Orthodoxe und liberale jüdische Perspektiven auf Jesus und das ChristentumRomantische Mysterienreligion

Es gibt die Wahrnehmung in Deutschland, dass nur – oder vor allem – das liberale Judentum im Dialog mit dem Christentum engagiert sei und die jüdische Orthodoxie kaum Interesse, ja sogar Vorbehalte habe. Das ist jedoch falsch.

Judentum
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Steht das liberale Judentum dem Christentum näher als die Orthodoxen? Es mag vielleicht für eine kurze Zeitspanne nach dem Krieg gestimmt haben, also in den Sechziger- und Siebzigerjahren, als fast ausschließlich liberale Vertreter im christlich-jüdischen Dialog beziehungsweise der Versöhnungsarbeit engagiert waren, meist Emigranten, die als Gäste nach Deutschland kamen oder sich hier wieder niederließen, wie Robert Raphael Geis, Ernst Ludwig Ehrlich, Schalom Ben-Chorin oder Nathan Peter Levinson. In dieser Zeit jedoch waren diese Protagonisten eher als Einzelpersonen in einem Nischenphänomen engagiert und wenig repräsentativ für die Juden in Deutschland.

Doch auch für die letzten 20, 30 Jahre und ebenso insbesondere für die Zeit vor und direkt nach dem Zweiten Weltkrieg ist eine solche Behauptung völlig unzutreffend. Oft denken christliche Vertreter beim Dialog an die Zeit nach 1945, aber sie vergessen dabei, dass eine mögliche christlich-jüdische Verständigung aus jüdischer Perspektive schon lange vor 1945 ein Thema war. Gerade im 18., 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es in Deutschland vor allem die orthodoxen Rabbiner und Gelehrten, die den Dialog mit Christen und den Kirchen auf Augenhöhe, in gegenseitigem Respekt und Anerkennung, suchten. Die meisten liberalen Vertreter hingegen betrachteten das Judentum als dem Christentum überlegen und lehnten einen Dialog mit den Kirchen ab. Sie wandten sich gegen den christlichen Antisemitismus, sparten aber auch nicht mit eigener Polemik gegen das Christentum. Die „Leben-Jesu-Forschung“ wollte keine Brücke zwischen Judentum und Christentum durch die Person Jesu schlagen, sondern mit einer vereinnahmenden Haltung Jesus ins Judentum „heimholen“ und damit dem Christentum eine fundamentale Glaubensgrundlage entziehen.

Jesus und das Christentum waren seit dem Mittelalter immer mal wieder Thema bei den Rabbinern. Im sephardischen Raum waren Jehuda ha-Levi (Sefer Kusari 4,22) und Maimonides (Mischne Tora, Gesetz der Könige 11,4) zwar der Ansicht, dass Christen eine falsche Ansicht der Eigenschaften Gottes hatten, aber sie spielten eine Rolle bei der Entfaltung des Planes Gottes. Damit erhielt auch Jesus eine spezifische Funktion in der Erlösung der Welt. Im aschkenasischen Raum entschieden die Toafisten, dass Christen zwar mit der Trinität etwas zum Monotheismus jüdischer Provenienz hinzufügten (hebr. Schituf), dies aber für Christen erlaubt sei (Komm. zu bSanh 63b) und sie somit explizit als Monotheisten akzeptiert wurden, nicht als Götzendiener.

Noch deutlicher drückte es Rabbiner Meiri aus Perpignan Anfang des 14. Jahrhunderts aus. Für ihn haben die Götzendiener der Bibel und des Talmuds nichts mit den Nichtjuden seiner Zeit, also den Christen, gemein, sondern Christen teilen sogar grundlegende Werte mit dem Judentum (Bet ha-B’chira, Awoda Sara 63). Im 17. Jahrhundert bestätigten dies Rabbiner Moses Rivkis (Be’er Hagola) und andere Rabbiner (Kommentar zu Schulchan Aruch, Choschen Mischpat 425,5).

Diese Haltung zum Christentum nahmen dann orthodoxe Rabbiner in der Zeit der Aufklärung auf und entwickelten sie weiter. Ganz entscheidend dafür war im 18. Jahrhundert Rabbiner Jacob Emden aus Altona, der vielleicht einflussreichste Rabbiner seiner Zeit. Er äußerte sich in verschiedenen Werken zum Christentum.

