Für orthodoxe Juden ist das Christentum weiterhin GötzendienstVon der Verachtung zur Kooperation?

Kann es eine wahre Versöhnung zwischen Juden und Christen geben? In der Einschätzung dieser Frage gibt es weiterhin große Unterschiede innerhalb des Judentums selbst. Eine Replik auf Jehoschua Ahrens.

Judentum
© Pixaybay

Wir verfluchen das Christentum dreimal am Tag‘: Kann es eine wahre Versöhnung zwischen Juden und Christen geben?“ ist der markante Titel einer Rezension, die am 14. August 2020 in „Ha’aretz“ erschien. Israel Jacob Yuval von der Hebräischen Universität Jerusalem bespricht darin das hebräische Buch von Karma Ben Johanan, das unter dem Titel „Reconciliation and its Discontents“ dieses Jahr in englischer Ausgabe bei Harvard University Press erscheinen wird (hebräisch, Tel Aviv, 2020). Die neue Professorin für Geschichte und Gegenwart des christlich-jüdischen Verhältnisses der Humboldt-Universität Berlin kommt zu dem Schluss: Während der christliche Diskurs auf Versöhnung abziele, reagiere der orthodoxe jüdische Diskurs auf das Christentum mit wachsender Feindseligkeit. Diese ging dem Zweiten Vatikanischen Konzil schon voraus und habe sich danach sogar noch vertieft.

Da ist es interessant, wenn Rabbiner Jehoschua Ahrens zuletzt zu beobachten glaubte, dass auch das orthodoxe Judentum das Christentum als gleichberechtigte Religion respektiere und den Dialog auf Augenhöhe suche (vgl. HK, März 2021, 20–22). Das stimmt hoffnungsvoll. Andererseits war eine solche Aufgeschlossenheit keineswegs immer die Regel. Ist für orthodoxe Juden also das Christentum kein Götzendienst mehr?

Christentum: Jüdische Häresie?

Bis weit ins 20. Jahrhundert führten Juden und Christen kaum einen gemeinsamen Diskurs. Rabbiner Walter Jacob, Präsident des Abraham Geiger Kollegs, beschrieb dieses Ungleichgewicht wie folgt: „In der Moderne haben Juden ihr Schweigen über das Christentum gebrochen. (…) Während der talmudischen Zeit wurde eine ausführliche Diskussion über das Christentum und andere Religionen bewusst vermieden. Im Mittelalter bestand zwar ein gewisses Interesse am Christentum, aber es war gefährlich, frei über den Glauben des Verfolgers zu sprechen“ (Christianity Through Jewish Eyes. The Quest for Common Ground, Cincinnati 1974, 1).

Rabbiner Louis Jacobs (1920–2006), einer der wichtigsten Gelehrten unserer Zeit, betrachtete die Entwicklung des Christentums von einer jüdischen Sekte zu einer rivalisierenden nichtjüdischen Religion: „In seinen frühesten Tagen wurde das Christentum von den jüdischen Lehrern als eine jüdische Häresie angesehen; seine Anhänger waren Juden, die an die Göttlichkeit Christi glaubten. Als sich aber das Christentum ausbreitete und zu einer Weltreligion entwickelte, mit zahlreichen Konvertiten aus der heidnischen Welt, wurde es zu einer mit dem Judentum rivalisierenden Religion. Christen wurden als Heiden angesehen, nicht weil sie Christen waren, sondern weil sie überwiegend tatsächlich Heiden (d. h. nicht jüdisch) gewesen sind“ (A Concise Companion to the Jewish Religion, Oxford 1999, 26).

Dies mag sowohl das Unbehagen der Juden am Christentum erklären, als auch die Tatsache, dass die Juden das Christentum über viele Jahrhunderte hinweg in erster Linie im Zusammenhang mit Götzendienst oder avodah zarah gesehen haben. Der Talmud widmet ein ganzes Traktat Avodah Zarah, den Gesetzen der Interaktion zwischen Juden und Heiden beziehungsweise Götzendienern. Darin verbietet das Judentum den Götzendienst in jeglicher Form. Es bildet die Hauptgrundlage dafür, dass viele mittelalterliche und spätere Halachisten das Christentum als Götzendienst einstuften: wegen seiner Lehren von der Trinität, der Inkarnation, der Behauptung, Jesus sei göttlich, und der Verehrung von Bildern.

