Das Konservativste an der Rede von Friedrich Merz bei dem zurückliegenden Parteitag der CDU war das Wort „wertkonservativ“, das er quasi als Platzhalter für Themen und Positionen benutzte, die er nicht weiter ausführte, aber doch zumindest als Assoziationsraum für seine Anhänger abrufen wollte. Noch vor zwanzig Jahren hätte das „strukturkonservativ“ geheißen, etwa dass die Ehe nur Mann und Frau vorbehalten sein soll oder Wehrpflicht aus Prinzip beizubehalten sei. Das will selbst Merz so nicht mehr laut sagen. Und so dominierte auch bei ihm das Modernisierungs- und Zukunftsnarrativ, welches die Parteitagsregie in dem Hashtag „wegenmorgen“ bündelte.
Vollends verblüffend aber war, dass die Rede von Merz, aber auch die Statements der Mitbewerber Armin Laschet und Norbert Röttgen fast gänzlich ohne die Flüchtlingsthematik auskamen. Und das fünf Jahre nach dem Höhepunkt der Krise, die bisher für weitaus schmerzlichere Disruptionen in der parteipolitischen Ordnung gesorgt hat, als etwa die Corona-Krise, die mit Recht als die schwerste globale Krise seit dem Zweiten Weltkrieg angesehen wird – und natürlich allgegenwärtig war. Die Flüchtlingskrise ist aber – Corona hin, Klima her – der bleibende Wendepunkt in der Kanzlerschaft von Angela Merkel und mehr noch in der politischen Geschichte Deutschlands der letzten 25 Jahre. Ohne die Hartz-Reformen von Gerhard Schröder gäbe es die Links-Partei in dieser Form nicht und ohne die Flüchtlingspolitik keine AfD diesen Zuschnitts. Corona hat das vergessen gemacht, doch es bleibt der Dreh- und Angelpunkt. Die Flüchtlingspolitik war der weiße Elefant im digitalen Plenarsaal des CDU-Parteitags.
Nur vor diesem Hintergrund und den Zerwürfnissen der Jahre 2015 und folgenden ist verständlich, dass nun von einer Richtungsentscheidung gesprochen wird. Nur vor dieser Folie erscheint Merz als Gegenpol zu Laschet, der er aber gar nicht ist.
Merz ist ein großer Irrtum, Merz ist die Projektionsfläche all derjenigen, die mit Merkels Politik unzufrieden sind. Es ist im Übrigen vollkommen legitim und normal, dass nach 16 Jahren Regierungszeit sich manche Verärgerung und und mancher Frust aufgestaut hat. Nur wäre Merz das völlig falsche Gegengift gewesen. Von dem, was vermeintlich fehlt, einem „Konservativismus“, ist bei ihm im Eifer des Gefechts, in dem es eben doch vor allem um seine persönliche Rückkehr auf die politische Bühne ging, das meiste verschwunden. Ansonsten spielt er, nachzulesen in seinem Buch (Neue Zeit. Neue Verantwortung, Berlin 2020), die gleiche Fortschritts-, Technologie- und Wachstums-Melodie, die sich etwas abgemildert sogar bei den Grünen findet. Sie ist eben, um es mit Angela Merkel zu sagen, „alternativlos“, weil sie in der Mitte der Gesellschaft sehr konsensfähig ist und deswegen Mehrheiten garantiert.
Wenn die Wahl von Laschet zum neuen Parteivorsitzenden der CDU also in Wahrheit keine „Richtungsentscheidung“ zugunsten des liberalen Modernisierers gegen den Konservativen war, was war sie dann? Es war umgekehrt: die Entscheidung für den Konservativen Laschet gegen den Modernisierer des politischen Diskurses Merz. Natürlich ist Merz kein Donald Trump, auch kein Sauerland-Trump. Aber er, der eigentlich die alte CDU verkörpern wollte, hat den CDU-Stallgeruch längst verloren. Es ist der Stallgeruch einer Machtpartei, die Kampfabstimmungen eigentlich gerne vermeidet, die um Konsens streitet und ringt und doch am Ende die Ambivalenz politischer Arbeit mehr schätzt als markige Sprüche.
