Dürfen Muslime christlichen Nachbarn, Freunden und Bekannten zu Weihnachten Glückwünsche aussprechen? Die Meinungen islamischer Theologen gehen nach wie vor auseinander, doch eine Mehrzahl vertritt seit einigen Jahren ein deutliches Ja. Tawfiq Alsaif, saudischer Sachbuchautor, schrieb am 16. Dezember 2020 in seinem Beitrag in der großen saudischen Tageszeitung „Asharq al-Awsat“, es bedürfe keines islamischen Rechtsgutachtens oder eines Prophetenspruches, um Glückwünsche an Christen zu Weihnachten zu begründen. „Die Grundlage unserer Beziehungen mit unseren menschlichen Mitgeschöpfen sollte nicht auf religiösen Unterschieden aufgebaut werden. Das ist eine einfache ethische Angelegenheit, der alle vernünftigen und besonnenen Personen zustimmen können.“
Diese bemerkenswerten Aussagen sind Ausdruck einer neuen Politik religiöser Toleranz, die in vier arabischen Staaten, darunter Saudi-Arabien, seit einigen Jahren auch medienwirksam vertreten wird. Nach der Arabellion, wie sie in Europa seit 2011 genannt wird, dem Aufstand vor allem junger Menschen gegen diktatorische arabische Herrscher und ihre Apparate und der Niederschlagung der Mursi-Herrschaft in Ägypten, eines Muslimbruders, im Jahr 2013, hatten sie sich zu einer politischen Allianz zusammengetan. Neben Saudi-Arabien sind es die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE), Bahrain und Ägypten. Die arabischen Medien nennen sie einheitlich „das Quartett“. Sie verstehen sich als Vorhut eines neuen Arabien. Wirtschaftlicher Fortschritt, gute Bildung, gute Berufschancen für ihre wachsenden, jungen Bevölkerungen, politische Stabilität und öffentliche Sicherheit sollen ihr Kennzeichen sein. Ein wichtiger Baustein des neuen Narrativs ist die gemeinsame Religionspolitik, die religiöse Toleranz und friedliches Zusammenleben in ihren Medien predigt, in zwei Fällen auch in den eigenen Ländern praktiziert und mit der weltweiten Förderung eines moderaten Islam verbindet.
Das Grundanliegen besteht jedoch darin, die jeweils eigene Herrschaft, durch authoritarian stability, wie Fachmedien es nennen, dauerhaft zu sichern und weitere Volksaufstände zuverlässig zu verhindern. Die Vierergruppe der arabischen Staaten geht im Inneren rigoros gegen jede politische Aufmüpfigkeit der Untertanen vor.
Ein besonderes Beispiel sind die Vereinigten Arabischen Emirate. Seit mehreren Jahren stellen sie die Toleranz als wichtiges Markenzeichen ihrer Religionspolitik und somit ihrer Herrschaft heraus. Im Land sind rund 8,5 Millionen Gastarbeiter und die Regierung spricht mit Stolz über deren rund 200 Nationalitäten mit eigener Kultur und Sprache. Oberstes Ziel der Politik müsse deshalb das friedliche Zusammenleben dieser vielen Menschen vor allem aus Indien, Pakistan, Bangladesh, den Philippinen und anderen Ländern sein, was in den Vereinigten Arabischen Emiraten bestens gelinge, so die offizielle Lesart.
Rund eine Million katholische Christen überwiegend aus Indien und anderen ostasiatischen Ländern profitieren von dieser Toleranzpolitik. Inzwischen gibt es allein im Emirat Abu Dhabi 17 verschiedene christliche Kirchengebäude, davon vier katholische. In den sieben Einzelemiraten sind in acht katholischen Kirchengemeinden über 70 Priester und zahlreiche weitere Gemeindemitarbeiter tätig. Die Gastarbeiter sind sehr religiös und strömen an den Wochenenden zu Zehntausenden in die Gottesdienste.
Bischof Paul Hinder mit Sitz in Abu Dhabi leitet das „Apostolische Vikariat von Südarabien“, zu dem auch Jemen und der Oman gehören. Er legt Wert auf die Feststellung, dass die christlichen Kirchen in den Emiraten nur Kultusfreiheit genießen. Die Kirchen sind frei bei der Gestaltung des gottesdienstlichen Lebens auch in den Festzeiten, und in der religiösen Unterweisung. Das gilt aber nur auf dem Kirchengelände. Jegliche Art von Missionierung ist wie in fast allen islamischen Ländern per Gesetz verboten. Umgekehrt ist aber auch per Gesetz jegliche Diskriminierung der religiösen Gemeinschaften – zu denen auch die Juden, Hinduisten, Buddhisten und Sikhs gehören – untersagt.