Viele Gelehrte konzentrieren sich auf die polemische jüdische Wahrnehmung der Christen während des Mittelalters. Nicht so Jacob Katz (1904–1998) in seinem schon klassischen Werk „Exclusiveness and Tolerance. Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times“ von 1961. Darin beschreibt er aschkenasische rabbinische Ansichten und Verhaltensweisen gegenüber Christen von der Zeit R. Gerschom ben Jehudahs (um 960–1020) bis hin zu Moses Mendelssohn (1729–1786). Das hat der Potsdamer jüdische Theologe Daniel Krochmalnik treffend beschrieben: „Katz hat (…) gezeigt, dass sich die rabbinische Feindseligkeit gegen das Christentum im Aschkenas vom Mittelalter bis zur Aufklärung in dem Maße abschwächt, wie die Toleranz der Juden in der christlichen Gesellschaft zunimmt, sodass die Toleranzideen Moses Mendelssohns nicht, wie häufig angenommen, eine ‚kulturelle Revolution‘ (Sh. Feiner) darstellen, sondern eine Fortsetzung der normativen Entwicklung sind“ („Partner in der Welterlösung“. Zur Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum“, in: Ahrens u.a. [Hg.], Hin zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen. Die Erklärung orthodoxer Rabbiner zum Christentum, Berlin 2017, 137–148, 140).

Während der Entstehung der Orthodoxie als konfessionelle Bewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde diese entspannte Haltung gegenüber dem Christentum abgelöst. Salmon Yosef präsentiert hierfür ein gutes Beispiel, wenn er sich mit Rabbiner Moses Schreiber, bekannt als Chatam Sofer (1762–1839), beschäftigt, der zu den höchsten Autoritäten seiner Zeit gehörte und als Vater der jüdischen Orthodoxie gilt. Sein Motto „Chadasch assur min haTorah“ („Alle Neuerungen sind durch die Tora verboten“) wurde zum Grundprinzip der Orthodoxie. Es ist daher nicht verwunderlich, dass der Chatam Sofer die Christen wieder nachdrücklich in die Kategorie der Götzendiener einordnete, ebenso wie sein Schüler Rabbiner Moses Schick (1807–1879), einer der einflussreichsten ungarischen Gelehrten seiner Generation. In einem Responsum von 1878 verbot Schick den Gebrauch „fremder“ oder nicht-hebräischer Vornamen unter Bezugnahme auf ein Gebot in Maimonides’ Hilkhot Avodah Zarah, wonach man „nicht den Gebräuchen der Götzendiener folgt“, denen man „in Kleidung oder Haarschnitt oder dergleichen nicht ähneln soll“.

Aus mitteleuropäischer orthodoxer Sicht galt das Christentum also als grundlegend götzendienerisch. Dies hat auch die Wahrnehmung von der Zeit Moses Schreibers bis heute fundamental geprägt. Nach Salmons Einschätzung ist diese Ablehnung in der frühen Orthodoxie als noch gravierender zu bewerten als in der jüdischen Lehre des Mittelalters. Er sieht in diesem Rückschritt eine defensive Reaktion auf die Moderne im Allgemeinen und auf innerjüdische Reformbestrebungen im Besonderen, einen Wunsch nach Abgrenzung zwischen traditionellen Juden und der sie umgebenden breiteren Gesellschaft.

Die Begegnung mit der Moderne hat als Reaktion die Spaltung des Judentums in verschiedene Strömungen hervorgebracht: die Orthodoxie sowie das liberale und das konservative Judentum. Nach der Aufklärung konnte man auch ein wachsendes Interesse am Christentum vom jüdischen Standpunkt aus beobachten sowie den Wunsch, mehr Gemeinsamkeiten zu finden. Ein markantes Beispiel hierfür ist das wachsende Interesse an Jesus von Nazareth als ein einflussreicher Vertreter des jüdischen Volkes (vgl. Walter Homolka, Der Jude Jesus. Eine Heimholung, Freiburg 2020).

