Seit Jahren ist Frankreich eines jener Länder Europas, die am meisten von islamistisch motivierten Gewalttaten heimgesucht wurden. Aber es sind nicht nur die immer wieder spektakulären Attentate, die von islamistisch eingestellten Tätern verübt werden und die die Beziehungen zwischen Teilen der muslimischen und der nichtmuslimischen Bevölkerung schwer belasten. Ghettoisierung islamischer Einwanderer verhindert wünschenswerte Integration, Ängste und Ablehnung behindern Annäherung und Chancengleichheit. Islamistische Minderheiten prägen dabei das Bild des Islam insgesamt, obwohl die große Mehrheit der Muslime den gesetzlichen Regeln folgend weithin unauffällig lebt.
Mit anderen Worten: Die Beziehungen zwischen dem erklärtermaßen laizistischen Staat und Gruppen sowie Erscheinungsformen von mehr oder weniger religiös motiviertem Extremismus belasten das republikanische Gemeinwesen. Eines der zentralen politischen Projekte innerhalb der Amtszeit von Staatspräsident Emmanuel Macron ist der Versuch, dem per Gesetz entgegenzuwirken. Am 16. Februar verabschiedete die Pariser Assemblée nationale ein bereits seit längerem angekündigtes „Gesetz zur Stärkung des Respekts vor den Prinzipien der Republik“, das sich diesem Anliegen widmet. 347 Stimmen votierten dafür, 151 dagegen. Die Regierungsmehrheit stimmte weithin dafür, die Oppositionsparteien auf der Rechten und der Linken dagegen, das rechtsextreme „Rassemblement National“ (früher: „Front National“) von Marine Le Pen enthielt sich interessanterweise der Stimme.
Der parlamentarischen Behandlung ging eine breite, über Monate dauernde Sensibilisierung für das Thema voraus. Bei einem Besuch in Bourtzwiller unweit des elsässischen Mulhouse im Februar 2020 deutete Macron an, in welche Richtung es seiner Ansicht nach gehen solle: Es sei nicht zu akzeptieren, dass Werte und Gesetze der Republik im Namen des politischen Islam abgelehnt würden. Macron schwor die französische Öffentlichkeit darauf ein, einen Kampf gegen das zu führen, was er einen „islamistischen Separatismus“ nannte.
Macron will keine Stigmatisierung
Ein halbes Jahr später unternahm Macron in Les Mureaux, einer Pariser Vorstadt mit bekanntermaßen hohem Ausländeranteil, einen weiteren Versuch, die Öffentlichkeit auf einen neuen politischen Umgang mit islamistischen Parallelgesellschaften vorzubereiten. Macron zeigte Entschiedenheit und Entschlossenheit im Kampf für die Einheit der laizistischen Republik – war allerdings auch bemüht, klar zwischen dem Islam als zweitgrößter Religionsgemeinschaft Frankreichs und dem extremistischen politischen Islamismus zu unterscheiden. Die parlamentarische Auseinandersetzung geriet in den letzten Monaten zu einer ungewöhnlich ausführlichen Auseinandersetzung um die religiöse Prägung des Landes.
Zusätzlich angeheizt wurde die parlamentarische Auseinandersetzung durch verschiedene Gewaltakte der letzten Monate. Wenige Tage nach der Macron-Rede von Les Mureaux wurde der Lehrer Samuel Paty im Pariser Vorort Conflans-Sainte Honorine auf offener Straße enthauptet. Der Täter war ein achtzehnjähriger Islamist tschetschenischer Herkunft. Paty war im Unterricht auf die von der Pariser Satirezeitschrift „Charlie Hebdo“ verbreiteten Mohammed-Karikaturen eingegangen, wobei er den Schülern freigestellt hatte, den Klassenraum zu verlassen, sofern sie die Karikaturen nicht sehen wollten. In den sozialen Netzwerken wurde daraufhin gegen Paty gehetzt. In einer weit über den unmittelbaren Anlass hinausreichenden Feierstunde an der Pariser Universität Sorbonne würdigte Präsident Macron Paty als nationales Vorbild.
