Ein Gespräch mit Ministerpräsident Winfried Kretschmann„Wir sind kein laizistischer Staat“

Die Gesellschaft scheint auseinanderzudriften. Wo stehen die Grünen da als neue kleine Volkspartei? Und was sind die entscheidenden religionspolitischen Herausforderungen? Darüber sprachen wir mit dem baden-württembergischen Ministerpräsisidenten Winfried Kretschmann (Die Grünen). Die Fragen stellte Stefan Orth.

Winfried Kretschmann
© Stefan Orth

Herr Ministerpräsident Kretschmann, Ende September wurde der Bundestag neu gewählt. Inwieweit war die Wahl eine gesellschaftspolitische Wende?

Winfried Kretschmann: Bundeskanzlerin Angela Merkel hat nach 16 Jahren im Amt nicht mehr kandiert. Wir werden sie vermissen. Allein deshalb schon ist die Wahl ein gewaltiger Einschnitt. Wir haben darüber hinaus jetzt ganz andere Verhältnisse: geschrumpfte ehemalige Volksparteien und gewachsene kleinere. Wir Grünen als Partei mittlerer Größe haben unser großes Wahlziel, die Kanzlerschaft, nicht erreicht. Wie in anderen Ländern sind im Bundestag viel mehr Parteien vertreten als früher. Man ist schon erstaunt darüber, wie sich die politische Landschaft und auch die Tiefenstruktur der Gesellschaft in einem Jahrzehnt so verändern konnte. Von Hannah Arendt stammt der Satz: Pluralität ist die Grundlage der Politik. Das zeigt sich jetzt auch durch die Ausdifferenzierung der Parteienlandschaft.

Inwiefern haben sich die Grünen angesichts dieses Wandels der Parteienlandschaft in den vergangenen Jahrzehnten selbst verändert? Sind sie zu einer bürgerlichen Partei geworden?

Kretschmann: Ich weiß nicht, ob das nicht völlig überkommene Zuschreibungen sind. Bürgerlich war früher der Gegensatz zu proletarisch. In einer modernen Gesellschaft sind wir alle Bürger. Wir Grünen haben vor diesem Hintergrund eine neue Idee in die Gesellschaft gebracht: Natur als Politik. Die Natur ist die Lebensgrundlage von uns allen. Unser Kernanliegen liegt also jenseits der politischen Lager.

Haben nicht auch die Grünen von der CDU manches übernommen, um sich stärker Richtung Mitte zu orientieren?

Kretschmann: Ja, man hat auch an dieser Wahl gemerkt, dass man nur so regierungsfähig wird. Mit der AfD sind keine Koalitionen denkbar, weil diese Partei aus dem demokratischen Rahmen herausfällt und extremistisch ist. Auch mit der Linken kann man im Bund nicht regieren, weil sie gar keine Außenpolitik machen will.

Was sind denn die wichtigsten Gemeinsamkeiten zwischen den Grünen und der CDU?

Kretschmann: Das Streben nach einer sozialen und ökologischen Marktwirtschaft. Das ist das Ergebnis eines großen Annäherungsprozesses, der da stattgefunden hat. In Baden-Württemberg sind wir deshalb schon so etwas wie eine Volkspartei, was die Bundesgrünen nicht geschafft haben. Das Subsidiaritätsprinzip, das uns die katholische Kirche mit ihrer Soziallehre geschenkt hat – auch wenn sie es bedauerlicherweise nur als Exportartikel betrachtet –, begründet eine kommunale Verankerung und den Respekt vor der Zivilgesellschaft. Die Diktion der CDU ist eher noch Vereine, aber letztlich meinen wir dasselbe. Das sind die großen Verbindungslinien. Die SPD und die FDP sind viel zentralistischer geprägt.

Die Pluralität in der Parteienlandschaft spiegelt nicht zuletzt die Individualisierungstendenzen innerhalb der Gesellschaft …

Kretschmann: Ein schönes Beispiel ist der Wahl-O-Mat. Die Leute sind oft erstaunt, was ihnen der Wahl-O-Mat empfiehlt, denn der Einzelne steht in diesem Punkt der einen, in einem anderen einer anderen Partei nahe. In der Religion haben wir ein ähnliches Phänomen: die Bastelreligion, bei der sich Menschen aus verschiedenen Traditionen etwas heraussuchen und daraus ihre eigene, persönliche Religion wird. Wenn der Papst wüsste, was seine Katholiken so alles glauben, könnte er wahrscheinlich nicht mehr schlafen. Das sind aber allgemeingesellschaftliche Pluralisierungsprozesse, die die Parteien kaum mehr zusammengehalten bekommen.