Aufklärung bringt Annäherung

Die erste wirkliche Annäherung zwischen Juden und Christen fand in der frühen Neuzeit statt. Mit dem Anbruch der Aufklärung begannen neue Methoden und Fragestellungen über religiöse und ethnische Grenzen hinweg Verwendung zu finden.

Israel Jacobson (1768–1828), einer der Pioniere des liberalen Judentums in Deutschland, versuchte, eine zeitgemäße Form des Judentums zu schaffen. Die Begegnung mit der rationalistischen protestantischen Theologie seiner Zeit ermutigte Jacobson, in seiner Rede anlässlich der Einweihung des Seesener Tempels am 17. Juli 1810 für einen „gemeinschaftlichen Fortschritt zum Besseren“ zu plädieren (Hartmut Bomhoff, Israel Jacobson. Wegbereiter jüdischer Emanzipation, Berlin 2010, 40ff.).

Die rationalistische Theologie oder Neologie, die das Luthertum im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert beherrschte, basierte darauf, der Offenbarung, Erfüllung biblischer Prophezeiungen und Wundern weniger Gewicht zu verleihen; sie sprach sich für die Vernunft als wichtigstem Werkzeug zum Verständnis Gottes aus und bot damit Anknüpfungspunkte für aufgeklärte und nach Gemeinsamkeiten suchende Juden. Dies kennzeichnet eine höchst optimistische Sicht des Wertes sowohl des Judentums als auch des Christentums als aufgeklärte Religionen und ihrer Fähigkeit, gemeinsam an der Verbesserung der Gesellschaft nach Gottes Willen zu arbeiten. Jacobsons Biograph Jacob M. Marcus betonte jedoch, dass eine solche Begeisterung für universalistische Ideale nicht missverstanden werden dürfe (Israel Jacobson. The Founder of the Reform Movement in Judaism, Cincinnati 1972, 88). Eintracht zwischen den Religionen, auch Annäherung, aber nicht die volle religiöse Gemeinschaft der Parteien war Jacobsons erklärtes Ziel.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es im frühen 19. Jahrhundert aus traditioneller Sicht feste Vorbehalte gegenüber dem Christentum gab, während eine wachsende Mehrheit der Juden die Integration in eine christliche Gesellschaft und das Gespräch mit aufgeschlossenen christlichen Theologen begrüßte. Es ist also falsch, wenn Rabbiner Ahrens behauptet, die Nähe des liberalen Judentums zum Dialog mit dem Christentum habe sich auf eine „kurze Zeitspanne nach dem Krieg“ beschränkt. Auch sind die Protagonisten dieses liberalen Bemühens keineswegs „Einzelpersonen in einem Nischenphänomen“, auch nicht „Emigranten, die als Gäste nach Deutschland kamen oder sich hier wieder niederließen“. Bei Robert Raphael Geis (Frankfurt/Baden-Baden), Ernst Ludwig Ehrlich (Berlin/Basel), Schalom Ben-Chorin (München/Jerusalem), Nathan Peter Levinson (Berlin/Heidelberg) und nicht zu vergessen seiner Frau Pnina Navè Levinson (Berlin) und Rabbiner Henry G. Brandt (München) handelt es sich um zentrale Persönlichkeiten des liberalen Judentums, ebenso wie um Schlüsselfiguren des jüdisch-christlichen Dialogs.

Sie setzten über die Shoa hinweg das fort, was Gelehrte wie Hermann Cohen, Rabbiner Benno Jacob, Rabbiner Max Dienemann, Eduard Strauss und Rabbiner Max Wiener im Dialog mit dem Christentum aufgebaut hatten. Das Bemühen um die Akzeptanz des Judentums als einen zeitgenössischen Ausdruck des Glaubens führte allerdings auch zu einer tiefgreifenden Auseinandersetzung mit der christlichen Lehre durch liberale Rabbiner wie Abraham Geiger (1810–1874) und Leo Baeck (1873–1956). Was wäre das für ein Dialog, wenn er Kritik ausschlösse?

