Kirche und Corona – seit anderthalb Jahren kreist die Debatte um zwei Fragen: Hat der Staat bei den Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie das Grundrecht der Religionsfreiheit über Gebühr eingeschränkt? Und haben die Kirchen auf diese Einschränkung angemessen reagiert?
Im Fall der Gottesdienstverbote haben zahlreiche Autoren und auch Gerichte mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz argumentiert. Im April 2020 bezeichnete das Bundesverfassungsgericht solche Verbote als „überaus schwerwiegenden Eingriff in das Recht auf Glaubens- und Bekenntnisfreiheit“ und mahnte hinfort eine „strenge Prüfung der Verhältnismäßigkeit“ solcher Maßnahmen an. Kurze Zeit später waren Gottesdienste dann unter strengen Auflagen wieder möglich. Für Christian Hillgruber bietet der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz allein jedoch zu wenig Grundrechtsschutz. Bei einer großen Gefahr für Leib und Leben vieler Personen sei eben auch die vollständige Suspendierung von Grundrechten „verhältnismäßig“, schreibt der Bonner Professor für Öffentliches Recht in einem vom Staatskirchenrechtler Stefan Mückl herausgegebenen Band über „Religionsfreiheit in Seuchenzeiten“. Hillgruber verweist auf den Art. 19. Abs. 2 des Grundgesetzes: „In keinem Falle darf ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden.“ Die Urheber der Verfassung hätten sich ganz bewusst gegen die Möglichkeit einer Grundsrechtssuspension im Notstand entschieden. Insofern seien Totalverbote nicht verfassungsgemäß. Der Staat hätte „ein Minimum an öffentlicher Religionsausübung“ gewährleisten müssen.Verfassungsrechtlich irrelevant sei dafür die Tatsache, dass die Kirchen von sich aus sämtliche Gottesdienste abgesagt hatten.
In der Tat hatten die Kirchen zum Teil bereits vor den staatlichen Weisungen gehandelt. Als Erstes sagte am 13. März 2020 das Erzbistum München und Freising alle Gottesdienste ab, weitere Bistümer folgten kurz darauf, wie Stefan Mückl in seinem Beitrag schildert. Die Einschränkungen seien „widerspruchslos hingenommen“ und die Frage, ob die Religionsfreiheit „berührt oder gar verletzt sein könnte“, gar nicht erst gestellt worden. „Bemerkenswerte Unterschiede“ habe es aber bei der Kommunikation gegeben. Während einige Bistümer „rein bürokratisch konzipierte Mitteilungen“ abgegeben hätten, sei es andernorts gelungen, „die für Seelsorger wie Gläubige gleichermaßen belastende Situation auch geistlich zu erfassen und dabei weniger das gezwungenermaßen Nicht-Mögliche als bloße administrative ‚Verbote‘ denn als Möglichkeiten einer, wenn auch anders akzentuierten Teilhabe zu formulieren.“ Es sei eben ein Unterschied, ob es heiße: „Öffentliche Gottesdienste sind verboten“, oder: „In jeder Pfarrei findet eine Messe statt, aber ohne Öffentlichkeit“.
Indes sind Einschränkungen und Verbote im Seuchenfall kein Novum, wie der Münchener Historiker Rainald Becker im gleichen Band aufzeigt. Die Pestwellen seit dem Mittelalter hätten den Verstaatlichungsprozess forciert: „Mit jedem epidemischen Krisenfall wuchs die bürokratische Normierung und Verdichtung des obrigkeitlichen Seuchenregimes.“ Die Kirche reagierte bereits in der Frühneuzeit mit großer Kreativität. Becker erwähnt die Austeilung der Kommunion mit langen Löffeln und Zangen, Zugangsbeschränkungen in Kirchenräumen sowie auch die Virtualisierung gottesdienstlicher Abläufe. So verfolgten die Bürger von Florenz 1630 eine Pestprozession von ihren Fenstern aus. Andernorts gab es Freiluftmessen, die die Leute ebenfalls aus ihren Häusern mitfeierten. Carlo Borromeo ließ 1577 während der Pest in Mailand ein Liederbuch drucken und forderte die Gläubigen auf, zu einer festgesetzten Tageszeit die Lieder gemeinsam anzustimmen.
Wie sehr sich in der gegenwärtigen Pandemie die Abläufe unter ganz verschiedenen verfassungsrechtlichen Rahmenbedingungen ähnelten, zeigt ein Sammelband, den der Wiener Liturgiewissenschaftler Hans-Jürgen Feulner und sein Mitarbeiter Elias Halswanter zusammengetragen haben. Experten aus zahlreichen Ländern und unterschiedlichen Konfessionen berichten über die Auswirkungen der Pandemie auf die gottesdienstliche Praxis. Beispiele wie die der georgisch-orthodoxen Kirche, die sich gegen staatliche Einschränkungen stemmte und die Möglichkeit der Infektionsübertragung durch den gemeinsam genutzten Kommunionlöffel aus theologischen Gründen rundheraus leugnete, bilden international eher die Ausnahme. Weltweit scheinen die meisten Kirchen die Einschränkungen akzeptiert zu haben. Bei den Hygienemaßnahmen zeigen sich hingegen interessante kulturelle Unterschiede: Während in byzantinischen und orientalischen Kirchen Küsse und Umarmungen eine bedeutende Rolle in der Liturgie spielen, sind in der katholischen Kirche Japans sowohl der Kuss von Evangeliar und Altar durch den Priester als auch Berührungen des Gegenübers beim Friedensgruß grundsätzlich nicht üblich, sodass man dort die hygienebedingten Eingriffe in die Liturgie als wesentlich weniger einschneidend erlebt haben dürfte. Benjamin Leven