Wozu braucht es die „Herder Korrespondenz“ angesichts leerer Kirchen, anhaltender Ärgernisse und Skandale im kirchlichen Alltag und rückläufigem Interesse an all den Themen, die interessant waren in Zeiten des Aufbruchs? Hans Maier hat daran erinnert, wie die HK Aufbruch und Wandel der Kirche begleitet und selbst befördert hat. Und heute? Da ist von Aufbruch nicht viel zu spüren. Ist die HK also eher ein Kind der Volkskirche? Dann stünde es schlecht um sie. Die Volkskirche sei vorüber – das hat gerade der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz gesagt. Er sei auch sonst „sehr unglücklich über die Gesamtsituation, die wir in der deutschen Kirche haben“, wie er die Mitglieder des ZdK bei deren Vollversammlung wissen ließ. Wer interessiert sich für einen Unglücksverein, dem die Luft auszugehen droht, der zerstritten ist und dessen Debatten immer mehr wie die Geschichten von Insidern wirken, die jenseits der Debatten kaum jemand versteht? Diese Tristesse war und ist nicht die Haltung der HK. Sie sollte es auch nicht werden.
Das Christentum ist längst dabei, sich neue Wege zu suchen. Sie gilt es zu erkennen, darüber finden die Debatten der Zukunft statt. Dann öffnet sich die Welt einer bunten, vielgestaltigen Weltkirche und eines Christentums, das zunehmend diejenigen interessiert, die zu den Gestaltern in der Welt gehören. Dann wird sichtbar, wie sehr das Thema Religion an Bedeutung gewinnt, Philosophen wie Jürgen Habermas und Peter Sloterdijk beschäftigt und politisch wirksam ist, im Guten wie im Bösen. Dann lässt sich der Blick richten auf Kunst und Kultur, jene besonderen Sprachen, die immer auch die Sprachen glaubender Menschen waren und sind. In der Geschichte war die Weltkirche der größte Mäzen der Künste. Das hatte viele Gründe. Vielleicht war damit auch die Überzeugung verbunden, dass manches nicht besser gesagt werden kann als in der Musik, im Tanz, in der Literatur, im Bild, in der Skulptur und in der Installation. All das sind die Welten, in denen sich die HK aufhalten sollte und ein Gespür dafür entwickeln kann, wie groß die Möglichkeiten für das Christentum sind. Der Perspektivenwechsel wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen. Manches ist zerbrochen, weil Christen glaubten, apriori im Recht zu sein. Anderes ist nicht mehr relevant, weil damit Machtanmaßung und -missbrauch in Kirchen und Religionsgemeinschaften verbunden sind, die verhindern, dass die Botschaft erkennbar werden kann. Dann schlägt Religion in Ideologie um. Schließlich hat die Ignoranz gegenüber dem gelebten Leben von Menschen Vertrauen zerstört und Fremdheit wachsen lassen.
Das Christentum braucht einen Wechsel der Perspektive. Das ist das Mantra von Papst Franziskus seit dem Beginn seines Pontifikates. Viele tun sich damit schwer. Wenige zeigen, wie es gehen kann: aus der Perspektive der Armen und lebenslang Betrogenen die Welt zu sehen, die Sprachen der Kunst verstehen zu lernen, an zukunftsfähigen Ordnungen des Wirtschaftens mitzuwirken, die Zentren von den Rändern her zu betrachten. Aus all dem entstehen die neuen Wege des Christentums, seiner Spiritualität und seiner Intellektualität. Das kann auch ein Abschied von der Verlogenheit sein – der Verlogenheit, die von Wahrheit spricht, wenn Macht gemeint ist. Diese Verlogenheit tut dem Glauben nicht gut. Die HK kann den Wechsel der Perspektiven befördern. Ein „kulturelles Laboratorium“ soll die Theologie sein, wenn es nach dem Papst geht. Sie soll dazu beitragen, die Tragfähigkeit bestehender Paradigmen zu prüfen. In der Politik existiert ein jährlicher Tragfähigkeitsbericht, den das Bundesfinanzministerium vorlegt. Er gibt Auskunft über die langfristige Entwicklung der öffentlichen Finanzen und ist eine Art Frühwarnsystem. Damit beschäftigen sich dann Parlament und Kabinett. Solche Frühwarnmechanismen existieren auch in anderen Feldern, die für unser Verständnis von Wohlstand, Wachstum und Fortschritt bedeutsam sind. Die Berichte des Club of Rome gehören dazu ebenso wie die Jahresberichte über den weltweiten Ressourcenverbrauch.
Tragfähigkeit ist eine gute Orientierung für das, was in Zukunft geht oder eben nicht mehr geht. Für die HK kann „kulturelles Laboratorium“ auch ein gutes Bild für ihr Selbstverständnis sein – als Partner der Theologie und all jener, die den Perspektivenwechsel wagen, Tragfähigkeit prüfen und mehr von den Peripherien wissen wollen. Herzliche Glück- und Segenswünsche zu 75 Jahren „Herder Korrespondenz“! Gäbe es sie nicht, müsste sie jetzt gegründet werden – weil sich so viel entwickelt im Christentum, im Glauben der Menschen und in den Beziehungen der Religionen.