Für die Orthodoxie ist dagegen kein solches Engagement im christlich-jüdischen Dialog des 20. Jahrhunderts feststellbar. Rabbiner Yosef Dov Soloveitchik (1903–1993), die unbestrittene Führungsgestalt der amerikanischen modernen Orthodoxie der Nachkriegszeit, war misstrauisch gegenüber dem Zweiten Vatikanischen Konzil. Seine Haltung behält bis heute ihre Allgemeingültigkeit in der modernen orthodoxen Gemeinschaft. „Viele orthodoxe Juden folgen den von Soloveitchik aufgestellten Richtlinien, wonach der religiöse Dialog keine theologischen Fragen umfassen darf, sondern sich auf Themen von gemeinsamem sozialen Interesse beschränken muss“ (Gerhard M. Riegner, Interfaith Relations, in: The Oxford Dictionary of the Jewish Religion, Oxford 2011, 381).

Dies deckt sich auch mit dem Urteil so bedeutender halachischer Autoritäten wie Rabbiner Moshe Feinstein (1895–1986), der noch über Soloveitchik hinausgeht: „Folglich ist jeder Kontakt und jede Diskussion mit ihnen, auch über weltliche Angelegenheiten, verboten, denn der Akt der ‚Annäherung‘ ist ganz und gar verboten, da er unter die Kategorie des schwerwiegenden Verbots der Annäherung an den Götzendienst – hitkarvut ’im ’avodah zarah fällt.“

„Dabru Emet“

Nichtorthodoxe Juden nach dem Zweiten Weltkrieg begrüßten den Dialog jedoch. Am 10. September 2000 erschien das Dokument „Dabru Emet“ (Sprecht die Wahrheit, vgl. https://icjs.org/dabru-emet-text/) als jüdische Stellungnahme zum Christentum, die letztlich von mehr als 220 Rabbinern und jüdischen Intellektuellen unterzeichnet wurde, die verschiedensten Strömungen des modernen Judentums angehörten.

Es gab aber auch Einwände gegen „Dabru Emet“. Die Erklärung würde die bedeutenden theologischen Unterschiede zwischen den beiden Religionen unterbewerten. Nur sehr wenige orthodoxe Rabbiner unterzeichneten „Dabru Emet“.

Das Institute for Public Affairs der Union of Orthodox Jewish Congregations (allgemein bekannt als die Orthodox Union) veröffentlichte die folgende Reaktion von Rabbiner David Berger (Yeshiva University), die erklärt, warum die Orthodoxie sich von „Dabru Emet“ weitgehend distanzierte: Ich „habe aus mehreren Gründen nicht unterzeichnet. Ihre vorzüglich geschickte Formulierung legt nahe, dass Juden ihre Sicht auf das Christentum neu bewerten sollten im Lichte der christlichen Neubewertungen des Judentums. Diese Neigung zur theologischen Gegenseitigkeit (reciprocity) ist voller Gefahren. Zweitens: Es ist angemessen zu betonen, dass Christen ,den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs anbeten, den Schöpfer des Himmels und der Erde‘. Es ist aber wesentlich, hinzuzufügen, dass die Anbetung des Jesus von Nazareth als einer Manifestation oder eines Bestandteils dieses Gottes das darstellt, was das jüdische Gesetz und die Theologie avodah zarah oder fremde Anbetung (Götzendienst) nennen – zumindest, wenn sie von einem Juden ausgeübt wird. Viele Juden starben, um das zu bekräftigen, und die schlichte Aussage ist völlig unzureichend, dass ‚christlicher Gottesdienst keine für Juden gangbare religiöse Möglichkeit sei‘. Außerdem rät die Erklärung beiden Gemeinschaften davon ab, ‚dass eine Gemeinschaft darauf besteht, die Schrift genauer ausgelegt zu haben als die andere‘. Obwohl diese Aussage den lobenswerten Zweck verfolgt, vom Missionieren abzubringen, vermittelt sie eine unangenehm relativistische Botschaft.“