Wie ist angesichts dieser Entwicklungen das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu verhindern?

Kretschmann: Vom Individualismus zum Egoismus ist es nur ein Schritt. Man muss ersteren deshalb immer auch im Zusammenhang mit dem Gemeinwohl sehen. Wir sind schließlich soziale Wesen. Auch wenn ich meine Interessen vertrete und meine Weltanschauung habe, muss ich den Gemeinsinn pflegen. Bei dieser großen Frage müssen wir uns immer wieder an unserem Landsmann Hegel orientieren. Die Dialektik besteht darin, dass der Individualismus mir Freiheit bringt, aber dann, wenn er ausufert, sie am Ende zerstört. Wie komme ich von der These und der Antithese zur Synthese? Das ist die große Herausforderung, die wir auch beim Klimawandel sehen. Die fossilen Brennstoffe haben uns großen Wohlstand gebracht, aber jetzt wird der gigantische Schaden offenkundig, der sich zunächst nur hinter unserem Rücken angebahnt hat. Wenn ich keine Regeln beachte, gilt am Ende das Recht des Stärkeren. Dann ist es mit der Freiheit einfach vorbei, das zeigen alle Diktaturen. Allerdings vergessen wir manchmal, wie Freiheit schmeckt.

Mit welchem Ergebnis?

Kretschmann: Dass man sich über vieles ärgert, wie jetzt beispielsweise über die Corona-Regeln, und schwuppdiwupp werden dann autoritäre oder populistische Machthaber gewählt – man denke nur an den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Das Christentum hat mit der Nächstenliebe als Handlungsmaxime unserer Zivilisation einen wichtigen Impuls gegeben, der das gesellschaftliche Auseinanderdriften verhindert. Jesus sagt sogar, dass es das Hauptgebot sei, Gott und den Nächsten wie sich selbst zu lieben, sogar die Feinde. Mit der Feindesliebe tun wir uns deswegen besonders schwer, weil wir mit Liebe immer Gefühle verbinden. Dabei geht es aber nicht nur um Gefühle, sondern darum, auch den Feind ordentlich zu behandeln – was in unserer Rechtsordnung auch passiert. Wir quälen unseren Feind nicht, selbst wenn er ins Gefängnis kommt, wird er dort ordentlich behandelt. Diese großen Gedanken finden sich in unserer Verfassungsordnung wieder.

Aber ist die von Ihnen ausgerufene Politik des Gehörtwerdens in der Corona-Krise nicht viel schwieriger als gedacht?

Kretschmann: Jetzt sollten wir eine Pandemie nicht zum Maßstab der Dinge machen. Es handelt sich um ein fieses, gemeines und gefährliches Virus. Es ist unpolitisch und steckt einfach nur an. Alle Einschränkungen sind temporär, weil wir heute in der Lage sind, durch moderne Impfstoffe eine solche Pandemie in die Knie zu zwingen – und dann kehrt die Freiheit wieder zurück. Das gefährdet die Demokratie nicht. Man konnte in dieser Zeit bei keinem meiner Kollegen oder bei der Kanzlerin feststellen, dass wir Vergnügen am Durchregieren mit strikten Maßnahmen und starren Regeln hatten. Ich sage immer: Nicht ich bin der Bösewicht, sondern das Virus.

Aber der Populismus, das schnelle, laute Urteil, das eine Diskussion verunmöglicht, ist auch schon vor der Corona-Pandemie ein größeres Problem als vor zehn Jahren gewesen.

