativen über einen Runden Tisch mit Wohlfahrtsverbänden und anderen Akteuren zu verbinden und zu schauen, was hilft und wo man es verbessern kann, wäre wichtig.

Sie haben die Kirchen angesprochen, für die die Zuwendung zu armen, ausgestoßenen oder kranken Menschen ein Kernaspekt ist. Kommt die Kirche diesem Anspruch genügend nach?

Kinnert: Auch in einer städtischen, modernen, zunehmend individualistischen und liberalisierten Gesellschaft weiß jeder, dass die Kirchen für ihn ansprechbar sind. Das ist ein Markenschatz, den sonst kaum jemand aufweisen kann. Natürlich gibt es viele Menschen, die den Kirchen zunehmend misstrauischer gegenüberstehen. Aber grundsätzlich ist die Arbeit in den Gemeinden immer noch gesellschaftlich tief verwurzelt, gut etabliert und wird von allen Seiten geschätzt. Die Frage ist nur, ob das Antlitz der Kirche eines ist, das für einsame Zielgruppen attraktiv ist. Für gläubige, religiös orientierte Menschen ist es das vermutlich. Ob aber ein moderner Performer, der von Party zu Party hetzt und keine echten Freunde hat, bei der Kirche Rat suchen würde, glaube ich nicht. Die Arbeit der Kirche ist eher auf die alte Einsamkeit gemünzt, auch wenn es in der Seelsorge inzwischen andere Initiativen gibt.

Sie tragen auf ihrem Unterarm ein Tattoo. Können Sie es beschreiben?

Kinnert: Manche glauben, es ist Che Guevara, manche glauben, es ist die Sängerin Cher. Tatsächlich ist es aber Jesus Christus. Ich habe es mir mit 19 oder 20 stechen lassen, weil ich finde, dass Jesus Christus eine unheimlich inspirierende Persönlichkeit ist, und zwar nicht nur der historisch-konkrete, sondern auch der zeitgenössisch-kulturelle Jesus. Und ich habe ihn mir mit diesen Querstrichen malen lassen, sodass man ihn, wenn man näher rangeht, nicht klar erkennt, sondern nur von Weitem. Für mich bedeutet das, dass dich nicht auszeichnet, was du in diesem einen Moment tust – sondern die Summe deines Handelns. Du kannst heute etwas Gutes tun und morgen machst du es wieder kaputt und übermorgen machst du es wieder gut. Du bist jeden Tag in der Verantwortung für dich selbst, um dich selbst zu entfalten. In dieser Entfaltung liegen Moral und Demut. Das Tattoo ist für mich eine Mahnung aus dem Evangelium, wie ich mich zu verhalten habe.

Welche Rolle hat der Glaube in ihrer Jugend gespielt?

Kinnert: Ich hatte in den letzten Jahren kaum Kontakt zu einer Gemeinde, weil ich viel unterwegs war und die Gemeindearbeit darauf nicht ausgelegt ist. Ich habe den Spruch „Gemeinde ist dein Schiff“ lange nicht verstanden. Ich bin zur Erstkommunion gegangen, war Sternsingerin und Messdienerin. Dafür hat mich meine Oma allerdings bestochen, ich wollte lieber Fußball spielen. In meiner Jugend war mir nicht ersichtlich, was mir das bringen sollte. Erst in den letzten Jahren habe ich verstanden, was Gemeinde bedeuten kann. In meinem Umfeld sind viele Menschen verstorben. Bei Trauerfeiern in meiner alten Heimat war es selbstverständlich, dass Gemeindemitglieder auf mich zukamen, mich angesprochen und ein tröstendes Wort gespendet haben. Ich kann sagen, dass ich gläubig bin, aber ich kann nicht beschreiben, wie sich dieser Glauben ausdrückt. Ich habe später Philosophie studiert und bin nie ein naiver Gläubiger gewesen, der glaubt, dass irgendwo der Mann mit Rauschebart sitzt oder ich sittsam das machen muss, was die Zehn Gebote sagen, und dann in den Himmel komme. Ich habe als Kind eine Ethik mit auf den Weg bekommen, an der ich mich orientiert habe, aber ob es diesen Himmel oder Gott gibt, das wusste ich nicht so genau. Im Älterwerden habe ich durch diesen Glauben, der so geheimnisvoll und auch unaussprechlich ist und den man nicht erklären kann, Demut gelernt. Ich habe ein Verständnis davon erlangt, wie besonders ich viele Dinge finde und wie klein eigentlich alles ist. Dieses Demutsgefühl hat auf jeden Fall mit meinem Glauben zu tun.