Christen als Verbündete

In einem Sendschreiben gegen den Sabbatianismus beschreibt er die große Verbundenheit und Ähnlichkeit des Christentums mit dem Judentum. Wenn Christen ihren Glaubensprinzipen folgen, die nach Emden gut und gerecht sind, wird es Christen und Juden gleichermaßen gut gehen. Christen nehmen bestimmte Einschränkungen auf sich, die sogar das verbieten, was die Tora erlaubt. Jesus wird sehr positiv dargestellt: „Jesus ließ der Welt eine doppelte Güte zuteilwerden. Einerseits stärkte er die Tora von Moses in majestätischer Art (…) und keiner unserer Weisen sprach jemals nachdrücklicher über die Unveränderlichkeit der Tora. Andererseits beseitigte er die Götzen der Völker und verpflichtete die Völker auf die sieben Noachidischen Gebote, so dass sie sich nicht wie wilde Tiere des Feldes aufführten, und brachte ihnen grundlegende moralische Eigenschaften bei“ (Seder Olam Rabba, 35–37).

Emden diskutiert detailliert das Neue Testament und kommt zu dem Ergebnis, dass Jesus und seine Nachfolger nie die Tora oder das Judentum abschaffen, sondern eine neue Religion für die Heiden erschaffen wollten. Leider hätten das spätere Kirchenführer nicht mehr so verstanden. In seinem Kommentar zu Pirke Awot beschreibt er das Christentum als eine „Religion im Dienst an Gott“, eine Religion, die in den Augen Gottes gut und gerecht ist und Er sie deshalb erhält.

Emden war Vordenker eines religiösen Pluralismus zum Vorteil aller. Wie er in Ez Awot schreibt, sind Christen nicht die Römer oder Babylonier und tragen keine Schuld an der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und deshalb „wird in ihrem Frieden auch unser Frieden sein“ (Ez Awot, 46a).

Rabbiner Emden war ein konservativer Traditionalist und so mag es überraschen, dass ausgerechnet er so wohlwollend dem Christentum gegenüberstand. Im Kontext seiner Zeit wird das aber verständlich. Er war äußerst skeptisch gegenüber der Aufklärung. Er fürchtete, dass Religion an Einfluss verlieren würde, wenn jeder selbst auf Grundlage der Vernunft entscheiden könne, was richtig und falsch sei – ein Sakrileg für Emden.

Religiöse Christen, die ähnlich dachten und seine Werte teilten, betrachtete er daher als Verbündete: „Es sind vor allem christliche Gelehrte, die den Juden helfen, ihre Tora zu bewahren; sie bilden eine Schutzmauer für uns und unsere heiligen Bücher“ (J. Emden, Seder Olam Rabba, 35–37). Übrigens inspirierte er trotz seiner Ablehnung auch Vertreter der Haskala („jüdische Aufklärung“), wie Moses Mendelssohn, in ihrer Haltung zum Christentum. Mendelssohn und Emden waren durch einen Briefwechsel miteinander im Austausch.

Im 19. Jahrhundert wurde diese Haltung weiterentwickelt. Mit der Emanzipation der Juden und der formellen Gleichstellung als Staatsbürger ihrer jeweiligen Länder, wuchs die Hoffnung der orthodoxen Rabbiner auf eine Gleichstellung auch auf religiöser Ebene, also einer Partnerschaft von Juden und Christen auf Augenhöhe. Insbesondere der einflussreiche Frankfurter Rabbiner Samson Raphael Hirsch hatte die Vision einer Symbiose von Deutschtum und Judentum. Sein universales Menschheitsverständnis zeigt sich immer wieder in seinen Schriften, beispielsweise in seinem berühmten Tora-Kommentar oder auch in den Neunzehn Briefen: „Findet Israel nicht sein Ziel in Allverbrüderung der Menschheit? Wird nicht fast auf jeder Seite selbst unserer heutigen Gebete um Förderung dieses Zieles gefleht? An Einem großen Bau arbeiten wir alle, alle Völker (...): Alles Beitrag zu Einem Bau der Menschheit; Alle hinauferzogen zu Einem Gott!“ (Briefe, 70) Weiterhin schreibt er: „Der Talmud (...) verpflichtet seine Bekenner (...) ihr Vaterland zu lieben, sein Wohl zu fördern, und Fürst, Obrigkeit und Mitbewohnern gegenüber alle Pflichten treuer Unterthanen und Bürger zu erfüllen (...). Nichtjüdische Menschen (...), die den von der Bibel gelehrten Gotte des Himmels und der Erde erkennen und sich zur Erfüllung aller allgemeinen menschlichen Pflichten, wie des Verbotes des Mordes, des Diebstahls, der Unkeuschheit etc. verpflichtet bekennen, die stehen nach der Lehre des Talmud hinsichtlich der Pflichten von Mensch zu Mensch dem Juden völlig gleich und haben den Anspruch nicht nur auf alle Pflichten der Gerechtigkeit, sondern auch auf den Erweis tätiger Menschenliebe. Überhaupt sind wohl die Weisen des Talmuds die einzigen Lehrer einer Religion, die nicht sagen: außer unserm Bekenntnis kein Heil! Sie vielmehr lehren: die Gerechten aller Völker haben Anteil an der ewigen Seligkeit“ (Schriften 6, 450).