Kretschmann: Dazu kommt es natürlich durch das Internet und die sogenannten sozialen Netzwerke. Immerhin gibt es dort auch Schwarmintelligenz, aber letztlich auch genauso gut Schwarmdummheit – und dann wird es gefährlich. Das ist nichts Neues, aber der Verstärkereffekt ist viel größer als früher. Auch am Stammtisch wurde viel Zeug geredet, aber das waren dann nur sechs Leute. Heute wird jeder selbst Akteur der Meinungsmache. Dazu kommen dann gezielte gefährliche Fake News, wie im Wahlkampf geschehen. Über unsere Kandidatin wurde in die Welt gesetzt, sie wolle Haustiere verbieten und die Witwenrente abschaffen. Solche Nachrichten oder gar üble pornografische Darstellungen erreichen schnell ein Millionenpublikum, das verunsichert wird. So etwas bekommt man so schnell nicht wieder richtiggestellt. Und wenn nur Spezialisten unterscheiden können, ob ein Foto echt oder gefälscht ist, kommen wir in erhebliche Beurteilungsprobleme. Etwas gerät aus den Fugen, so dass wir Regeln zur Stärkung der Demokratie brauchen.

Was sind denn aus Ihrer Sicht angesichts dieser Ausgangslage die wichtigsten religionspolitischen Hausaufgaben?

Kretschmann: Das ist nicht so einfach zu beantworten. Einerseits sehen wir einen gewaltigen Aderlass der großen Kirchen. Diese Austrittswellen beunruhigen mich als Christ sehr. Auf der anderen Seite pluralisiert sich auch hier das ganze Feld. Das zusammenzuhalten ist sehr schwierig. Durch Einwanderung ist auf Seiten des Islam eine starke Kraft gewachsen, die allerdings nicht wirklich integriert ist. Dazu kommt, dass sich der Islam weltweit in einer schweren Krise befindet, weil er stark in Richtung Fundamentalismus und Gewalt ausfranst – vor allem in seinen Kerngebieten. Und schließlich gibt es die Pest des Antisemitismus, den wir nicht ausgerottet bekommen. Selbst im baden-württembergischen Landtag hatte ein Abgeordneter in der vergangenen Legislatur die sogenannten Protokolle der Weisen von Zion wieder hervorgekramt, obwohl sie schon häufig widerlegt wurden. Wir wissen allerdings aus arabischen Ländern, dass auch dort sehr viele glauben, dass sie echt sind. Zum alten Antisemitismus, der zu einem Zivilisationsbruch und zur Ermordung von Millionen Menschen geführt hat, kommt jetzt noch ein importierter Antisemitismus dazu. Das ist eine sehr komplexe Gemengelage, die uns sehr beschäftigt.

Worin sehen Sie die entscheidende Herausforderung?

Kretschmann: Es ist schlimm, wenn in Deutschland Morde und Anschläge auf Juden stattfinden – vom täglichen Antisemitismus mit seinen Attacken einmal ganz abgesehen. Das belastet uns als Demokraten sehr, sehr schwer. Andererseits will ich betonen, dass wir alles, was wir können, für die Sicherheit der Juden tun und immer auch daran arbeiten, jüdisches Leben sichtbar zu machen. Hans Küng hat prägnant gesagt: Kein Frieden auf der Welt ohne den Frieden der Religionen. Wir sind alle geprägt von der Ringparabel in Lessings Nathan der Weise. Das zeigt unsere Urliberalität in Religionsfragen. Deshalb bin ich optimistisch, dass wir das auf Dauer auch einigermaßen hinbekommen.

Welcher Antisemitismus beunruhigt Sie dabei mehr, der herkömmliche oder der importierte?

Kretschmann: Im politischen Handeln macht es nicht viel Sinn, hier zu unterscheiden, denn wir stellen uns ihm entschlossen entgegen, woher er auch kommt. Verschwörungserzählungen nehmen insgesamt zu. Die Corona-Pandemie hat erneut bewiesen, dass der Antisemitismus der Urquell der Verschwörungsmythen ist – und ich bin entsetzt, wer alles von solchen irrationalen Ansichten angesteckt wird.

Was können Aktivitäten wie das aktuell laufende Festjahr zu 1700 jüdisches Leben in Deutschland vor diesem Hintergrund leisten? Inwieweit bleiben sie nicht auf viel zu kleine Kreise beschränkt?