Die Vereinigten Arabischen Emirate und ihr faktischer Herrscher, Kronprinz Mohammed bin Zayed, erheben aufgrund ihrer wirtschaftlichen Macht und politischen Stabilität den ehrgeizigen Anspruch, durch ihren eigenen respektvollen Umgang mit religiösen Minderheiten ein Leuchtturm der weltweiten Toleranz zu sein, weit über ihr nah-mittelöstliches Umfeld hinaus. Mit enormen Geldmitteln wird ihre Toleranzpolitik des friedlichen Zusammenlebens auch auf internationalen Foren, zum Beispiel der UNO, und internationalen Konferenzen in den Vereinigten Arabischen Emiraten vorgestellt und zur Nachahmung empfohlen.
Zu dieser Religionspolitik gehörte der Besuch von Papst Franziskus in Abu Dhabi am 4. und 5. Februar 2019. Er wurde ein weltweit beachtetes Ereignis, besonders durch die Unterzeichnung eines interreligiösen Dokuments von ihm und dem Groß-Imam der islamischen Hochschule al-Azhar in Kairo, der führenden Instanz im sunnitischen Islam. Dazu hat das Emirat Abu Dhabi eine große internationale Religionskonferenz mit hunderten religiöser Führungspersönlichkeiten organisiert. In diesem katholisch-islamischen Dokument über die menschliche Brüderlichkeit wird herausgestellt, dass beide Religionen Friedenskräfte seien, denen Gewalt fernliege. Ihrem Missbrauch für Gewalt müsse man entgegenwirken.
Das kleine, wohlhabende Königtum Bahrain am Persischen Golf liegt mit seiner Religionspolitik ganz auf der Linie der Vereinigten Arabischen Emirate. Die Hälfte der rund 1,5 Millionen Bewohner sind ausländische Gastarbeiter aus vielen Ländern, vorwiegend aus Indien. 12 christliche Gemeinschaften und Kirchen mit insgesamt 19 Kirchengebäuden sind staatlich anerkannt. Religiöse Toleranz mit Kultusfreiheit für die zahlreichen Christen, in der Mehrheit Katholiken, steht aber auch in Bahrain neben politischer Unterdrückung. Doch die hat im vorliegenden Fall auch eine religöse Komponente, weil sie sich gegen die schiitische Mehrheit der eigenen Bevölkerung richtet, die vom sunnitischen Herrscherhaus unterschieden ist.
Etwa 80.000 katholische Christen leben und arbeiten in dem kleinen Land, organisiert in zwei Gemeinden mit zwei Kirchen. Die erste Kirche wurde bereits 1939 gebaut, als erste in der Golfregion. Ein neues und sehr repräsentatives Kirchengebäude, wie Fotos zeigen, mit Platz für 2300 Gläubige soll in den nächsten Monaten fertiggestellt werden.
Bahrain ist der Sitz des „Apostolischen Vikariats von Nordarabien“, zu dem noch Qatar, Kuwait und Saudi-Arabien gehören, mit zusammen etwa zwei Millionen katholischen Christen. Dem König von Bahrain liegt die religiöse Toleranz und die Achtung aller Religionen in seinem Land sehr am Herzen. In seiner „Bahrain Declaration“ von 2017 verpflichtet er sich zu ihrer Gleichbehandlung, aber sehr ausführlich beschreibt er auch deren Pflicht, jeglichem religiösen Extremismus, Aufruf zu Gewalt und Hass zu entsagen. Letzteres lässt sich auch gegen aufmüpfige Schiiten instrumentalisieren.
Saudi-Arabien bietet ein verwirrendes Bild. Der starke Mann Saudi-Arabiens, Kronprinz Mohammed bin Salman, bestimmt auch die Religionspolitik seines Landes. Man sollte ihm abnehmen, dass ihm das erzkonservative islamische Establishment im Land, die wahhabitische Geistlichkeit, zuwider ist. Doch das zivilatorisch hochmoderne Land und seine Einheimischen leben weiterhin kulturell in einer Welt, in der ein extrem strenger Islam mit arabischer Stammeskultur eng verwoben ist. Darauf muss der König Rücksicht nehmen. Deshalb steht die Mehrheit der Bevölkerung nichtislamischen Religionen vielfach sehr ablehnend gegenüber.
