Dass die „Herder Korrespondenz“ ihr 75. Jubiläum feiert, ist ein willkommener Anlass, auf die wechselvollen 75 Jahre der katholischen Kirche in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg zurückzuschauen. Ursprünglich sollte die 1946 gegründete „Herder Korrespondenz“ „Orbis catholicus“ heißen. Sie sollte nach der Isolierung Deutschlands durch den Nationalsozialismus die Kirche in Deutschland wieder an die weltkirchliche Öffentlichkeit heranführen. 75 Jahre „Herder Korrespondenz“ sind damit 75 Jahre Geschichte zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und der Weltkirche.
Weltkirche, das ist nicht nur Rom oder gar die römische Kurie; Weltkirche sind heute 1,3 Milliarden katholische Christen in allen Ländern und Kontinenten in den unterschiedlichsten Kulturen der Welt. Das ist ein buntes vielfarbiges Bild. Der Bischof von Rom als Nachfolger des Apostels Petrus ist das Symbol der Einheit und der Wächter dieser weltumfassenden Gemeinschaft des Glaubens, die in einer auseinanderdriftenden Welt schon durch ihre Existenz ein real existierendes Friedensprogramm ist. In den Jahrgängen der „Herder Korrespondenz“ lässt sich die wechselvolle Geschichte der letzten 75 Jahren zwischen der katholischen Kirche in Deutschland und Rom als sichtbares Zentrum ihrer Einheit konkret nachverfolgen.
Deutschland und Rom – das war schon bisher keine einfache Geschichte. Bonifatius, der als Apostel der Deutschen gilt, hat die Kirche in Deutschland eng an Rom gebunden; Italien und Rom waren schon im Mittelalter das Ziel der Sehnsucht der Deutschen. Doch zur gegenseitigen Anziehung kamen schon im Mittelalter Abstoßung und Konflikt, wie der sprichwörtlich gewordene Gang Heinrichs IV. nach Canossa deutlich macht.
Durch Martin Luther und seine geradezu hasserfüllte späte Schrift „Wider das Papsttum zu Rom vom Teufel gestiftet“ (1545) wurde das Verhältnis vergiftet, was auf katholischer Seite nun erst recht Anhänglichkeit an Rom und an das Papsttum hervorrief. Schon im 18. und 19. Jahrhundert und vollends im Kulturkampf wurde aus dem konfessionellen Gegensatz ein vom Liberalismus geprägter, jedem Ultramontanismus abholder, auf nationale Unabhängigkeit und Eigenständigkeit bedachter, oft überheblicher Gegensatz. Für die Nationalsozialisten war römisch-katholisch vollends ein Schimpfwort, dem sie ein genuin deutsches Christentum entgegenstellen wollten.
Das Gründungsjahr der „Herder Korrespondenz“ 1946 war ein neuer Anfang. Deutschland lag damals nicht nur physisch, sondern auch moralisch am Boden. In dieser Situation war es ein international nicht übersehbares und in seiner Bedeutung auch nicht zu unterschätzendes Zeichen moralischer Rehabilitierung, als Papst Pius XII.,der der deutschen Sprache mächtig war, die deutsche Kultur schätzte und wusste, dass man „deutsch“ und „Nazi“ nicht gleichsetzen kann, am 20. Februar 1946 gleich drei deutsche Bischöfe in den Kardinalsrang erhob und in den universal-kirchlichen Senat der Kardinäle aufnahm: Josef Frings (Köln), Clemens August Graf von Galen (Münster) und Konrad Graf von Preysing (Berlin).