Kretschmann: Klar, das ist ein Problem: Bei vielem gut Gemeinten, was wir machen, machen wir doch die Katholischen einfach nur noch katholischer, wie man so sagt. Wenn unser Antisemitismusbeauftragter Veranstaltungen macht, kommen die Kämpfer gegen den Antisemitismus. Die Frage ist, wie wir die anderen erreichen können. So ein Jubiläum kann hier natürlich manches erreichen, ist aber leider durch die Pandemie nicht richtig zur Entfaltung gekommen. Wir müssen vor allem überlegen, wie wir die Jugend erreichen, zum Beispiel durch die Dokumentation „Jung und jüdisch in Baden-Württemberg“, ein Beitrag zum Festjahr, der vor allem Schülern junges jüdisches Leben bei uns im Land näherbringt. Als frischgebackener Ministerpräsident durfte ich 2011 den siebenarmigen Chanukka-Leuchter auf dem Stuttgarter Schlossplatz mit anzünden. Jüdisches Leben wieder sichtbar zu machen an diesem markanten Platz der Stadt, das hat mich schon sehr berührt.

Beim Islam ist weiterhin das Problem der Ansprechpartner virulent. Durch die jüngeren Entwicklungen beim Dachverband DITIB in der Folge des Putschversuchs in der Türkei ist es nicht kleiner geworden. Wie groß sind die Aporien für die deutsche Politik angesichts der Musliminnen und Muslime in diesem Land?

Kretschmann: Man muss erst einmal ganz einfach feststellen, dass es auch bei uns viele Jahrhunderte gebraucht hatte, bis die Trennung von Staat und Kirche Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung geworden ist. Seit dem Investiturstreit zwischen König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. hat es noch bis zur Weimarer Republik gedauert, bis diese Trennung zu unserer gelebten Verfassung gehörte. Noch kurz zuvor konnte Wilhelm II. schreiben: Wir, Kaiser von Gottes Gnaden. Einzusehen, dass die Ordnung der politischen Angelegenheiten Menschenwerk ist und nicht von Gott gemacht wird, war ein epochaler Fortschritt. Das bedeutet, dass wir selbst für diese Angelegenheiten verantwortlich sind und uns nicht hinter dem lieben Gott verstecken können. Im Islam gibt es dieses Denken überhaupt nicht – und das ist eines seiner großen Probleme.

An welche gegenläufigen Traditionsstränge denken Sie beim Christentum?

Kretschmann: Bei uns gab es immerhin schon Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre, und bereits im Neuen Testament antwortet Jesus auf die Pharisäer, die ihn in dieser Frage vorführen wollten: Man solle dem Kaiser geben, was des Kaisers ist, und Gott was Gottes ist. Auch wenn dies seit der Konstantinischen Wende und im Mittelalter durch die Verschmelzung von Thron und Altar eingeebnet wurde, ließ sich später daran anknüpfen. Glaubens- und Religionsfreiheit existiert nicht ohne die Trennung von Staat und Kirche. Die Maxime „cuius regio eius religio“ gilt nicht mehr, es ist zur freien Entscheidung geworden, welcher Religion ich angehöre. Das ist der tiefe Grund für das Erodieren traditioneller Volkskirchen. Das ist insofern kein Problem, als die Volkskirche ja nicht der Normalzustand der Religion ist, jedenfalls nicht der christlichen. Die Religionsverfassung für die Bundesrepublik Deutschland ist nicht speziell für das Christentum gestrickt. Jede Weltanschauungsfreiheit ist damit gewährleistet. Das Problem besteht darin, dass unser Staatsverfassungsrecht Institutionen voraussetzt. Wir brauchen einen Ansprechpartner. Das fehlt beim Islam und deshalb ist das ein schwieriger Prozess.

Die realen politischen Probleme liegen auf der Hand. Einerseits gibt es etwa in Tübingen ein Zentrum für Islamische Theologie an der Universität, aber es bleibt ein Problem, wo die Absolventen arbeiten können. Umgekehrt stellt sich die Frage, wo die Imame der Moscheegemeinden herkommen. Was könnten und müssen da die nächsten Schritte sein?