Auf der Homepage des „Apostolischen Vikariats von Nordarabien“ steht über das Land: „Da Saudi-Arabien die Heimat der heiligsten Stätten des Islam ist, erlaubt es keine Kirchenbauten. Im Ergebnis gibt es also keine christlichen Kirchen und keine Gottesdienststätten. Eine nichtislamische Religion wird nicht anerkannt und ihre öffentliche Darstellung oder Aktivität ist verboten. Die katholische Gemeinschaft respektiert die Empfindlichkeiten dieser Region und hat immer große Zurückhaltung bewahrt.“ Ergänzend muss man aber sagen, dass rein private christliche Gebetstreffen und Andachten in Privathäusern von den Behörden geduldet werden, sofern sie von außen nicht wahrnehmbar sind.
Über 1,3 Millionen katholische Gastarbeiter sind so seit Jahrzehnten ohne offiziell bewilligte Betreuung, ohne Gottesdienste und Seelsorge, in der Corona-Zeit ist das besonders schwierig.
Man sollte aber auch sehen, dass der Kronprinz mit Unterstützern kleine Schritte hin zu religiöser Toleranz unternimmt. Im Mai 2018 hat er bei einem Ägyptenbesuch auch den koptisch-orthodoxen Papst Tawadros II. getroffen und ihn nach Saudi-Arabien eingeladen, um seine Gläubigen unter den ägyptischen Gastarbeitern zu besuchen. Am 2. Dezember 2018 fand erstmals unter Leitung eines seiner Bischöfe ein christlicher Gottesdienst in einem Touristenzentrum statt, ein wirklicher Tabubruch.
Und es war im Dezember 2020 Christen erstmals möglich, in der Hauptstadt Riad Weihnachtsbäume und Baumschmuck ganz offen zu kaufen, was in den Vorjahren noch verboten war. Einige englisch-sprachige Medien des Landes bieten eine Plattform, auf der engagierte saudische Publizisten unbeirrt für das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionen werben.
Al-Andalus als alternatives Narrativ gegen Hassprediger
Faisal J. Abbas, der Herausgeber der Tageszeitung „Arab News“, ließ am 6. November 2020 schon in der Überschrift seines Beitrags erkennen, was ihm am Herzen liegt: „Al-Andalus noch einmal bedacht: Warum die Werte der muslimischen goldenen Zeit jetzt noch wichtiger sind als je zuvor“. Er schwärmt vom Kalifat der Umayyaden im südspanischen Andalusien seit 711 n. Chr. „In jenen Tagen lebten die Menschen der drei großen abrahamitischen Religionen in absolutem Frieden und Harmonie. Es war eine außergewöhnliche Zeit der Toleranz und des gegenseitigen Respekts, in der Kunst und Kultur blühten. Es ist jetzt die Zeit gekommen, in der gute Menschen auf der Welt den Geist Al-Andalus wiederbeleben sollten – Toleranz, Anpassung, Respekt vor allen Religionen und ihren Anhängern.“ Diese neue Betrachtung jener kulturellen Blütezeit solle Muslimen heute als Gegen-Narrativ gegen islamistische Hassprediger dienen, die den Islam verzerren und missbrauchen.
Die Erwägungen von Faisal J. Abbas lassen dabei allerdings außer Betracht, dass auch im gelobten Goldenen Zeitalter die Christen nur Landesbewohner zweiter Klasse gewesen sind, Schutzbefohlene, die Schutzsteuer zahlen mussten.
Die kirchlichen Verhältnisse in Ägypten und das Verhältnis zu den Muslimen sind ein Fall für sich. In dem 100-Millionen-Einwohnerland herrschen Armut und erhebliche soziale Spannungen. Die Christen sind hier keine Gastarbeiter, sondern gehören zur alteingesessenen Bevölkerung des Landes, mit geschätzt 7 bis 8 Millionen ganz überwiegend koptisch-orthodoxen Gläubigen. Das erlaubt ihnen, anders als in den Golf-Emiraten beziehungsweise dem Königreich Bahrain, ein viel breiteres gesellschaftliches Auftreten. Zu den ägyptischen Katholiken gehört nicht nur das kleine Apostolische Vikariat von Alexandria mit etwa 30.000 Gläubigen; von den mit Rom unierten Kirchen sind die katholischen Kopten und Melkiten mit zusammen etwa 300.000 Mitgliedern die größten.
