Nervöser Fortschrittseifer

Die Ampel-Parteien eint ein guter Zukunftsoptimismus, doch ihr Veränderungstempo kann auch ausgrenzend wirken.

Ampel
© Pixabay

Wo der Weg der „Ampel“ Deutschland hinführt, ist noch ungewiss. Aber womit die Koalitionäre von SPD, Grünen und FDP gestartet sind, liegt vor. Es sind zwölf Seiten voller Zukunftsoptimismus. Es ist ein Papier, das einen begeisternden Gestaltungswillen offenbart – und Erneuerungswillen angesichts verkrusteter Strukturen in Politik und Verwaltung. Vor allem ist beeindruckend, dass die im Wahlkampf noch heftig streitenden Parteien zumindest dem Wortlaut nach eine Brücke über ideologische Gräben hinweg geschlagen haben.

Doch es gibt einen Preis für diese Koalition, und dieser Preis ist eine ins fast hypernervös gesteigerte Veränderungssehnsucht. „Wir fühlen uns gemeinsam dem Fortschritt verpflichtet“, heißt es. Tatsächlich ist diese einseitige Fokussierung auf den Wandel die unausbalancierte Stoßrichtung der drei Partner. Sie läuft Gefahr, Maß und jede Mitte zu verlieren, wenn jedes Anderswerden immer schon besser ist als das, was war oder ist – oder das, was mit dem Tempo der Veränderung nicht Schritt halten kann. Die „Fortschrittskoalition“ will die „Weichen für ein Jahrzehnt der sozialen, ökologischen, wirtschaftlichen, digitalen und gesellschaftlichen Erneuerung“ stellen. Im Sondierungspapier der Ampel-Parteien steht hier und da deutlich, an anderer Stelle nur vage, was das bedeutet. Es wird sich in diesen Tagen immer klarer herausschälen. Fest steht: Jeder, der auch auf Kontinuität und Bewahren hinweist, wird es schwerer haben gegen die Begeisterung der drei auf Durchstarten getrimmten Wandelapologeten.

Vielleicht ist es da wenig verwunderlich, dass die Kirchen und auch die Religionsgemeinschaften nicht vorkommen. Tatsächlich wird der Zusammenhalt der Gesellschaft propagiert, es scheint aber allein der Zusammenhalt von Individuen zu sein, die Beschreibung einer subsidiär verfassten Gesellschaft fehlt (noch).

Vielfalt sei eine Chance, wird gesagt. Das ist richtig. Und Diskriminierung soll auch abgebaut werden. Gut so! Aber die Formulierung, die „Rechtsordnung“ (!) müsse der gesellschaftlichen Realität angepasst werden, macht doch stutzig. Gesetze müssen vielleicht verändert werden, aber die „Rechtsordnung“? Konkret sollen das „Staatsangehörigkeitsrecht, das Familienrecht, das Abstammungsrecht und Transsexuellengesetz“ ebenso „Regelungen zur Reproduktionsmedizin“ wohl anders, wohl fortschrittlicher, werden. Wem es hilft?!

Der bekannte britische Publizist David Goodhart beschreibt die westlichen Gesellschaften als gespalten in die wenigen „Anywheres“ und die vielen „Somewheres“. Die einen sind die mobilen globalen Eliten, die „Überall-Menschen“, die veränderungsfähig und temposüchtig sich die Welt so einrichten, wie es ihnen gefällt und nutzt. Auf der anderen Seite sind die regional verwurzelten Menschen, die oft weniger gebildet und sozial schwächer sich mit der rasanten Veränderung bisweilen schwerer tun, oft sind aber die „Vor-Ort-Menschen“ die Stützen des Gemeinwesens. Die „Ampel“ muss aufpassen, dass sie diese Normalos nicht überrollt. resing@herder.de

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