Westberlin 1980, der Ausgangspunkt eines Romans, erzählt von drei Stimmen, einer weiblichen, einer männlichen und einem weiblichen Chor. „Aufprall“, das ist die Erzählung einer Generation, der ersten Generation des Fernsehers, der Atomkraft und der Raumfahrt. Geprägt und misstrauisch gemacht von den umfassenden Versprechen ihrer Gegenwart: Wohlstand, Fortschritt, Sicherheit und Bildung für alle. Sie bewegte sich im Schatten der Achtundsechziger, hatte aber genug von deren besserwisserischer Überheblichkeit und ihrer gelegentlichen Verranntheit in eben den dogmatischen Gestus, den sie zuvor bei den eigenen Vätern bekämpft hatte.
Was aber suchte diese Generation im Westberlin der beginnenden Achtzigerjahre? „Das gelebte Experiment mit offenem Ausgang. Eine Revolte ohne große Theorie, eine Rebellion, die sich an konkreten Missständen entzündete“, so die Autorinnen und der Autor von „Aufprall“, Heinz Bude, Bettina Munk und Karin Wieland, geboren zwischen 1954 und 1960. „Wir wollten etwas bewirken und nicht das Ganze anklagen. Wir wollten unser Leben ändern und nicht versäumten Augenblicken hinterherphilosophieren. Also nicht Zeichen setzen, sondern Aussagen machen.“ Das war die Losung der jungen Rebellen. Für sie sollte dieses Experiment lebensbestimmend werden. Und natürlich kann ihr bemerkenswerter Text auch als autobiografischer Bildungsroman gelesen werden. Er geht aber über die individuelle Lebenswirklichkeit hinaus, ist Fiktion, Dokumentation und Deutung in einem. Ausgangspunkt ihres Experiments, das durchaus existenzialistische Züge trägt, ist die Erfahrung ganz realer Wohnungsnot vieler Studierender in Berlin, bei gleichzeitig leerstehenden Häusern und zynisch anmutender Wohnraumspekulation. Sie nahmen sich also, was ihnen Politik und Hauseigentümer nicht geben wollten. „Aufprall“ begleitet den Weg einer vielgliedrigen Bewegung. Allein 33 Personen, die mehr oder weniger prägnant ins Zentrum des Geschehens rücken, werden zu Beginn des Buches stichwortartig skizziert, verschmelzen immer wieder zu einem Chor und werden dann doch übertönt und überlagert von zwei Stimmen.
Luise, die Künstlerin, wird charakterisiert als „versponnen und konsequent“ und der Philosophiestudent Thomas als „Arbeiterkind aus Wuppertal, ehrgeizig und schwer durchschaubar“. Beide versuchen einen eher unbewussten Balanceakt zwischen radikal gelebter Praxis und theoriegesättigten Studien. Für Luise ist die Kunst, was für Thomas die Philosophie bedeutet: Hintergrund, Deutungsraum, und somit Möglichkeitsort inmitten der realen Welt. Das Abbilden dieser Welt ebenso wie die philosophischen Theorien beziehen sich auf die Wirklichkeit, ziehen sich aber auch immer wieder vor ihr zurück. In dieses fein gesponnene Netz aus Nähe und Distanz bricht dann etwas Unabweisbares ein: Die beiden Protagonisten werden konfrontiert mit dem realen „Aufprall“, einem tödlichen Unfall. Bei einer gemeinsamen Reise nach Prag stirbt ihre Freundin, die geheimnisvolle Soraya. Sie hatte Luise und Thomas zuvor gleichermaßen verzaubert und ihr plötzlicher Tod erschüttert das Dasein der beiden Überlebenden gewaltig. Vertiefung, Neuaufnahme, aber auch Zurücknahme einer bestimmten Beziehung, eines Lebensvorgangs wird plötzlich unmöglich. Eine Existenz ist durchkreuzt, abgeschnitten und das Experiment wird zum Ernstfall.