Ägypten ist das Ursprungsland der Muslimbruderschaft, seit Jahrzehnten eine Hauptvertreterin des politischen Islam. Ihr Terror seit den Fünfzigerjahren richtete sich nicht nur gegen den Staat, sondern auch gegen die Christen. Ihre Zerschlagung im Staatsstreich des Militärs 2013 brachte den Christen unter dem neuen starken Mann General Abdel Fatah El-Sisi deutliche Entspannung. Er zeigt sich gerne öffentlich als ihr Beschützer und Förderer. Ihm ist die Genehmigung zum Bau einer riesigen neuen koptischen Kathedrale in der neuen Regierungshauptstadt bei Kairo zu verdanken. Deshalb gehört der koptische Papst Tawadros II. zu seinen stärksten kirchlichen Unterstützern. Gesellschaftliche Diskriminierung und die weit verbreitete Straflosigkeit bei tätlichen Angriffen auf Christen sind allerdings weiterhin traurige Gegenwart.
In den Medien des Landes finden sich aber verstärkt engagierte Stimmen, die die Bedeutung der Christen für die Kultur des Landes zu schätzen wissen. Hasan Ismaik, Kommentator der Zeitung „Egypt Independent“, schrieb am 6. November 2020 einen längeren Beitrag über die Christen als Salz der arabisch-islamischen Zivilisation. Kenntnisreich beschreibt er die bedeutende Rolle der assyrischen Christen in der Blütezeit des Islam im Nahen und Mittleren Osten, als kulturelle Mittler beim Aufbau der islamischen Herrschaften und der gemeinsamen Verteidigung gegen die Osmanen. Auch er erinnert an die goldene Zeit in Andalusien, wirbt für ein neues tolerantes Zusammenleben der drei Religionen Abrahams und bedauert die Auswanderung arabischer Christen in den Westen. Es sei eine „Entleerung dieser Region von ihren wichtigsten und ältesten Bestandteilen“.
Diese Toleranzpolitik und christenfreundlichen Maßnahmen in den Staaten der Vierergruppe verdankt sich nicht nur dem Willen zur Verbreitung eines moderaten und menschenfreundlichen Islam, sondern verfolgten auch ausgeprägte außenpolitische Interessen. Besonders deutlich wird dies in den Vereinigten Arabischen Emiraten, wo man die soft power im Gegensatz zur militärischen ausdrücklich als solche entwickelt. Die Förderung von Kulturevents, des Tourismus, moderner Technologie und internationaler Religionstagungen steht im Dienst dieser Bemühung und durch sie überregionales Ansehen und politischen Einfluss zu gewinnen.
Doch die Förderung des moderaten Islam hat ihre Schwachstellen. Vor allem in den Vereinigten Arabischen Emiraten handelt es sich um ein staatliches Konstrukt des Religions- und des Toleranzministeriums. Ihr fehlt die Verbindung zu einer lebendigen Zivilgesellschaft im Land, die es nicht gibt. Ihr fehlt auch die Entwicklung durch eine landeseigene islamische Theologie, die von den Herrscherhäusern nie aufgebaut wurde. In Ägypten wird die führende al-Azhar-Universität, höchste Autorität des sunnitischen Islam, von den Gebildeten als zwiespältig erlebt, zwischen Öffnung und verkrustetem islamischem Konservativismus schwankend. Das erschwert den interreligiösen Dialog, an dem gerade Papst Franziskus so großes Interesse hat.
Der Vierergruppe liegt viel daran, dem Westen zu zeigen, dass es nicht nur die politisch instabile, von Konflikten zerrissene arabische Weltgegend mit den vielen schlechten Nachrichten gibt, sondern auch ein neues und besseres Arabien. Man weiß sehr gut, dass bei etlichen westlichen Staaten, insbesondere in den USA, Toleranz gegenüber den religiösen, besonders den christlichen Minderheiten gut ankommt und zu ihrem Prestige beiträgt. Auch das steckt hinter der Politik religiöser Toleranz gegenüber den Christen.