Die große Zeit der „Herder Korrespondenz“ war die Zeit des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965), bei dem deutsche Bischöfe wie Frings und Kardinal Julius Döpfner und deutsche Theologen wie Karl Rahner und Joseph Ratzinger eine herausragende Rolle spielten. Das Konzil war ein Medienereignis, das Konzilsgeschehen in Rom war in der deutschen Presse und im Rundfunk allgegenwärtig. Die Berichte der deutschen Korrespondenten in Rom prägten das Bild, das man sich in Deutschland vom Konzil machte. Man denke dabei vor allem an die Berichte des Jesuiten Mario von Galli, aber auch von David Seeber in der „Herder Korrespondenz“. Die Begeisterung, katholisch zu sein, die mich und meine Generation damals prägte und noch heute nachwirkt, kann man heute einer jüngeren Generation kaum mehr vermitteln.
In der konfliktreichen Nachkonzilszeit nahmen die Auseinandersetzungen um die Auslegung des Konzils zwischen der schlagwortartig so bezeichneten konservativen und progressiven Richtung einen breiten Raum ein, sie spitzten sich in Deutschland vor allem in der Causa Hans Küng zu. In der oft emotional aufgeheizten Stimmung war man für die sich um Objektivität, Unterscheidung und Ausgewogenheit bemühende Information und Kommentierung der „Herder Korrespondenz“ dankbar.
In den Sechzigerjahren verlagerte sich das Interesse zunehmend auf Probleme der Kirche in der modernen und postmodernen Welt. Die „Herder Korrespondenz“ wurde eine wichtige Stimme im Gespräch zwischen Kirche und Gesellschaft. Rom konnte lesen, was man in Deutschland denkt und sagt, in Deutschland leider etwas weniger, was in der Weltkirche geschieht, gedacht und gesagt wird, auch, was über uns gesagt wird. Das Pontifikat Benedikt XVI. rückte die deutsche Kirche nochmals in den Mittelpunkt des Interesses, am Ende des Pontifikats aber war das Fremdeln sehr vieler Deutscher mit Rom überdeutlich.
In den letzten Jahren traten im Zusammenhang des Missbrauchsskandals innerkirchliche Probleme in den Vordergrund. Die Aufarbeitung des Missbrauchs wurde verknüpft und geradezu verknotet mit einer innerkirchlichen Reformagenda, die aus den vorangehenden Kirchenvolks-Begehren längst bekannt war und teilweise an die Grundlagen katholischer Identität rührt. Vielen scheint es, Deutschland wolle aus dem orbis catholicus ausscheiden oder diesen nach der eigenen deutschen Façon gestalten. Das Letztere ist freilich das beste Mittel um sich in Italien und in der Welt unbeliebt zu machen. Die katholische Kirche in Deutschland läuft damit Gefahr, in der fälschlichen Annahme, ihre Probleme und Anliegen seien die der Weltkirche, sich in Wirklichkeit nur mit sich selbst zu beschäftigen.
Dass die Spannungen zu einem Schisma im Sinn einer Kirchenspaltung führen, halte ich für ein Gespenst. Für eher wahrscheinlich halte ich die gegebenenfalls viel schlimmere niederländische Variante. Nach dem Scheitern des niederländischen Pastoralkonzils (1966–1970) mit ähnlichen Reformvorstellungen, wie sie jetzt bei uns angestrebt werden, kam es nicht zu einem Schisma, vielmehr sank die Zahl der Katholiken (auch der anderen Kirchen) so sehr, dass die Niederlande heute eines der säkularisiertesten Länder Europas sind. Auch bei uns in Deutschland sammeln sich die, welche aus Enttäuschung die Kirche verlassen, nicht zu einer neuen schismatischen Kirche und nur die wenigsten treten einer anderen Kirche bei. Sie gehen nicht ins Schisma, sondern in ein entchristlichtes konfessionsloses Niemandsland.