Wie stehen Sie zur katholischen Kirche?

Kinnert: Ich denke aktuell über den Austritt nach. Nicht nur beim Thema Homosexualität, sondern auch in Bezug auf Pädophilie hat diese Institution mein Vertrauen verloren. Es gibt viele Dinge, wie etwa den Zölibatsgedanken, die früher praktische Gründe hatten, heute aber glorifiziert werden. Zudem machen sich Institutionen wie die Kirche angreifbar, wenn sie bestehende gesellschaftliche Debatten abbrechen wollen. Stattdessen sollte sie für alle Menschen so lange wie möglich ansprechbar sein. Kirche sollte in diesen Debatten nicht noch zusätzlich polarisieren. Natürlich treffe ich oft Menschen in den Gemeinden, die tolle Arbeit leisten und die ich mit einem Austritt nicht bestrafen möchte. Aber auf Basis der kirchlichen Machtstrukturen habe ich Zweifel. Die Kirche braucht verlässliche und transparente Strukturen, damit man ihr vertrauen kann.

Fühlen Sie sich in der Kirche einsam?

Kinnert: Ich fühle mich nicht einsam, sondern schlimmer noch, ich finde nicht statt. Die Osterpredigt im Regensburger Dom handelte von meinem Buch. Fast vierzehn Minuten war das die beste Rezension, die ich jemals bekommen habe. Doch am Schluss hieß es, weil die Welt immer mehr auseinanderbreche, brauche es nur die Einheit von Mann und Frau. Das hätte man anders formulieren können, zum Beispiel „Wir brauchen insgesamt stabile Beziehungen“ – Freunde, nette Arbeitgeber, Menschen, die aufeinander aufpassen. Ich selbst möchte ebenfalls keine willkürlichen Beziehungen, weil sie eben keine Geborgenheit vermitteln. Aber wenn nach so einer guten Analyse eine so platte Konsequenz folgt, fühle ich mich verarscht. Mit Homosexualität finde ich in der Kirche nicht statt. Das Thema wird entweder totgeschwiegen oder man hört eine Duldung heraus – Gott wird sich schon etwas dabei gedacht haben, also ist es in Ordnung, aber sündige jetzt nicht. Es wird nur schamvoll darüber gesprochen. Dabei macht Anti-Einsamkeit aus, dass Dinge ehrlich aussprechbar und besprechbar sind, dass man Konfrontationen aushält. Und wenn ich dazugehöre und die Hostie teilen darf, gleichzeitig aber nicht darüber reden darf, mit wem ich das Wochenende verbracht habe, dann bin ich in meiner Identität nicht angenommen. Dann werde ich nur zu einem Teil als Gegenüber angenommen – das geht für mich nicht.

Sie schreiben in Ihrem Buch, Kontakt und Berührungen seien der „zentrale biochemische Klebstoff“, der den Menschen am Leben erhält. Haben wir verlernt, uns berühren zu lassen, Beziehungen einzugehen, Freundschaften zu pflegen?

Kinnert: Ich glaube nicht, dass der Mensch verlernt hat, Beziehungen zu führen. Aber unsere Bedingungen und Tools, die wir nutzen, haben sich verändert. Wir müssen lernen, damit so umzugehen, dass es uns glücklich macht. Alles immerzu zu nutzen oder alles zu machen, was möglich wäre, ist nicht unbedingt das Beste für den Menschen. Wir brauchen Übung im Umgang. Doch diese Übung gibt es kollektiv nur, wenn wir Dinge auch kulturell besprechen. Es gibt viel Gesprächsbedarf, und die Frage, wie man in dieser modernen Welt Beziehungen vertrauensvoll, gesund und verlässlich pflegt, ist sehr wichtig und muss besprochen werden.

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