Kretschmann: Wir machen Fortschritte, indem wir die Vorstufen von Islamischen Fakultäten haben. Darüber hinaus haben wir eine Stiftung gegründet, um mit diesem Behelfsmodell Islamischen Religionsunterricht organisieren zu können. Das ist verfassungsrechtlich in einer Grauzone. Jetzt bitte ich einfach alle um Geduld, damit das gut weitergeht. Denn die Betroffenen, Schüler wie Eltern, sind mit dem islamischen Religionsunterricht, wie er unterrichtet wird, durchaus zufrieden. Die meisten Muslime bei uns sind türkischstämmig. Durch den türkischen Staatspräsidenten Erdogan und seine Entwicklung hat es tatsächlich schwere Verwerfungen gegeben, weil wie schon bei Kemal Atatürk jetzt auch hier die Religion instrumentalisiert wird, wenn auch mit anderer Akzentsetzung. Atatürk wollte einen Laizismus; hier geht es jetzt um einen Gottesstaat, von dem die Türkei Gott sei Dank noch weit entfernt ist. Der Verband DITIB hängt am Tropf der Türkei und muss sich davon emanzipieren – und zwar klar. Das ist bisher nicht der Fall, wir können immerhin feststellen, dass damit begonnen wurde. Auch der Islam muss sich aus meiner Sicht an manchen Stellen reformieren. Ich denke oft an einen Vers im Buch Maleachi, der so schön in Händels Messias vorkommt: Ich werde die Söhne Levis, also die Priester, reinigen. Die Religion muss sich immer wieder reinigen, wenn sie sich von Gott und ihren echten Grundlagen entfernt. Darum geht es. Deswegen ist auch die Kirche „semper reformanda“, und deshalb steht auch dem Islam noch viel bevor.

Werden denn in einer Koalition von SPD, den Grünen und der FDP die Bedingungen für christliches Leben in Deutschland erhalten bleiben? Manche befürchten in einer Koalition ohne die CDU das Gegenteil.

Kretschmann: Das sehe ich überhaupt nicht. Wir haben eine Trennung von Staat und Kirche, beide agieren aber kooperativ, wir sind ein säkularer Staat, aber kein laizistischer Staat.

Aber in allen Parteien, die in einer Ampel-Koalition zusammenwirken wollen, gibt es jeweils laizistische Strömungen.

Kretschmann: Die Gesellschaft entwickelt sich weiter und die Kirchen verlieren an prägender Kraft, das kann Änderungen herbeiführen, zum Beispiel beim Schutz des Sonntags – der allerdings hat Verfassungsrang. Im Übrigen glaube ich nicht, dass beispielsweise die Kirchen in Baden-Württemberg mit meiner Amtsführung unzufrieden sind. Das wäre mir ganz neu.

Die Frage ist ja, wie das bei einer rot-grün-gelben Bundesregierung aussieht.

Kretschmann: Mit den Kirchen sind wir heute in ganz wichtigen Fragen einig: beim Klimaschutz, bei der Einwanderungspolitik, der Frage nach Pluralität und dem Umgang mit Minderheiten und Schwachen. Da sind wir jeweils Verbündete. Natürlich gibt es Laizisten, die sich über die Kirchensteuer aufregen, die sie selbst gar nicht bezahlen müssen. Manche echauffieren sich und wissen in der Regel gar nicht, dass die Kirchensteuer in Wirklichkeit keine Steuer ist, sondern nur so heißt. Der Staat zieht sie halt ein. Dafür müssen die Kirchen nicht wenig bezahlen, damit er es tut. Das ist eine Dienstleistung des Staates – und die wird auch bleiben. Wir haben aber wirklich andere Probleme, als uns an solchen Fragen abzuarbeiten. Das werden wir nicht machen. Außerdem sind dafür die Länder zuständig (lacht).

Die Kirchen selbst stehen allerdings so unter Druck, dass sie als gesellschaftliche Größe zunehmend auszufallen drohen. Was fehlt, wenn die Kirchen schwächer werden?

Kretschmann: Was ist kirchliches Leben? An den altkirchlichen Lebensweisen Leiturgia, Martyria und Diakonia kann man das schön sehen. Die Diakonia ist in unserer Gesellschaft fest verankert. Die Idee der Nächstenliebe oder der Solidarität ist Bestandteil unserer verfassungsmäßigen Ordnung geworden. Das heißt, wir sind so christlich wie noch nie. Das darf man nicht verkennen. Man sollte nicht immer beleidigt sein, weil vieles auch im säkularen Gewand daherkommt, sondern sich vielmehr darüber freuen. Wir machen in allen diesen Fragen nichts ohne den Rat der Kirchen. Diakonie und Caritas sind die wichtigsten Sozialinstitutionen, die wir haben. Das Bekenntnis, also die Martyria, ist verfassungsmäßig geschützt. Es ist sehr wichtig, dass Christen den Glauben nicht verstecken. Paulus hat gefordert, dass wir jederzeit Rechenschaft ablegen können von unserer Hoffnung. Aber auch die Liturgie und Gottesverehrung, die Transzendenz, spielen bei uns eine große Rolle. Das kann gut an religiös-unmusikalischen Menschen wie dem Philosophen Jürgen Habermas sehen, der mit großer Leidenschaft geradezu beschwört, dass ohne diese Dimension der Gesellschaft etwas Entscheidendes verloren geht.