Nie hatte die CDU Vorsitzende im Stil eines Merz, immer waren es die eher Unterschätzten, die wenig Charaismatischen und die, die die Zuspitzung mieden, welche die CDU führten und auch als Kanzler das Land regierten. Für Helmut Kohl und Angela Merkel gilt das größtenteils und für Konrad Adenauer auch. Laschet ist der CDU-Vorsitzende, der am besten in die Reihe passt, kein Aufbruch, aber möglicherweise eine Fortsetzung der Erfolgslinie der CDU .
Nun gibt es eine Unschärfe in dieser Analyse: dass nämlich Merz viele Unterstützer hat – und dass er diese durch seine Polarisierung gebunden hat und nun frustriert und heimatlos zurücklässt. Tatsächlich wäre es völlig falsch anzunehmen, dass die Wahl von Laschet nun schon die inneren Probleme der CDU gelöst hätte. Tatsächlich gilt das Gleiche, was Merkel nach der Ära von Kohl geschrieben hat, auch jetzt wieder, die Partei müsse „erwachsen“ werden, sich vom Übervater emanzipieren. Ob es Laschet gelingt, der CDU einen neuen Drive zu geben, ist sicher noch offen, ohne Jens Spahn wird er es gewiss nicht schaffen.
Was ist dran an dem konservativen Repräsentationsdefizit, das der Politologe Werner J. Patzelt der CDU immer wieder bescheinigt hat? Es gibt ein berühmtes Zitat von Angela Merkel, das vielfach gegen sie ins Feld geführt wurde. „Mal bin ich liberal, mal bin ich konservativ, und mal bin ich christlich-sozial“, erklärte sie 2009 bei Anne Will. Sie spielt auf die sogenannten drei Wurzeln der Partei an. Es ist ein typisches Merkel-Zitat in seiner Mischung aus unbeholfen und aphoristisch. Vielleicht liegt hier tatsächlich ein Defizit der Ära Merkel, dass sie es in ihrer Personalpolitik nicht geschafft hat, herausragende Repräsentanten der Strömungen sichtbar werden zu lassen. Alles musste irgendwie im Merkel-Style funktionieren, Merkel-like sein. Und anders als bei Kohl ist das Feld der Symbolpolitik nicht das ihre, sie streichelt nicht die Seele der Partei, sucht keine Bilder, die den CDU-Kern symbolisch gegenüber dem Mitbewerber abgrenzend zeigen. Hier kann Laschet sich von Merkel absetzen, seine emotionale Rede auf dem Parteitag mit der Bergmannsmarke seines Vaters in der Hand war da ein erstes Signal.
Armin Laschet hat einmal gesagt, nicht das „Konservative“ sei der Markenkern der CDU, sondern das „C“, das Christliche. Dabei gilt, dass das Christliche nun mehr noch als das Konservative seit Gründung der Partei „ein dehnbarer Begriff“ ist, wie der Historiker Frank Bösch einmal formuliert hat. Wie Lichtjahre entfernt wirkt der Konflikt etwa von 2009, als einige kirchliche Vertreter Merkel vorwarfen, in der Willamson-Affäre Papst Benedikt XVI. zu scharf kritisiert zu haben. Zu Beginn der Regierungszeit Merkels wurde die Familienpolitik von Ursula von der Leyen massiv angegriffen, etwa von Bischof Walter Mixa. Damals musste der engagierte Katholik Hermann Kues als Staatssekretär in katholischen Verbänden für Ganztagsbetreuung und Elterngeld werben. Kardinal Joachim Meisner hat 2002 der CDU das „C“ schon allein deswegen aberkennen wollen, weil CSU-Parteivorsitzender und Kanzlerkandidat Edmund Stoiber (!) eine Frau in sein Schattenkabinett berufen hatte, die unverheiratet und schwanger war.