Der Fall regte zur Nachahmung an. Der Philosophielehrer Didier Lemaire in Trappes (Departement Yvelines) geriet unter Druck, da er öffentlich darauf hinwies, die Stadt Trappes gerate immer stärker unter den Einfluss kommunitaristischer, sprich: islamistischer Kräfte. Anfang des Jahres bekannte er, seit seinen Äußerungen werde er als „islamophob“ und „politisch extrem rechts“ eingestuft, sei Zielscheibe von Bedrohungen und stehe seitdem unter Polizeischutz. Trappes gilt als eine der Städte Frankreichs, aus der die meisten Djihad-Kämpfer stammen, die in den Irak und nach Syrien gezogen sind. Vierzehn Tage nach der Ermordung des Lehrers Paty kam es zu einem weiteren Attentat, und zwar in der Basilika Notre-Dame in Nizza (Cote d’Azur).
Auch wenn das Gesetzesvorhaben in keinem unmittelbaren Zusammenhang zu diesen Gewalttaten steht, so beeinflussten sie dennoch das gesellschaftliche und politische Klima, in dem die parlamentarische Behandlung stattfand. Die Vorgänge belegten, wie labil und gefährdet der gesellschaftliche Zusammenhalt im laizistischen Frankreich tatsächlich ist und somit zumindest Grundanliegen der Macronischen Gesetzesinitiative berechtigt sind.
Hier eine Übersicht einiger der am meisten diskutierten Themen: Zu den klassischen Streitfragen gehört die von Personen eingeforderte weltanschauliche Neutralität, die sich im öffentlichen Raum bewegen. Das neue Gesetz sieht vor, dass Eltern sich neutral verhalten müssen, wenn sie beispielsweise Schulklassen begleiten. Das Verbot sichtbarer religiöser Zeichen wird von den öffentlichen Schulen auf die Universitäten ausgeweitet. Ein Verbot kommunitaristischer Listen auf lokaler Ebene wurde unterdessen zurückgezogen.
Als unmittelbare Folge des Falls Samuel Paty wird die Schaffung eines neuartigen Deliktes diskutiert, und zwar in Fällen, bei denen durch die Verbreitung von Daten, die das Privatleben einer Person betreffen, Gefahr für Personen ausgeht. An anderer Stelle werden die staatlichen Möglichkeiten erweitert, Hassmails aus dem Netz zu entfernen. Lehrerinnen und Lehrer sollen vor Beleidigungen und Druck geschützt werden – nicht wenige aus dem Lehrpersonal verzichten auf bestimmte Lehrinhalte aus Angst vor Repressalien aus dem Kreise islamistischer Schüler beziehungsweise deren Eltern.
Eine der zentralen Institutionen im Zusammenwirken von Religionsgemeinschaften und dem Staat sind in Frankreich die sogenannten Vereine (associations), die es in verschiedenen juristischen Formen gibt. Sie sind diejenigen, die in einem Vertragsverhältnis zum Staat stehen, nicht die Kirchen beziehungsweise Religionsgemeinschaften selbst. Der Staat hat künftig mehr Möglichkeiten, die finanziellen Verhältnisse dieser Vereine zu überprüfen und für Transparenz zu sorgen. Den Vereinen wird ein Wechsel von dem entsprechenden Gesetz von 1901 zu dem von 1905 empfohlen, weil hier die staatlichen Kontrollmöglichkeiten weiterreichender sind.
Verschiedene Traditionen und Bräuche werden staatlicherseits abgelehnt, etwa die Praxis sogenannter Jungfräulichkeitszertifikate und erzwungene Eheschließungen. Frauen wird in Erbfällen ein Mindestanteil zugesichert. Polygame Ausländer erhalten keinen Aufenthaltstitel. Zudem soll eine Möglichkeit, die Schule aus medizinischen oder pädagogischen Gründen in einem privaten Rahmen zu absolvieren, eingeschränkt werden – auf diese Weise soll Missbrauch durch radikalislamistische Prediger und Imame ein Riegel vorgeschoben werden. Für den Fall, dass in Moscheen Hassreden gehalten werden oder zu Gewalt aufgerufen wird, erleichtert das neue Gesetz Schließungen durch die örtlichen Behörden.
Ist die Religionsfreiheit in Gefahr?
