So wie es die – mit dem Namen Karl Rahner untrennbar verbunden – „anthropologische Wende“ innerhalb der katholischen Theologie gebraucht habe, brauche es ebenso dringlich eine „soziologische Wende“. Das forderte vor einigen Jahren der Freiburger Theologe, Religions- und Kirchensoziologe Michael N. Ebertz. Ebertz referierte anlässlich eines breit angelegten Kongresses in Bochum im November 2013, gemeinsam organisiert vom Pastoraltheologen Matthias Sellmann und der Katholischen Arbeitsstelle für missionarische Pastoral (KAMP) in Erfurt (vgl. HK, Januar 2013, 29ff.). Der Kongress war zugleich die Geburtsstunde des mittlerweile etablierten „Zentrums für angewandte Pastoralforschung“ (ZAP).
Die ausführliche Berichterstattung über einen solchen Kongress beziehungsweise ein solch innovatives Thema war für die Redaktion der „Herder Korrespondenz“ ein Muss: Zu Beginn des Jahres 2006 war nach einigem Hin und Her die sogenannte Sinus-Milieu-Kirchenstudie „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus 2005“ veröffentlicht worden. Die Deutsche Bischofskonferenz selbst hatte diese beim renommierten Heidelberger Forschungsinstitut Sinus-Sociovision in Auftrag gegeben (und vor der Veröffentlichung Angst vor der eigenen Courage verspürt). Grob vereinfacht ging es in dieser Sinus-Milieu-Studie darum, spezifische Beziehungen und Einstellungen zu Religion und katholischer Kirche zu erkunden und zu beschreiben, so wie sie eben in bestimmten, typisierten gesellschaftlichen Milieus vorherrschten.
Zahlreiche Studien, basierend auf den Ansätzen der sogenannten Lebensweltforschung folgten. Unter anderen schon zwei Jahre später die vom Bund der Katholischen Jugend (BDKJ) und dem Bischöflichen Hilfswerk Misereor in Auftrag gegebene Sinus-Milieu-Studie „U 27“ zu den Lebenswelten katholischer Jugendlicher. Im Frühjahr 2013 erschien ein umfassendes Update des Kirchen-Milieu-Handbuchs von 2006.
Umsonst zu betonen: Die Anwendung von Methoden der auf Marktforschung spezialisierten, empirisch arbeitenden Soziologie auf die Kirche erhitzte die Gemüter und schied die Geister. Für die einen war eine solche soziologisch fundierte praktisch-theologische Gegenwartsanalyse schlicht unverzichtbar, um das eigene pastorale Tun effizienter zu machen. Oder um allererst zu verstehen, warum manche, oft viele Angebote nicht den erhofften Zuspruch finden. Andere sahen wieder nur den Zeitgeist am Werk, war ein solches Maß an soziologischer „Fremdprophetie“ schiere Zumutung. Spötter sprachen von grassierender Sinusitis.
Die Redaktion der „Herder Korrespondenz“ griff diese Diskussion selbstredend in zahlreichen Artikeln auf, stellte die verschiedenen Studien vor, ließ Befürworterinnen und Kritiker zu Wort kommen, bezog selbst etwa auch in Leitartikeln Position. Denn hätte die Zeitschrift mit dem Untertitel „Monatshefte für Gesellschaft und Religion“ in ihrem 75-jährigen Bestehen so etwas wie ein schriftlich fixiertes Redaktionskonzept gehabt, hätte eben auch die geforderte „soziologische Wende“ einen wichtigen Referenzpunkt gebildet: Für die Redaktionen der „Herder Korrespondenz“ stand außer Frage, dass es die Soziologie – „historisch und systematisch ein Kind der Moderne“ (Armin Nassehi) – für die praktisch-theologische Gegenwartsanalyse ebenso braucht wie für die Selbstreflexion beziehungsweise Selbstbeschreibung der Kirche. Genauso braucht es auch die Soziologie für einen theologischen Fachjournalismus, der dem Geist des Zweiten Vatikanums, der Ökumene und dem interreligiösen Dialog ebenso verpflichtet ist wie den Diskursen einer liberalen, offenen und pluralen Gesellschaft. Wer über die Kirche schreibt, schreibt immer auch über Kirche als einer gesellschaftlichen Größe.
Keinesfalls nur als „Hilfswissenschaftler“ kamen so über die Jahre beispielsweise in ausführlichen Interviews viele renommierte Soziologen, auch einige, zu wenige Soziologinnen, zu Wort, um die „religiösen Spuren in säkularer Gesellschaft“ (so der Titel eines der einschlägigen e-Dossiers) zu identifizieren, um unsere religiösen Gegenwartskulturen besser zu verstehen; unter ihnen etwa Heinz Bude, Armin Nassehi, Detlef Pollack, Hartmut Rosa und Gerhard Schulze, und mit Blick über den (deutschen) Tellerrand hinaus beispielsweise die renommierte französischen Religionssoziologin Danièle Hervieu-Léger.
Gerade in Zeiten einer immer weiter zunehmenden Polarisierung der innerkirchlichen Auseinandersetzungen, von zu viel autoritärem Gehabe und ideologiegetriebener Weltverachtung ist der auch soziologisch-gewendete Blick der theologischen Fachzeitschrift „Herder Korrespondenz“ unverzichtbar.