Was ist da aus Ihrer Sicht der entscheidende Punkt?

Kretschmann: Wenn wir uns nicht immer wieder klarmachen, dass wir nicht ewig leben, sondern sterblich sind und in diesem Sinne unser Leben transzendieren, kann es keine Hoffnung geben. Dann landen wir bei einem Existenzialismus der Indifferenz und stehen nur einem kalten, irrationalen Universum gegenüber. Jetzt glauben die meisten Leute sicher nicht an ein ewiges Leben. Man kann sich aber überhaupt nicht vorstellen, was es bedeuten würde, wenn dieser Glaube als solcher verschwindet – bis hin zu unserer Sprache und unserer Kultur. Im Grundgesetz steht, dass der Sonntag als Tag der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung geschützt ist. Ohne Sonntage gibt es nur Werktage, lautete einmal ein schöner Slogan der evangelischen Kirche. Wenn man die Wurzeln zu all dem kappen wollte und die Hochfeste nur noch aus Osterhasen und Tannenbäumen mit Lichtern bestünden, würde etwas Zentrales aus unserer Kultur und auch der Tiefenarchitektur unserer Gesellschaft verschwinden. Wir sehen sogar, wie Religionen bis ins Gegenteil pervertiert werden können. Gnade uns Gott, dass das nicht passiert – aber da habe ich bei uns eigentlich auch keine Ängste.

Marginalisieren sich die Kirchen als institutionelle Träger dieses Glaubens nicht selbst?

Kretschmann: Davon sind wir noch weit entfernt. Bitte kein übertriebener Pessimismus. Selbst in den gottfernsten Gegenden der Welt, etwa in Ostdeutschland oder in Tschechien, gibt es Christen. Auch 25 Prozent sind immerhin 25 Prozent, und die Christen sind immer noch die größte zivilgesellschaftliche Kraft. Die SED hatte mit vielem gerechnet, aber nicht damit, dass Leute mit Kerzen aus Kirchen kommen und den Unrechtsstaat in die Knie zwingen. Nur weil derzeit ein dramatischer Schrumpfungsprozess stattfindet, müssen wir nicht gleich in einen totalen Pessimismus verfallen. Problematisch ist auch, wenn ausgerechnet sehr konservative Katholiken glauben, es sei ganz gut, wenn wir eine kleine, reine Herde werden, die den alten Glauben und die alten Riten bewahrt – und dann im Promillebereich die tridentinische Messe besuchen. Wenn wir uns damit zufriedengeben, marginalisieren wir uns, sind eben nicht mehr Weltkirche und auch nicht mehr ökumenisch. Wir sind aber nicht für uns da, sondern sollten für die Welt da sein, im Sinn von für alle und für den ganzen Erdkreis!

Können Sie Beispiele nennen?

Kretschmann: Beim Sonntagsschutz etwa wäre es ein Missverständnis, dass nur der Kult geschützt wird, so dass auch bei verkaufsoffenen Sonntagen diese erst am Mittag beginnen. Der eigentliche Sinn des Sonntags ist ein anderer. Er ist ein Geschenk der Gläubigen an die ganze Gesellschaft, dass alle zur Ruhe kommen können. So steht es schon in der Schrift: Auch der Esel und die Magd, auch der Fremde sollen ruhen. Das ist die entscheidende Dimension von Transzendenz: dass nicht immer alles verfügbar ist. Darum darf die Gesellschaft, dürfen auch die Atheisten dankbar sein, dass es gläubige Menschen gibt, die die Vorstellung des Unverfügbaren wachhalten – als etwas Unbedingtes. Ich bin ja Katholik und gelernter Biologe. Ich will gerade als Grüner noch einmal sagen: Natürlich glaube ich nicht in einem naiven Sinn daran, dass Gott die Welt erschaffen hat ...

Was ist aus Ihrer Sicht der Kern des Schöpfungsglaubens?