Rabbiner James A. Rudin, der leitende interreligiöse Berater des American Jewish Committee, nannte „Dabru Emet“ „im besten Fall irreführend, im schlimmsten Fall gefährlich.“ Das christliche Echo auf „Dabru Emet“ war enorm. Im Jahr 2011 stellte jedoch das „Oxford Dictionary of the Jewish Religion“ fest: „,Dabru Emet‘ hat anfangs einige Unterstützung und einige Kontroversen unter führenden jüdischen Persönlichkeiten hervorgerufen, aber jetzt ist das Interesse daran verblasst.“

„Den Willen unseres Vaters im Himmel tun“

Betrachtet man das anhaltende Misstrauen orthodoxer Kreise gegenüber dem jüdisch-christlichen Dialog bis in unsere Zeit, so ist eines durchaus bemerkenswert: Am 3. Dezember 2015 veröffentlichten 28 orthodoxe Rabbiner eine Erklärung durch das Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (CJCUC) in Israel. Darunter befanden sich Stützen des Dialogs wie Rabbiner Mark Dratch (geb. 1958), Irving Greenberg (geb. 1933), Shlomo Riskin (geb. 1940) und David Rosen (geb. 1951). Die meisten Unterzeichner gehörten eher der aufgeschlossenen orthodoxen International Rabbinical Fellowship an als dem Rabbinical Council of America. Die Erklärung mit dem Titel „To Do the Will of Our Father in Heaven: Toward a Partnership between Jews and Christians“ („Den Willen unseres Vaters im Himmel tun. Auf dem Weg zu einer Partnerschaft zwischen Juden und Christen“) lobt „Nostra Aetate“, das vatikanische Dokument von 1965, das die christliche Verfolgung von Juden ablehnt: „Jetzt, da die katholische Kirche den ewigen Bund zwischen G-t und Israel anerkannt hat, können wir Juden die fortwährende konstruktive Gültigkeit des Christentums als unser Partner bei der Welterlösung anerkennen, ohne jede Angst, dass dies zu missionarischen Zwecken missbraucht werden könnte“ (Nr. 3).

Der Religious National Service zitierte die Initiatoren wie folgt: „,Die wirkliche Bedeutung dieser orthodoxen Erklärung liegt darin, dass sie zu einer brüderlichen Partnerschaft zwischen jüdischen und christlichen Religionsführern aufruft, während sie gleichzeitig den positiven theologischen Status des christlichen Glaubens anerkennt. Juden und Christen müssen an vorderster Front stehen, wenn es darum geht, der Welt grundlegende moralische Werte zu vermitteln‘, sagte Rabbiner Shlomo Riskin, einer der Initiatoren der Erklärung und Gründer von CJCUC, Mitglied des israelischen Rabbinats und Oberrabbiner von Efrat. (…) ,Der Durchbruch dieser Proklamation besteht darin, dass einflussreiche orthodoxe Rabbiner in allen Zentren des jüdischen Lebens endlich anerkannt haben, dass Christentum und Judentum sich nicht mehr in einem theologischen Duell auf Leben und Tod befinden und dass Christentum und Judentum spirituell und praktisch viel gemeinsam haben. Angesichts unserer toxischen Geschichte ist dies in der Orthodoxie beispiellos‘, sagte Rabbiner Dr. Eugene Korn, Akademischer Direktor des CJCUC. ‚Wir erkennen an, dass das Christentum weder ein Unfall noch ein Irrtum ist, sondern das gewollte göttliche Ergebnis und Geschenk an die Völker‘, heißt es in der sieben Paragraphen umfassenden Erklärung, die am 3. Dezember veröffentlicht wurde. ‚Indem Er Judentum und Christenheit getrennt hat, wollte G-t eine Trennung zwischen Partnern mit erheblichen theologischen Differenzen, nicht jedoch eine Trennung zwischen Feinden‘“ (https://religionnews.com/2015/12/08/orthodox-rabbis-letter-calls-christianity-part-gods-plan/).