Parallel zum Gesetzesvorhaben wird an einer Grundwerte-Charta gearbeitet, die die entsprechenden Institutionen und Vereine auf bestimmte Regeln und Inhalte verpflichten soll. Einige der einschlägigen Islamverbände verweigerten zunächst die Zustimmung zur Charta. Insgesamt geht es darum, die Vereinbarkeit des muslimischen Glaubens mit den Prinzipien der französischen Republik hervorzuheben. Der Grundsatz der Gleichstellung von Männern und Frauen ist hier von großem Gewicht, außerdem der Umgang mit Nichtmuslimen sowie Muslimen, die sich vom Islam losgesagt haben. Instrumentalisierungen des Islam für politische Zwecke wird eine Absage erteilt. Ebenso der Einmischung fremder Staaten in die Ausübung des muslimischen Kultus. Diese Grundwerte-Charta soll auch Grundlage von neuen Strukturen werden, auf deren Bildung Macron drängt. Die französische Regierung wünscht die Bildung eines Nationalrates der Imame (CNI), der sich ebenso um die Ausbildung der Imame kümmert wie auch um Einsatz und Bezahlung. Der laizistische Staat sieht sich selbst außerstande, eine Imam-Ausbildung in die Hand zu nehmen – diese Aufgabe sollen entsprechende muslimische Institutionen übernehmen.
Zu den schärfsten Kritikern des Gesetzes gehören unterdessen die Religionsgemeinschaften. Der Präsident des Islamrates (CFCM), Mohammed Moussaoui, warnte davor, die Muslime unter Generalverdacht zustellen. Der Großrabbiner Haim Karsia bejahte zwar das Gesetz, warnte aber vor Kollateralschäden für Religionsgemeinschaften, die sich vorbildlich verhielten. In den christlichen Kirchen hat man den Eindruck, unter dem Vorwand, die religiösen Verhältnisse neu zu ordnen und zu strukturieren, gehe es vor allem darum, in die Abläufe einzugreifen.
Der Vorsitzende der Französischen Bischofskonferenz Éric de Moulins-Beaufort beklagte in einem Brief an die Rechtskommission der Pariser Nationalversammlung den Versuch des Staates, die Religionsgemeinschaften unter Vormundschaft zu stellen. Moulins-Beaufort: „Die Reform erweckt den Eindruck, als seien die Religionen im Allgemeinen und die Gläubigen im Besonderen lästige Zeitgenossen, Individuen, die man auf besondere Weise überwachen müsse“. Und an anderer Stelle: „Um gegen eine Handvoll Islamisten zu kämpfen, müssen sich alle Gläubigen damit abfinden, dass die Organisation ihrer Kirchen und Religionsgemeinschaften belastet und komplizierter wird.“
Bedenken dieser Art blieben nicht nur auf die Religionsgemeinschaften und Kirchen beschränkt. Der Religionshistoriker Philippe Portier gab in einem Interview mit der Pariser Tageszeitung „La Croix“ zu bedenken, das Gesetz verändere die Gleichgewichte des Laizismus. „Dieses Gesetzesvorhaben ist nicht nur eine einfache Auffrischung des Gesetzes von 1905 – unter dem Effekt des Gefühls von Angst, die seit einigen Jahren unsere Weltsicht strukturiert, verändert es unser liberales Recht.“ Charakteristisch für den Gesetzestext sei es, wenn dieser die Behandlung des Terrorismus mit derjenigen der Religion „verwechsle“. Die Laizität sei ursprünglich zum Schutz von Freiheiten gedacht und werde nun in ein Instrument zur Kontrolle des Verhaltens und des religiösen Bekenntnisses umgewandelt – „im Namen von Werten, die der Staat definiert“.
Was zunächst als Gesetzesinitiative gegen den islamistischen Separatismus begann, erweist sich so als ein Vorhaben, das die Religion insgesamt betrifft. Versuche, den Islam von Einflussnahmen aus dem Ausland abzuschotten, so berechtigt sie sein mögen, betreffen beispielsweise auch die Kirchen. Ein Abgeordneter der Regierungsmehrheit ließ es sich nicht nehmen darauf hinzuweisen, Einflüsse aus dem Ausland seien nicht nur beim Islam anzutreffen – die Bischöfe in der katholischen Kirche würden vom Papst in Rom beziehungsweise vom Nuntius ernannt, der in der Regel keine Franzose sei.