Kretschmann: Dass Gott die Welt erschaffen hat, meint zweierlei: Zum einen, dass etwas da ist und nicht nichts. Das ist fundamental. Zum anderen ist die Welt geheiligt, sie ist in diesem Sinne sakramental. Wir haben nicht das Recht, über sie zu verfügen, weil wir sie nicht gemacht haben. Das ist gerade in der ökologischen Krise eine wichtige Einsicht. Wir dürfen die Welt nicht zerstören, indem wir den Planeten unwirtlich machen. Die Welt ist geheiligt, weil Gott sie geschaffen hat: Durch eine solche Überzeugung entsteht sofort eine andere Haltung. Katholik sein heißt, ein sakramentales Verständnis der Welt zu haben.

Im Gegensatz zu den Protestanten?

Kretschmann: Das Sakramentale ist aus meinem Empfinden dort nicht der Mittelpunkt. Deshalb könnte ich nie konvertieren, obwohl ich mich freue, dass wir als Katholiken sehr viel evangelischer geworden sind. Das sollten wir auch durchaus ein Stück weitertreiben, etwa damit Frauen auch Weiheämter innehaben können.

Was erwarten Sie sich vom Synodalen Weg der katholischen Kirche in Deutschland? Erwarten Sie überhaupt etwas?

Kretschmann: (Pause) Ich äußere mich nicht gerne dazu. Vielleicht einmal so viel. Es wäre schön, wenn Rom erst einmal zu den Beschlüssen der Würzburger Synode von vor 50 Jahren Stellung bezieht. Ich befürchte, dass das beim Synodalen Weg wieder so laufen wird. Das wird allerdings kaum gelingen, weil wir eine andere Situation haben. Ich habe aus diesen Gründen nicht mehr für das Zentralkomitee der deutschen Katholiken kandidiert und sage: Ich bin für diese Kämpfe einfach zu alt, ganz platt gesagt. Ich habe in diesen Fragen so viel gekämpft und bin müde geworden. Das müssen Jüngere machen. Es gibt ein schönes Revolutionslied aus dem Bauernkrieg: Unsere Enkel fechten’s besser aus. Ich mache es nicht mehr. Ich beschäftige mich mehr mit der Gottesfrage, die letztlich viel wichtiger ist. Der größte Teil der Menschen verlässt die Kirche, weil sie den Glauben verloren haben. Vieles, was uns an der katholischen Kirche nicht gefällt, haben die Evangelischen und es geht ihnen auch nicht besser. Und trotzdem hoffe ich auf die Ökumene.

Worin liegen die Chancen der Ökumene?

Kretschmann: Wenn es zur Einheit in versöhnter Verschiedenheit kommt, besteht die Chance, dass aus den drei großen Strömungen der Orthodoxie, des Protestantismus und der katholischen Kirche wirklich etwas entsteht, was neudeutsch Synergie heißt: dass es zusammen mehr ist, als jede einzelne Kirche einbringt. Das ist der Fall, wenn drei Sachen zusammenkommen: die Freiheit des Christenmenschen im Protestantismus, der Glaube als Mysterium, wie im Kult der Orthodoxen, und die Idee des Universalen bei den Katholiken. Wenn sich das gegenseitig befruchtet, könnte daraus eine neue Kraft erwachsen und ein neues Gesicht des Christentums entstehen. Das ist meine Hoffnung. Insofern ist die Ökumene entscheidend. Mit Blick darauf ist das Land in einer guten Verfassung, und ich als Ministerpräsident bin froh, dass die Bischöfe und Landesbischöfe immer gemeinsam zu mir kommen, um die Probleme zwischen Staat und Kirche gemeinschaftlich zu erörtern. Die Kirchen sorgen ganz entscheidend mit für eine gute soziale Temperatur in diesem Land. Niemand wird diese gesellschaftliche Kraft missen wollen, auch wenn er selbst nicht gläubig ist.

Wie bewerten Sie vor diesem Hintergrund das Pontifikat von Papst Franziskus?

Kretschmann: Durchaus zwiespältig. Man merkt ihm immer förmlich an, dass ihm am Reformfluss liegt. Gleichzeitig hat er zu Recht auch immer Angst, dass ihm die Kirche um die Ohren fliegt, denn er ist zuständig dafür, dass das nicht passiert. Innerhalb dieser Ambivalenz bewegt er sich – und das ist wahrscheinlich gut so. Und deshalb sind wir alle zufrieden und unzufrieden zugleich.

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