Dieser Stimme des Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation verleiht im deutschsprachigen Raum Rabbiner Jehoschua Ahrens Gehör. Sie ist neu und begrüßenswert, aber augenblicklich sicher keine Mehrheitsmeinung in der jüdischen Orthodoxie. Der Unterzeichner Rabbiner Irving Greenbergmusste nämlich gegenüber dem RNS einräumen, dass die meisten orthodoxen Rabbiner diese Erklärung nicht unterschreiben würden, weil sie die Idee ablehnen, dass es der Wille Gottes sei, Nichtjuden durch das Christentum zu erreichen, und dass das Christentum ein gottgewolltes Phänomen sei. Diese Bewertung wird von Rabbiner Mark Dratch, Vizepräsident des Rabbinical Council of America, einer der größten Gruppen, die orthodoxe Rabbiner vertritt, unterstützt. Er sagte, die Gruppe schätze ihre Partnerschaften mit Christen. Die Abneigung, sich über Theologie zu unterhalten, sei in der Lehre von Rabbiner Yosef Soloveitchik verwurzelt. „Soloveitchik sagte sehr deutlich, dass jede Glaubensgemeinschaft einzigartig ist und Anspruch auf die Integrität ihrer eigenen Positionen hat, die weder verhandelbar sind, noch von Menschen aus anderen Glaubenstraditionen vollständig verstanden werden können“, so Dratch, der hinzufügte, dass Soloveitchik die Juden als eine kleine und verletzliche Gruppe verstanden hätte.

„Zwischen Jerusalem und Rom“

Nur zwei Jahre später, am 31. August 2017, trafen sich Vertreter der orthodoxen Conference of European Rabbis, des Rabbinical Council of America und der Commission of the Chief Rabbinate of Israel mit dem Papst im Vatikan, um eine weitergehende Erklärung zu präsentieren: „Von Jerusalem nach Rom: Reflexionen zu 50 Jahren Nostra Aetate.“ In seiner Ansprache an Papst Franziskus sagte Rabbiner Pinchas Goldschmidt (Moskau, geb. 1963), Präsident der Conference of European Rabbis, dass die jüdische Gemeinschaft zunächst mit Skepsis auf „Nostra Aetate“ reagiert habe, die Kirche aber nach der Veröffentlichung einen „echten und tiefgreifenden“ Wandel vollzogen habe.

Rabbiner Arie Folger (geb. 1974, von 2016 bis 2019 Rabbiner in Wien) erläutert die engen Rahmenbedingungen, die das orthodoxe Judentum im Dialog mit anderen Religionen beachten muss: „Interreligiose Erklärungen sind für das Judentum nicht einfach. Das orthodoxe Judentum ist eine Religion mit einem sehr ausgeprägten Religionsgesetz, die Halacha, an die es gebunden ist und die sie nicht mittels Erlasse ändern kann. Daher müssen sich alle Erklärungen, die sich als Ausdruck des traditionellen, orthodoxen Judentums herausstellen, von Ideen fern halten, die entweder durch das jüdische Gesetz oder ihre Philosophie verboten sind. Darüber hinaus kann das Judentum als ältester monotheistischer Glaube nicht einfach neue Theologien einbeziehen, insbesondere nicht solche Ideen, die die Ursache für die Spaltungen waren, welche die Gründung späterer Glaubensgemeinschaften veranlassten. Die besondere Art und Weise, wie das Christentum die Vereinbarkeit und Kontinuität zwischen dem Alten und Neuen Testament behauptet, funktioniert einfach nicht für die Beziehung des Judentums zur Hebräischen Bibel, die sich deutlich von der Art unterscheidet, wie ein Katholik zum Beispiel den gleichen Text sieht. Ebenso kann die Art und Weise, wie Muslime biblische Propheten interpretieren, um sie mit der islamischen Theologie in Einklang zu bringen, für einen Muslim wirken, nicht aber für einen Juden, der genau diese Personen anders sieht, nämlich durch die Linse seiner eigenen religiösen Tradition. Es kann auch nicht verleugnet werden, dass das jüdische Volk während seiner Geschichte immer wieder erzwungene Bekehrungen erfahren musste, Ziel einer intensiven Missionierung durch Mehrheitsgläubige war und wegen seiner Andersartigkeit der Verfolgung und Ausgrenzung ausgesetzt war, als die Mehrheitsgesellschaften das Judentum und seine einzigartige Botschaft tilgen wollten. Die Hartnäckigkeit, mit der die Juden angesichts der Bedrohung durch Folter und Tod an ihrem Glauben an die Ahnen festhielten, zeugt von der tiefen Bedeutung, die Juden und das Judentum immer der Treue zu den jüdischen Prinzipien zugeschrieben haben. Schlussendlich kann sich das Judentum als Minderheitenreligion, als kleine winzige Minderheitsreligion, nicht auf die bloße demografische Macht verlassen, um die Treue zu seinen Kernlehren zu wahren, während es dem gesellschaftlichen Einfluss der Mehrheitsreligionen, die hundert Mal so viele Anhänger haben, ausgesetzt ist. Sich zu viel oder zu schnell zu öffnen, wird das Judentum einem unerwünschten und ungerechtfertigten Druck aussetzen, seine Doktrinen anpassen zu müssen, um der neu geöffneten Mehrheitsgesellschaft zu gefallen.“ (Rabbinat der IKG Wien [Hg.], Zwischen Jerusalem und Rom. Gedanken zu 50 Jahre Nostra Aetate, 31. August 2017, 15–16).

