Mit ihrer Kolumne „Das Tuch“ in der „taz“ hat sich die Politologin und Aktivistin Kübra Gümüşay als eine intellektuelle Repräsentantin der Kopftuchträgerinnen in Deutschland positioniert. Seither ist sie so etwas wie ein öffentliches Unikat: religiös, doch gebildet; progressiv, doch traditionell; eine Feministin mit Kopftuch. So wurde sie als Paradebeispiel in Fernsehdebatten und Panels eingeladen, zum Sprachrohr der Missverstandenen idealisiert.
Eben diese Position als Vertreterin der Vielen reflektiert Gümüşay in ihrem Buch „Sprache und Sein“. Und sie wehrt sich dagegen. Zunächst bedient sich Gümüşay der Empirie, um darzulegen, dass Sprache unser „Sein“ in seinen Grundsätzen gestaltet: Sie legt das Beispiel eines Volkes im Amazonasgebiet – den Pirahã – vor, in deren Sprache es keine Ausdrücke für „links“ oder „rechts“ gibt, die stattdessen alles nach den Himmelsrichtungen einordnen. Durch diesen Sprachgebrauch besäßen die Pirahã eine uns nahezu unmöglich erscheinende Fähigkeit, sich allerorts präzise zu orientieren. Auch stellt sie eine Studie vor, in der nachgewiesen wird, dass die Performance von Schülerinnen wesentlich davon abhängt, ob sie der Aussage „Mädchen sind schlecht in Mathe“ ausgesetzt worden sind oder nicht.
Daraufhin baut Gümüşay eine Metapher auf: Die Gesellschaft gestalte sich wie ein Museum der Sprache, in der Lebewesen, Gegenstände, aber auch Ideen und Ideologien benannt werden. In diesem Museum gäbe es zwei Kategorien von Menschen. Einerseits seien da die Benennenden, denen in dem Museum nichts komisch vorkomme, denn „es ist für Menschen wie sie gemacht“. Auf der anderen Seite stünden die Benannten, die sich auf eine beliebige Weise von den Benennenden unterschieden: „Fremd. Anders. Ungewohnt. Unvertraut. Sie erzeugen Irritationen.“ Die Unbenannten müssten nun, um die Ordnung des Museums zu wahren, bei diesen „Anderen“ gemeinsame Merkmale suchen, um sie katalogisieren zu können. In diesem Prozess verlören die Benannten ihre Individualität, die „Grundlage des Seins“.
Von hier aus entfaltet sich Gümüşays Wut, ihr Plädoyer, das ihre Individualität und diejenige aller marginalisierten Gruppen zurückfordert. Sie selbst sei als die „Frau mit Kopftuch“ zu einer Repräsentantin der Musliminnen geworden. Dabei habe sie sich zunächst auch gerne an die Frontlinie ziehen lassen, habe Vorurteile abbauen wollen. Bis sie sich schließlich habe eingestehen müssen, dass sie durch eben diesen Prozess im öffentlichen Diskurs nur noch als Stellvertreterin und nicht mehr als ganze Person gesehen worden sei. Ohnehin seien auch nur marginalisierte Gruppen in eine solche Verteidigungsposition gerückt. Man stelle sich vor, so Gümüşay, alle weißen Männer müssten sich für Attentate an Highschools oder die sexistischen Übergriffe Harvey Weinsteins rechtfertigen.
Gümüşay beschreibt, wie sie schon als Kind fremden Menschen Fragen zum Islam beantworten musste, wie sie sich beschämt und nicht ausreichend gewappnet fühlte, ihre Religion zu verteidigen. Sie ist wütend, dass sie überhaupt so häufig Stellung beziehen musste zu einem Thema, das, wie sie sagt, das Privateste sein sollte: zu ihrem Glauben. Keiner habe das Anrecht, sich zwischen sie und ihren Gott zu stellen.Gümüşay propagiert als Fazit ihres Buches den Kampf um eine Gesellschaft, in der aus den Benannten in ihren Kategorien wieder Individuen werden können.
Sie und einige Freundinnen, allesamt mit Kopftuch, hätten dazu eines Abends spontan ihre Kamera live geschaltet und ließen so Publikum an ihrer intimen Runde, in der sie über Alltagsthemen sprachen, teilhaben. Plötzlich waren sie Individuen, mit eigenen Themen, Unterschieden, Differenzen. Und nicht mehr lediglich die „Frauen mit Kopftuch“.
Dass Gümüşay dem Ganzen eine persönliche Ebene hinzufügt, birgt den Mehrwert dieses Essays, der – was die soziologischen Tiefen des Diskurses anbelangt – oftmals doch repetitiv ist und nur an der Oberfläche kratzt. Poetisch untermalt wird Gümüşays Essay durch Zitate von Schriftstellerinnen und Wissenschaftlerinnen mit oftmals sehr fremdklingenden Namen. Dass eben das überhaupt auffällt, bleibt als bittere Erkenntnis stehen. Nastasja Penzar
Nastasja Penzar, geboren 1990, ist Übersetzerin und Autorin, ihr erster Roman „Yona“ erscheint im März im Verlag „Matthes & Seitz“.