Der Roman verbirgt nicht, wie hilflos der eine und wie verstört die andere auf Sorayas Tod reagiert. Irgendwie muss alles weitergehen, ohne dass sie sagen könnten, wie. „Der Tod war in unserem revolutionären Alltag nicht vorgesehen“, heißt es. Er wird dann später noch ein zweites Mal seine giftige Wirkung mitten im Hausbesetzer-Alltag entfalten.
Der mehrstimmige Versuch der drei Autoren, ihr Leben exemplarisch zu reflektieren, ist auch deswegen höchst gelungen, weil es keinerlei Stilisierung und Beschönigung ihrer Erfahrungen und des Besetzer-Alltags gibt, weil die Mühen einer autoritätsfeindlichen gemeinsamen Praxis nicht ausgeklammert werden und weil die sozialromantischen Anflüge, die politischen Verhärtungen, das Auseinanderdriften der Gruppe empathisch, aber ohne Schonung erzählt wird. Dieses Buch bringt Demut in unsere gegenwärtigen zu kurz greifenden Versuche, mithilfe generationsspezifischer Zuordnungen die vergangenen Lebenswirklichkeiten und Kämpfe zu sortieren. Die Wahrnehmung einer bis dato zu wenig ausgeleuchteten Generation schärft ihre mögliche Botschaft für die Gegenwart.
Die Spannung zwischen gelebter Solidarität und einer Theorie, meist von französischen Philosophen geprägt, die das Spielerische betonte, also eben nicht bestimmt war, sondern vieldeutig, diese Spannung findet sich auch in der Drei-Stimmigkeit des Romans wieder. Die allwissende Autorenschaft wird ersetzt durch ein schreibendes Kollektiv, welches gleichwohl über eine starke gemeinsame Erfahrung verfügt.
Eine mögliche Schwäche des Romans, der vielfach gebrochene Rhythmus, die unterschiedlichen Lautstärken und Tonfälle, wird für den, der sich darauf einlässt, eher zum Gewinn. Aus einem Guss zu sprechen, das geht nicht mehr, das wollte man schon damals nicht. Was als formale Qualität besticht, kennzeichnet auch die Gruppe. Sie zerfällt irgendwann in solche, die ihren Besetzerweg in ein äußerlich erfolgreiches Leben integrieren, und andere, die auf der Strecke bleiben, für die die Szene nur ein scheinbarer Schutzraum war. Auch das erzählt der Roman klar und anti-illusionistisch.
Die Erzählung als Ganzes zeigt eindrucksvoll, dass die Literatur uns die Geschichte existentiell lesen lehrt. Gerade auf dem Hintergrund dieser existenziellen Tiefe des Romans ist es bemerkenswert, dass Religion und Glaube als Orientierung für die Akteure kaum eine Bedeutung haben. Dafür gibt es einige Gründe. Zum einen ist Berlin nicht erst seit heute eine Art Zentrum des Säkularen. Wichtiger ist möglicherweise, dass die in den Fünfzigerjahren Geborenen ratlos und abgeschreckt waren von der fraglosen Verbindung von Kirchenzugehörigkeit und Nazivergangenheit ihrer Väter. Dass beides so scheinbar unverbunden nebeneinander existieren konnte, war für viele ein Schock und musste wie eine nicht zu heilende Wunde wirken.
Kein Wunder also, dass ihre Sehnsucht nach Transzendenz sich vollumfänglich in Philosophie und Kunst entfaltete. Und schließlich auch in einem Leben, das solidarisches Denken eng mit dem eigenen Handeln verknüpfte. Nicht der schlechteste Weg, die Zielsetzung des Glaubens ohne kirchlichen Hintergrund zu praktizieren.
Wer nach der Lektüre von „Aufprall“ wissen will, wie die Folgegeneration Wende und Nachwendezeit in Ost- und Westberlin erlebte, und mit welchen Strategien sie darauf antwortete, der sollte unbedingt zu Jochen Schmidts Roman „Müller haut uns raus“ und zu Wolfgang Herrndorfs „In Plüschgewittern“ greifen. Beide, leiser, ironischer und gebrochener im Ton, wirken wie eine melancholische Antwort auf die gelebten Ideen und Ideologien des vorausgehenden Jahrzehnts.