In diesem Zusammenhang ist es erwähnenswert, dass Karma Ben Johanan uns auf den berühmten ersten Oberrabbiner des vorstaatlichen Israel, Rabbiner Abraham Isaac Kook (1865–1935), aufmerksam gemacht hat. Dieser hatte einen unermesslichen Einfluss auf das jüdische Leben in Palästina und darüber hinaus. Ben Johanan erklärt, dass die Kritik am Christentum ein zentrales Thema in Rabbiner Kooks Schriften sei, wobei seine antichristliche Gesinnung sowohl von der traditionellen Verachtung des Christentums, die in der kabbalistischen Literatur vorherrsche, als auch von der Kritik am Christentum, die von modernen deutschen Philosophen, insbesondere Hegel und Nietzsche, geäußert wurde, genährt worden sei: „Diese Literatur wird von Rabbiner Kook zusammengefasst, um seinen eigenen systematischen Angriff auf das Christentum zu schaffen.“ Sie argumentiert, dass Rabbiner Kook das Christentum als etwas behandele, das die Grenzen seines Universalismus überschreitet und der stärksten Abscheu würdig sei (Wreaking Judgment on Mount Esau. Christianity in R. Kook‘s Thought, in: The Jewish Quarterly Review 106.1 [2016] 76–100, 77).

In seiner ausführlichen Rezension in „Haaretz“ über das neue Buch von Karma Ben Johanan hebt Israel Jacob Yuval hervor: „In seinem zweiten Teil präsentiert das Buch den internen orthodoxen jüdischen Diskurs über das Christentum. Die Autorin hat von allen Optionen bewusst die Orthodoxie als Gegengewicht zur katholischen Kirche gewählt, weil sie in Israel eine hegemoniale Stellung einnimmt und eine entscheidende Rolle bei der Definition der jüdischen Identität spielt, obwohl es zweifelhaft ist, ob diese Wahl bei liberalen amerikanischen Juden auf Gegenliebe stoßen wird. Gegen Ende kommt Ben Johanan zu dem Schluss, dass, während der christliche Diskurs auf Versöhnung abzielt, der orthodoxe jüdische Diskurs auf das Christentum mit wachsender Feindseligkeit reagierte, die dem Zweiten Vatikanischen Konzil vorausging und sich danach vertiefte. Ein Beispiel ist die halachische Diskussion darüber, ob das Christentum avodah zarah – hebräisch für ‚Götzendienst‘ – darstelle. (…) Die engeren Beziehungen zwischen Juden und Christen in der Neuzeit hätten die Erwartung einer Aufweichung gegenüber dem Christentum hervorrufen können, aber wie der Geschichtsprofessor Yosef Salmon und der Rechtswissenschaftler Professor Aviad Hacohen gezeigt haben, betrachtete die moderne jüdische Orthodoxie das Christentum weiterhin als Götzendienst. In der Tat, so Ben Johanan, hat sich die Ansicht, dass das Christentum Götzendienst sei, im halachischen Diskurs sogar noch stärker verfestigt.“

Hat sich also die Haltung inzwischen prinzipiell verändert?

