Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem spektakulären Urteil ein „Recht auf selbstbestimmtes Sterben“ festgeschrieben. Was soll der Bundestag jetzt Ihrer Meinung nach tun?
Volker Kauder: Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts halte ich für falsch, weil sie auf einer gewagten – wenn nicht sogar juristisch unsystematischen – Gesamtinterpretation von Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes beruht. Aber diese Entscheidung hat eine neue Wirklichkeit geschaffen. Ich sehe für eine die Sterbehilfe einschränkende Gesetzgebung im Bundestag keine Grundlage. Deshalb fordere ich einen weiteren Ausbau der Palliativmedizin, um Menschen Angst vor dem Sterben zu nehmen.
Zwei Gesetzesvorschläge liegen vor. Der eine sieht eine Beratungspflicht vor, die der Verabreichung eines tätlichen Mittels vorausgehen muss, analog zur Schwangerenkonfliktberatung. Ist das für Sie ein denkbarer Weg?
Kauder: Die Selbsttötung mit erlaubter aktiver Hilfe von außen als Regelfall macht unsere Gesellschaft kälter. Eine Beratungspflicht ändert daran so gut wie nichts. Bei der Abtreibung gibt es auch eine Beratungspflicht und dennoch gibt es nahezu 100.000 Fälle jährlich.
Sie sagen, dass „das Selbstbestimmungsrecht und das Eingebettetsein in der Gemeinschaft zusammenzubringen“ sei. Wird so eine Haltung noch von einer Mehrheit Ihrer Fraktion getragen?
Kauder: Ja, ich glaube, dass in meiner Fraktion Selbstbestimmungsrecht und Eingebettetsein in der Gemeinschaft mehrheitlich so gesehen wird. Wir haben 2015 ja auch mit großer Mehrheit das Verbot der gewerblichen Sterbehilfe beschlossen.
Zwei Beiträge in der FAZ haben die deutliche Uneinigkeit in der evangelischen Kirche dokumentiert. Was ist Ihre Botschaft an Ihre Kirche?
Kauder: Dass es in theologischen Fragen in der evangelischen Kirche immer wieder unterschiedliche Auffassungen gibt, ist nichts Besonderes. Aber in einer so grundlegenden Frage muss sich die evangelische Kirche schon darum bemühen, dass die Botschaft nicht verwässert wird: Wir wollen Leben schützen.
Die Befürworter der Sterbehilfe argumentieren, dass es gerade christlich geboten sei, sich dem leidenden Menschen zuzuwenden und ihn mit seinem Wunsch ernst zu nehmen. Was sagen Sie dazu?
Kauder: Berichte aus der Seelsorge zeigen, dass leidende Menschen in solchen schweren und bedrängenden Situationen nicht stark, frei und sicher sind, sondern ängstlich, unsicher und beeinflussbar. Es entspricht dem christlichen Ethos, Menschen zu helfen. Zuwendung und Hilfe bedeuten, dass Patienten ein Recht darauf haben, an der Hand eines anderen, aber nicht durch die Hand eines anderen zu sterben. Einem leidenden Menschen die Auslöschung der eigenen Existenz als Option anzubieten und bei deren Umsetzung sogar behilflich zu sein, ist für mich nicht vertretbar. Die in der Gottebenbildlichkeit des Menschen gründende Würde wird grundsätzlich zur Disposition gestellt, wenn unsere Gesellschaft das vorzeitige Ausscheiden kranker und leidender Menschen aus dem Leben normalisiert oder ihnen gar nahelegt.
Sie scheiden im Herbst nach 31 Jahren aus dem Deutschen Bundestag aus. Fühlen sie sich inzwischen – gerade bei solchen ethischen Debatten – manchmal etwas fremd im politischen Diskurs und im Berliner Betrieb?
Kauder: Gerade bei ethischen Fragen hatten wir im Deutschen Bundestag bewegende und großartige Diskussionen. Und bei der Sterbehilfedebatte haben wir überraschend bereits in der ersten Abstimmung eine Mehrheit für das Verbot der gewerblichen Sterbehilfe erhalten. Ethische Debatten sind immer etwas höchst Persönliches. Und da ist es gut, wenn man einen Kompass hat. Bei mir ist es das christliche Menschenbild.