Zwar gab es in der jüdischen Orthodoxie auch skeptische Stimmen zum Christentum, aber die führenden Rabbiner, unter anderem auch Israel Lipschitz, Jacob Zwi Mecklenburg und Esriel Hildesheimer, äußerten sich ähnlich wie Rabbiner Hirsch.

Prägend für die erste Hälfte des 20. Jahrhundert in Deutschland war Rabbiner David Zwi Hoffmann, ein Schüler von Hildesheimer und ab 1899 Direktor des Rabbinerseminars zu Berlin. Moshe Baumel (Neu-Pharisäer, 257ff.) nennt ihn treffend einen „interreligiösen Brückenbauer“. Hoffmann hatte ähnlich universalistische Ansichten wie Hirsch und war davon überzeugt, dass Juden die Mission hätten, das Wohl aller Menschen zu befördern und ihnen, unabhängig von der Religion, Gutes und Nächstenliebe zu erweisen. Mit seinem Werk „Der Schulchan Aruch (und die Rabbinen über das Verhältnis der Juden zu Andersgläubigen) reagierte Hoffmann auf antisemitische Vorwürfe, entwarf aber zugleich eine „systematische“ Arbeit über die Haltung des Judentums zum Christentum.

Er kommt dort zu dem Schluss, dass das Christentum kein Götzendienst und nur für Juden Awoda Sara, also ein fremder Dienst/Kultus sei. Er unterschied auch zwischen einem Judenchristentum zur Zeit Jesu und dem Christentum seiner Zeit: „Der Talmud kennt nur die Christen als jüdische Ketzer (Minäer, Nazarener), und wenn der Talmud gegen diese sich nicht besonders freundlich zeigt (...), so beweist dies doch nicht das Mindeste über sein Verhältnis zu dem Christenthume, das sich vom Judenthum gänzlich losgelöst, mit dem Heidenthum den Kampf aufgenommen und siegreich durchgeführt hat. Von diesem Weltchristenthum (wie wir es im Gegensatz zum Juden-Christenthum nennen) ist im Talmud keine Spur zu finden“ (140–146).

Ähnlich wie Emden und Hirsch war auch Hoffmann davon überzeugt, dass Judentum und Christentum ein gemeinsames grundlegendes Wertesystem teilten, das die Basis eines theologischen und gesellschaftlichen Dialogs bilde (24–29). Die Pioniere des Dialogs im deutschsprachigen Raum und Europa nach 1945 waren daher auch vor allem orthodoxe Vertreter (Jehoschuha Ahrens, Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen, Berlin 2017, 57).

Ganz anders die Haltung des liberalen Judentums. Zwar waren Christen für Reformjuden ganz selbstverständlich gleichberechtigt und keine Götzendiener, aber gleichzeitig war die Auseinandersetzung mit der christlichen Theologie von Apologetik und Polemik geprägt. Für Samuel Hirsch etwa war das Judentum eine Religion der Toleranz, das Christentum eine Religion der Intoleranz. Jesus sei typischer Jude seiner Zeit gewesen, aber die „Verknüpfung von Judentum und Heidentum“ durch Paulus korrumpierte das Christentum und beeinflusste es negativ. Ludwig Philippson, der bedeutendste liberale Theologe seiner Zeit, betrachtete das Judentum als Religion der Vernunft, während er das Christentum abwertend als „Mysterienreligion“ bezeichnete, mit dem theologisch gar kein Dialog möglich sei: „Was Wunder demnach, dass, als das Christentum sich von diesem Standpunkt zu entfernen begann und seinem Glaubensinhalt gemäß das unbedingte Glauben, das Mysterium, welches die Vernunft und das Herz ausschließt, wieder zu seiner Grundlage machte, das Judentum sich mit ihm in voller Opposition befand, seitdem in ununterbrochenem Gegensatz beharrt und diesen gar nicht aufzugeben vermag“ (Vergleichende Skizzen über Judentum und Christentum).