Als junger Tübinger Theologe hatte ich manche kritische Vorbehalte gegenüber Rom. Doch als ich in einem Alter, in dem andere schon in Pension sind, nach Rom berufen wurde, hatte ich hinreichend internationale akademische und weltkirchliche Erfahrungen, dass ich sowohl gegen eine engstirnige Deutschtümelei als auch engstirnige ultramontane Romhörigkeit geimpft war. Die neue Romerfahrung bedeutete für mich eine unerwartete Erweiterung der Perspektive und des Horizonts. Weltkirchliche Vielfalt erlebt man in Rom ja nicht nur bei feierlichen Anlässen im Vatikan, sondern jeden Tag auf den Straßen Roms. Bei vielen Reisen habe ich zudem erfahren, was die Gestalt des Papstes in Afrika und im fernen Asien bedeutet, welches Pfund die katholische Kirche damit im Unterschied zu allen anderen östlichen und westlichen Kirchen besitzt und wie kurzsichtig es darum ist, dieses Gut aus der Mitte der Kirche heraus durch fortwährende öffentliche Kritikasterei und Besserwisserei zu beschädigen.
Abgestorbene Äste
Natürlich gibt es in Rom wie überall in der Welt auch engstirnige Geister, insgesamt aber steht Rom für alles andere als für Enge. Die Rom-Idee der Einheit beruht nicht auf einseitiger Machtausübung durch Rom, vielmehr auf der immer wieder neuen schöpferischen Kraft der Integration anderer Kulturen. In Wirklichkeit lebt Rom gar nicht aus eigenen, sondern aus fremden Wurzeln; indem es sich das Fremde anverwandelt, schafft es Raum, in dem andere leben und zusammenleben können. So kann man das großartige Buch von Rémi Brague (der in München den Guardini-Lehrstuhl innehatte) etwas vereinfacht zusammenfassen. Theologisch formuliert: Die Universalkirche lebt in und aus den Ortskirchen, diese aber leben in und aus der Universalkirche. Von ihr getrennt, sind sie wie abgestorbene Äste, nur am Stamm können sie grünen und blühen.
Die aktuellen Spannungen zwischen Rom und der deutschen Kirche belasten mich physisch, und erst recht gemütsmäßig; sie gehen mitten durch mich hindurch. Man möchte vermitteln, aber die Fronten verhärten sich zunehmend, eine Hermeneutik des Misstrauens breitet sich aus, man hört nicht mehr wirklich zu, und man versteht sich dann auch nicht mehr. Ohne Zweifel gibt es römische Fehleinschätzungen der deutschen Situation, aber ebenso kolossale deutsche Fehlurteile über Rom und manche römische Dokumente. Römische Dokumente muss man lesen können, das fängt an mit der Kenntnis der italienischen Sprache und ihrer Eleganz und es geht weiter mit der Kenntnis des in einer langen Tradition gewachsenen literarischen Genus dieser Dokumente. Kurzum, man muss wissen, wie Rom tickt, und die ihm eigene Art verstehen, mit der es viele Jahrhunderte und viele Krisen überleben konnte.
Es fehlt inzwischen an Deutschen, die jahrelang in Rom studiert haben und mit alledem vertraut sind; es fehlt an Deutschen in der Kurie selbst. Dabei geht es nicht nur um die oberste Ebene, auf der es derzeit keinen einzigen Deutschen gibt; ebenso wichtig und oft noch wichtiger ist die mittlere Ebene; sie ist sozusagen der Maschinenraum der Kurie. Man muss begabte Leute für den Dienst in der Kurie freistellen, und dabei nicht nur solche, die man gerne entsorgen will, sondern Leute mit Rückgrat und einer gesunden Mitte.
Das Verhältnis Deutschland – Rom ist eine Baustelle, an der vieles zu tun ist. Die „Herder-Korrespondenz“, die den Deutschen 1946 den orbis catholicus neu erschließen wollte, ist auch in den kommenden Jahrzehnten dringend vonnöten, um das Katholisch-Sein in seiner ganzen Weite kennen und auch lieben zu lernen. Es ist mein Wunsch, dass die „Herder-Korrespondenz“ in den kommenden Jahrzehnten uns Deutschen unseren Ort im orbis catholicus neu zu finden und neu einzunehmen hilft, damit Spannungen, die nun mal zum Leben gehören, für beide Seiten fruchtbar werden können.