Hat sich also die Haltung der jüdischen Orthodoxie, das Christentum sei Götzendienst, prinzipiell verändert? Wir können das eigentlich nicht feststellen, trotz der anerkennenswerten Erklärung „Zwischen Jerusalem und Rom“ von 2017. Die prinzipiellen und grundlegenden Positionen der Säulen der jüdischen Orthodoxie, Rabbiner Moses Schreiber (Chatam Sofer), Rabbiner Moshe Feinstein, Rabbiner Yosef Dov Soloveitchik und Rabbiner Abraham Isaac Kook, stehen dem bis heute entgegen.

Aber auch wenn diese Lehrmeinungen übergangen werden könnten, was wäre damit für den Dialog gewonnen? Eine Modifikation der Bewertung des Christentums als Häresie und Götzendienst durch das orthodoxe Judentum bedeutet noch lange keinen tiefergründigen theologischen Diskurs. Es bedeutet im besten Fall ein respektvolles religiöses Nebeneinander und vielleicht sogar ein Miteinander bei Projekten der gesellschaftlichen Verbesserung im säkularen Bereich. Keinesfalls jedoch kann es die Erwartungen der christlichen Seite erfüllen, dass man nämlich innerlich verbunden sei, vielleicht sogar am gleichen Bund teilhaben könnte und damit mithineingenommen sei in das intime Verhältnis Gottes mit seinem Erwählten Volk. Von aufgeschlossener orthodoxer Seite wird eine Beziehung angeboten, die der respektvollen Distanz gegenüber dem Buddhismus oder anderen Religionen in vergleichbaren Kontexten entspricht. Ein Nichtangriffspakt ist aber noch kein Dialog.

Christliche Beobachter, die eine autoritative jüdische Sicht auf das Christentum suchen, sind vielleicht von der Vielfalt jüdischer Stimmen verwirrt. Im Judentum gibt es keine zentrale Autorität, die mit der römisch-katholischen Kirche vergleichbar wäre. Es gibt weder eine Hierarchie noch eine religiöse Einheit. Wir haben gesehen: Auch innerhalb des orthodoxen Judentums gibt es ein Spektrum von Gemeinschaften und Praktiken, darunter das moderne orthodoxe Judentum, aber auch das charedische, ultraorthodoxe Judentum und eine Vielzahl von Bewegungen, die ihren Ursprung im chassidischen Judentum haben. Die weit überwiegende Mehrheit im Spektrum der orthodoxen Meinungen bleibt nach wie vor inaktiv, wenn es um theologische Fragen zum Christentum geht. Es wäre in der Tat wünschenswert, wenn auch das orthodoxe Judentum seine radikal negative Haltung modifizieren könnte. Einige Anzeichen können uns hoffnungsvoll stimmen, so auch der singuläre Ansatz von Rabbiner Jehoschua Ahrens und dem CJCUC. Leider hat er seine optimistische Sicht der Dialogbereitschaft der jüdischen Orthodoxie mit einer in der Sache unnötigen Polemik gegenüber den Leistungen des liberalen Judentums in diesem Dialog verknüpft. Im Kontext der von uns hier dargestellten orthodoxen Stimmen möchten wir entgegnen: Wir brauchen eine Orthodoxie, die mit Pluralismus umgehen kann, innerhalb und außerhalb des Judentums.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Die Herder Korrespondenz im Abo

Die Herder Korrespondenz berichtet über aktuelle Themen aus Kirche, Theologie und Religion sowie ihrem jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld. 

Zum Kennenlernen: 2 Ausgaben gratis

Jetzt testen