Ebenso konzentrierte sich die liberale „Leben-Jesu-Forschung“ eher auf die „Heimholung“ Jesu ins Judentum und weniger auf seine theologische Bedeutung für das Christentum. Abraham Geiger beispielsweise unterschied zwischen Jesus und dem paulinischen Christentum. Das Christentum hätte demnach rein gar nichts mit dem Glauben Jesu zu tun. Gleichzeitig stellte er jegliche theologische Rolle Jesu für Christen infrage: „Auch ich halte ihn nicht für Gottes Sohn, nicht für einen Messias, nicht für einen Propheten (...) Er war ein Jude, ein pharisäischer Jude mit galiläischer Färbung, ein Mann, der die Hoffnungen der Zeit theilte und diese Hoffnung in sich erfüllt glaubte. Einen neuen Gedanken sprach er keineswegs aus, auch brach er nicht etwa die Schranken der Nationalität (...), er war ein Pharisäer, der auch in den Wegen Hillels ging“ (Der Kampf christlicher Theologen gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden, 86). In einem Brief an Josef Dérenbourg schrieb er 1836 über das Buch „Das Leben Jesu“ von David Friedrich Strauß: „Da ist dem Christenthum der Garaus gemacht, (...) soviel es sich windet und drehet, es muss fallen!“

Selbst Leo Baeck, der als einer der Gründerväter des christlich-jüdischen Dialogs in Deutschland gilt, beantwortete die christliche Polemik seinerseits mit einer jüdischen Polemik. In „Das Wesen des Judentums“ (1905) hatte er keine positive Einschätzung für das Christentum. Auch in seinen Essays „Romantische Religion“ (1922) und „Das Judentum in der Kirche“ (1925) wird das Christentum – ganz im Sinne Philippsons – als romantische Religion, in „schwärmerischer Abkehr von der Wirklichkeit“ beschrieben, die den Menschen mit dem Jenseits verbinden wolle, in dem nur Gott alleine durch Gnade erlöse und die der Mensch nicht „durch eigene Kraft“ finden könne (7). Auch hier gilt wieder Paulus als der Religionsstifter und Ursache des „Mysterienkults“ (10). Das stehe im Gegensatz zum jüdischen Verständnis des menschlichen Handelns und seiner Verantwortung, die die Gerechtigkeit befördern soll und zwar in der Lebenswirklichkeit unserer Welt. Noch 1938 schrieb Baeck in „Das Evangelium als Urkunde der jüdischen Glaubensgeschichte“, dass es Jesus „niemals in den Sinn gekommen wäre, eine neue Religion zu begründen“, und er „ein Jude unter Juden“ blieb. Zum Dialog kam Baeck erst nach 1945. Es waren vor allem die liberalen Philosophen wie Martin Buber oder Schalom Ben-Chorin, die bereits vor der Shoa wichtige Impulse für den Dialog gaben.

Übertritte zum Christentum befürchtet?

Zweifellos hat sich das liberale Judentum um die Verteidigung der eigenen Religion gegen christliche Polemik verdient gemacht und zu Recht auf die Jüdischkeit Jesu hingewiesen. Aber diese „Heimholung“ Jesu geht mit Polemik gegen das Christentum einher, die Jesus völlig vereinnahmt und keinerlei theologische Dimension seiner Person für Nichtjuden zulässt. Doch ein Christentum ohne Jesus als Christus wäre kaum vorstellbar. Mit dem Christentum als romantischer Mysterienreligion könne es keinen echten Dialog geben.

Das orthodoxe Judentum hingegen respektierte das Christentum als gleichberechtigte Religion und suchte einen Dialog auf Augenhöhe. Die orthodoxen Rabbiner räumen Jesus eine theologische Bedeutung als Heilsbringer für die Völker ein und qualifizieren das Christentum als Partner in der Erlösung der Welt, auf Basis einer gemeinsamen moralischen Wertvorstellung. Paradoxerweise scheint es, als habe sich das liberale Judentum durch die große Assimilation an das Christentum, nicht zuletzt in Ästhetik, Sprache und Inhalt ihrer Liturgie, genötigt gesehen, klar zwischen Judentum und Christentum zu trennen und das Christentum herabzuwürdigen. Vielleicht befürchteten liberale Rabbiner auch vermehrt Übertritte zum Christentum, wenn es zu positiv beurteilt würde. Die jüdische Orthodoxie hingegen war schon alleine durch ihre Lebensweise im Einklang mit der Torah unterscheidbar und die Rabbiner hatten offensichtlich wenig Angst, dass ihre Gemeindemitglieder zum Christentum konvertieren könnten.

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