Was als konserativ anzusehen ist, ist keineswegs statisch, immer klar greifbar und exklusiv. Dieser Aushandlungsprozess um Wandel und Stabilität gehört zur DNA der CDU. Es braucht dafür das Personal und eine gewisse Bandbreite an Einstellungen. Das ist in der Ära Merkel vernachlässtigt worden. Laschet weiß das. Nachdem er 2012 in Nordrhein-Westfalen Landesvorsitzender wurde, hat er keinen Geringeren als Friedrich Merz als Berater angeheuert, um das Signal von Bandbreite zu geben.
Die alte K-Gleichung der CDU allerdings ist viel früher zerbrochen: „K“ gleich „katholisch“ gleich „konservativ“ und rückwärts genauso, das galt weder unter Adenauer in Reinform, geschweige denn unter Kohl. Das ist die große Lebenslüge der konservativen Katholiken, die teilweise inzwischen mit der AfD liebäugeln und noch 2009 Rita Süssmuth (katholisch!) für ihre Kondom-Kampagne zur Aids-Bekämpfung kritisiert haben, wie der Dominikaner Wolfgang Ockenfels. Tatsächlich sind diese konservativen katholischen Kräfte politisch heimatlos. Doch die CDU ist nicht etwa „krampfhaft“ auf der Suche nach neuen Wählerschichten, sondern sie ist genau deswegen Volkspartei geblieben, weil sie auf Wandel gesetzt hat.
Helmut Kohl hat die CDU so lange geführt wie kein anderer. Am 28. September 1998 gibt er nach der verlorenen Bundestagswahl einen langen Lagebericht vor dem Parteivorstand ab, es war sein vorletzter nach 25 Jahren. Er resümiert, die Beziehungen zu den Kirchen seien „ambivalent“. Der Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba hatte vor der Wahl im „Spiegel“ gesagt, man könne diesmal nur „zwischen Pest und Cholera“ wählen. Kohl regt sich darüber auf. Am liebsten würde er Dyba vorhalten, was Dante „in der Divina Comedia über Bischöfe gesagt“ habe. Er sieht die konservativ-katholische Allianz nicht mehr als Erfolgsgarantin an. Mehr noch, Kohl empfiehlt seiner Partei ausdrücklich, sich mit der „konfessionellen Entwicklung“ auseinanderzusetzen, und erklärt, wie stark die Entkirchlichung schon voranschreitet. Dies müsse bei zukünftigen strategischen Überlegungen berücksichtigt werden. Merkel hat Kohls Auftrag ausgeführt.
Armin Laschet muss nun den Phantomschmerz heilen, der durch den Verlust der konservativen Erzählung aufgetreten ist. „Sich an christlichen Werten zu orientieren scheint kein schlechter Rat, sofern man sie angemessen in die Moderne übersetzt“, schreibt die Philosophin Barbara Zehnpfennig. Und das Konservative will sie auch noch gerettet wissen. Vielleicht kann ein Blick in die Geschichte des politischen Katholizismus helfen. Ludwig Windthorst war, körperlich zwar klein an Statur, aber doch der größte Gegenspieler Otto von Bismarcks. Er hat es geschafft, eine – damals konfessionelle – politische Kraft sowohl in Abgrenzung zum national-konservativen Lager als auch zu Bischöfen und Papst zu etablieren. Es ist vielleicht ein politischer Geist, der Laschet noch immer als Vorbild dienen könnte. Was der Reichskanzler über Windthorst und das damalige Zentrum gesagt hat, das ließe sich durchaus auch auf die CDU und ihren Vorsitzenden 130 Jahre später übertragen: „Es gibt nicht zwei Seelen in der Zentrumspartei, sondern sieben Geistesrichtungen, die in allen Farben des politischen Regenbogens schillern, von der äußersten Rechten bis zur radikalen Linken. Ich für meinen Teil bewundere die Kunstfertigkeit, mit welcher der Kutscher des Zentrums all diese auseinanderstrebenden Geister so elegant zu lenken versteht.“
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